Grünen-Fraktionschefin nach George-Floyd-Demo: „Wir brauchen Konzepte, um Gedränge zu verhindern“
Aktivisten werfen der Polizei Racial Profiling vor. Berlins Grünen-Fraktionschefin Kapek fordert Aufklärung der Vorwürfe.
Die Berliner Grünen-Fraktionschefin Antje Kapek hat nach den gewaltsamen Zusammenstößen im Anschluss an die Antirassismusdemonstration vom Samstag auf dem Alexanderplatz Aufklärung von Innensenator Andreas Geisel (SPD) und der Polizei gefordert. Kurz vor der parlamentarischen Sommerpause dürfe das Thema nicht untergehen, sondern müsse aufgearbeitet werden, sagte Kapek dem Tagesspiegel. „Die Berliner Polizei muss sich erklären. Ich erwarte Aufklärung“, erklärte sie.
Mehrere Zehntausend Menschen hatten am Samstag friedlich gegen Rassismus demonstriert und an den bei einem brutalen Polizeieinsatz in Minneapolis getöteten George Floyd erinnert. Der Alexanderplatz war völlig überfüllt, nach dem Ende der Demonstration hatte die Polizei die Teilnehmer aufgefordert, den Platz zu verlassen. Mindestabstände zum Schutz vor dem Coronavirus konnten nicht eingehalten werden.
Am Rande kam es zu Flaschen- und Steinwürfen auf Polizisten, nachdem ein Mann festgenommen wurde, der einen Polizeiwagen mit „ACAB“ – „All Cops Are Bastards“ – beschmiert hatte. Insgesamt wurden 78 Personen festgenommen. Dabei musste die Polizei auch Gewalt anwenden, im Internet kursieren teils drastisch wirkende Videos von Festnahmen – auch von schwarzen Personen.
Seither steht aus Politik und in den sozialen Medien ein Vorwurf im Raum: unangemessene und rassistische Polizeigewalt.
„Schwarze und of Color Jugendliche haben unverhältnismäßige Polizeigewalt erfahren“, sagte eine Sprecherin von einer Gruppe, die sich als „Schwarze Aktivist*innen“ bezeichnen, am Dienstag in Berlin. „Es hat überwiegend nicht-weiße Menschen getroffen, obwohl es genauso viele weiße Menschen auf der Demo gab. Da müssen wir einfach von Rassismus sprechen.“
Teilweise seien die festgenommenen Demonstrierenden bis in die Morgenstunden auf der Gefangenensammelstelle festgehalten worden. Eine Minderjährige sei von Beamten bespuckt und rassistisch beleidigt worden.
„Für mindestens zwei Schwarze Teilnehmer endete die Demonstration nach polizeilichen Übergriffen im Krankenhaus“, hieß es. Das werfe Fragen auf: „Warum wird nicht skandalisiert, wie hier mit jungen Menschen umgegangen wird? Warum hat die Polizei keine andere Strategie im Umgang mit jungen Menschen?“
Die Aktivisten kritisierten auch Medienberichte als „Täter-Opfer-Umkehr“. „Oft wurde unkommentiert die polizeiliche Darstellung reproduziert“, hieß es in einer Stellungnahme.
Die Linke-Fraktion im Abgeordnetenhaus hatte die Vorfälle auch kurzfristig für den Innenausschuss am Montag als Thema angemeldet. Das musste aber verschoben werden.
„Ich will nicht die gesamte Polizei in eine Ecke stellen, das liegt völlig mir fern“, sagte Kapek. „Aber wenn Berliner Polizisten in Kampfmontur junge schwarze Frauen so anbrüllen, dass sie den Tränen nahe waren, wenn sie Schwarze unter Einsatz von Gewalt festnehmen, wenn verstörende Bilder davon in die Welt gehen, dann ist das gerade nach einer Antirassismusdemonstration mehr als irritierend.“
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Die Polizei müsse dazu Stellung nehmen. Bei den Grünen habe es nicht nur in Berlin, sondern auch aus ganz Deutschland klare Reaktionen gegeben, der Unmut sei groß.
„Ich hatte den Eindruck, die Polizei war überrascht von der großen Zahl der Teilnehmer und wusste nicht, wie man damit umgehen soll“, sagte Kapek. Das sei einer der Gründe dafür gewesen, warum es bei der Demonstration schließlich zu Aggressionen gekommen sei, sagte die Grünen-Fraktionschefin. „Die Bilder, die im Netz veröffentlicht wurden, werfen erhebliche Fragen auf.“
800 Polizisten bei Alex-Demo
Am Samstag waren 800 Beamte im Einsatz, angemeldet waren 1500 Teilnehmer für die Demonstration. Selbst innerhalb der Polizei ist im Nachgang die Rede davon, dass deutlich mehr Polizisten nötig gewesen wären. Ausdrücklich weist die Polizei auch darauf hin, dass es ihre Aufgabe gewesen sei, die Versammlung zu schützen.
Deshalb pocht die Behörde energisch darauf, dass die Lage erst deutlich nach der Demonstration eskaliert war. Zeitweise war eine Gruppe von wütenden Demonstranten eingekesselt, es gab nach ersten Festnahmen Stein- und Flaschenwürfen. Einige Festgenommene sollen zuvor mit Straftaten aufgefallen sein.
Den Vorwurf rassistischer Polizeigewalt bei dem Einsatz weist die Polizei zurück. Eine Festnahme, zumal wenn sich der Betroffene weiter wehren und Widerstand leisten, sehe nie schön aus. Videos in den sozialen Medien zeigten nur Ausschnitte. Die Fälle und das umfangreiche Videomaterial werde jetzt von der Polizei ausgewertet – auch mit Blick auf Verstöße durch Beamte.
Grüne-Fraktionschefin Kapek forderte außerdem vom Senat ein Umdenken für Großdemonstrationen unter den Bedingungen der Corona-Pandemie. „Wir brauchen neue Konzepte, um dichtes Gedränge zu verhindern“, sagte Kapek. „Es gibt in Berlin kein ausreichendes Konzept für pandemiekonforme Demonstrationen.“
Kundgebungen erst zu genehmigen und dann überrascht von den Menschenmassen zu sein, sei kein Plan, erklärte sie. Bei einer Wiederauflage des „Silent Protest“ bei „Black Lives Matter“-Demonstrationen sollte dieser nicht als Großdemonstration auf dem Alexanderplatz, sondern als Menschenkette abgehalten werden.
Acht Minuten und 46 Sekunden hinknien
„Das wäre ein beeindruckendes Zeichen: Sich acht Minuten und 46 Sekunden hinzuknien und zu schweigen, in einer Kette quer durch die Stadt mit ausreichendem Abstand“, sagte Kapek. Die Schweigephase erinnert an die Zeit, in der George Floyd von einem weißen Polizisten am 25. Mai die Luft abgedrückt wurde. Wenig später starb er.
Doch der Berliner Senat sieht nicht Staat und Polizei in der Pflicht, sondern vor allem die Demonstranten. „Es ist nicht Aufgabe des Staates, den Demonstrierenden vorzuschreiben, wie sie zu demonstrieren haben“, teilte die Innenverwaltung mit. „Nicht der Senat muss Konzepte vorlegen, sondern die Anmelder von Versammlungen. Sie müssen gewährleisten, dass die Demonstrationen nicht aus dem Ruder laufen; sie müssen sich Gedanken machen über den Ort, Umfang und die Form ihrer Versammlung.“
Senatsinnenverwaltung: Wasserwerfer keine Option
Die Polizei werde zwar auf die Einhaltung der Regeln achten. Am Wochenende habe sie Absperrungen eingerichtet, den Zustrom reguliert, den Versammlungsbereich erweitert und immer wieder auf den Mindestabstand hingewiesen, hieß es aus dem Haus von Innensenator Geisel. „Sie wird aber sicher nicht mit Wasserwerfern gegen Versammlungsteilnehmer vorgehen, die die Abstandsregeln nicht einhalten und damit eine Ordnungswidrigkeit begehen.“ Hier gehe es um Deeskalation und Verhältnismäßigkeit.
Kritikern, die dem Senat fehlende Konzepte vorwarfen, erwiderte die Innenverwaltung: „Wer vor 14 Tagen vehement die vollständige Wiederherstellung der Versammlungsfreiheit gefordert hat, kann jetzt nicht den Staat dafür verantwortlich machen, dass sich die Demonstrierenden nicht an die Regeln halten.“ Man appelliere an Vernunft und Eigenverantwortung der Menschen. Die Coronapandemie sei noch nicht überstanden. Vorsichtsmaßnahmen würden weiter gelten. „Das gilt auch für Demonstrationen.“
Auch aus dem Abgeordnetenhaus wurde Grüne-Fraktionschefin Kapek für ihre Forderung nach neuen Demo-Konzepten deutlich kritisiert. Dies sei unglaubwürdig, sagte CDU-Fraktionsvize Tim Zeelen mit Blick auf ein Foto von Kapeks Demo-Teilnahme am Samstag auf dem überfüllten Alexanderplatz.
SPD-Innenpolitiker kritisiert: „Grüne Mentalität ist: Heulen und Klatschen gleichzeitig“
„Antje Kapek wünscht sich also mehr Abstand bei Demos. Vielleicht einfach selbst beginnen“, twitterte Zeelen. Und der SPD-Innenpolitiker Schreiber spottete: Grüne Mentalität ist: „Heulen und Klatschen gleichzeitig! Was nehmen die sich eigentlich raus? Im Senat im Halbschlaf Maßnahmen beschließen und sich dann wundern, dass es im Alltag bei der Durchsetzung in die Hose geht und der Polizei Berlin die Schuld geben.“
Schreiber forderte klare Vorgaben: Die Abstandsregel sei bei Demonstrationen kaum durchzuhalten. Er sprach sich dafür aus, nur noch das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes vorzuschreiben, sagte Schreiber dem RBB. Die Alternative sei eine Teilnehmerbegrenzung für Demonstrationen.
„Man muss sich entscheiden, was man will“, sagte Schreiber. „Wenn man zulässt, dass man demonstrieren darf und kann, was richtig ist, dann muss man auch klar sagen, wie soll es praktikabel gemacht werden auch für die Berliner Polizei.“ Schreiber mahnte, dass die Politik sich im Klaren sein müsse, dass ihre Entscheidungen durchgesetzt werden müssten.
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Im Fall der Demonstration eben von der Polizei. Dieser dürfe man keine Vorwürfe machen, dass sie bei Zehntausenden Teilnehmern die Abstandsregel nicht durchsetzen konnte, „weil sie schlichtweg per Masse gar keine Chance hatte“.
Für Sonntagnachmittag ruft das Unteilbar-Bündnis zu einer Menschenkette quer durch Berlin auf. Es soll für mehr Solidarität in der Coronakrise demonstriert werden. Die Veranstalter wollen „verantwortungsbewusst und mit Abstand demonstrieren“. Am 20. Juni ist eine große Demonstration gegen steigende Mieten auf dem Potsdamer Platz geplant. (mit dpa)