Erfahrungsbericht einer Pleite: Wie man in Berlin gründet - und gründlich scheitert
Keine andere Stadt zählt mehr Insolvenzen als Berlin. Unser Autor hat einen Gescheiterten getroffen, der wieder aufgestanden ist.
Im Herbst 2013 musste sich Hans Stier geschlagen geben. Der Plan des Berliner Unternehmers, Kaffeemaschinen zu verkaufen, die Bohnen selbst rösten und mahlen, war gescheitert. Denn nicht nur floss aus den Automaten seiner Firma das Wasser, schlimmer noch, die Maschinen verteilten Stromschläge an ihre Benutzer. Als Stier von seinen Investoren gefragt wurde, ob er seine Automaten guten Gewissens an eine Kita verkaufen könne, blieb ihm daher nur eine Antwortmöglichkeit: Nein.
Seine Geldgeber verweigern ihm die weitere Finanzierung, was wiederum seine Firma Kaffee Toro in die Zahlungsunfähigkeit treibt. Stier stellt einen Insolvenzantrag am Amtsgericht Charlottenburg, am 10. Oktober 2013 wird das Verfahren eröffnet. Von nun an verteilt ein Insolvenzverwalter das Vermögen seiner Firma an die Gläubiger.
Stier ist alles andere als ein Einzelfall: Die bittere Erfahrung des Scheiterns durchleben Jahr für Jahr Tausende von deutschen Unternehmern. Was wiederum schwere Konsequenzen für viele andere Menschen hat. In großen Fällen wie bei Air Berlin, dem Handelskonzern Kaiser’s-Tengelmann oder Schlecker mussten Tausende Angestellte um ihre Jobs fürchten. Doch auch viele kleinere Firmen sind betroffen: In den ersten fünf Monaten dieses Jahres lag die Zahl der Insolvenzanträge in Berlin laut dem Statistikamt Berlin-Brandenburg bei 2293 – im Vorjahreszeitraum waren es mit 2516 Anträgen nur geringfügig mehr. Die Quote lag 2017 bei 93 von 10.000 Unternehmen und damit fast eineinhalb Mal so hoch wie der Bundesdurchschnitt: Berlin, die Hauptstadt der Pleiten.
Startups scheitern häufiger
Der Grund für die Berliner Pleitewelle? Liegt ausgerechnet in einer der wirtschaftlichen Stärken begründet: dem Gründerboom. „Es gibt einen starken Zusammenhang zwischen Unternehmensalter und Insolvenz, je jünger eine Firma, desto eher kippt sie um“, erklärt Michael Bretz von der Wirtschaftsauskunftei Creditreform. „Meistens geschieht das zwei bis vier Jahre nach der Gründung, wenn die Anschubfinanzierung ausgelaufen ist und die Anschlussfinanzierung nicht funktioniert.“ Berlin habe wegen seiner dynamischen Gründerszene viele junge Unternehmen und sei deshalb überdurchschnittlich von Insolvenzen betroffen, sagt Bretz.
Doch nicht nur für die Angestellten, auch für die Unternehmer bricht mit dem Insolvenzantrag eine schwere Zeit an. Das Verfahren frisst Zeit und kostet Nerven. Manche Betroffene verschulden sich und verarmen. Hinzu kommt das Stigma, versagt zu haben.
Dabei muss eine Insolvenz nicht das Ende sein. In den USA etwa gehört ein Crash zur Unternehmerkultur dazu. Im Scheitern, so abgegriffen das auch klingen mag, steckt immer auch die Chance, es beim nächsten Mal besser zu machen. Auch in Berlin können sich insolvente Unternehmer aufrappeln – Stier ist dafür der beste Beweis. Der hat heute, keine viereinhalb Jahre nach dem Ende von Kaffee Toro, eine neue Firma gegründet, die erfolgreich wirtschaftet und expandiert.
Dass der zweite Anlauf zum Erfolg führte, liegt wohl auch daran, dass Stier die Fehler vom ersten Mal nicht wiederholte. Der koreanische Hersteller seiner Kaffeeautomaten erreicht in der Serienproduktion nie die Qualität des Prototyps, weshalb Käufer über Elektroschocks und Wasserpfützen klagen. Stier stellt daraufhin Ingenieurstudenten von der Technischen Universität Berlin ein, damit sie die Maschinen reparieren. Ständig kamen neue Kosten dazu. Zudem war Stiers Geschäftsidee zwar gut, die Welt aber 2013 offenbar noch nicht bereit – nur wenige Kunden interessierten sich für sein Produkt.
Schlaflose Nächte
Diese beiden Gründe, technische Probleme und mangelndes Interesse am Markt, führen letztlich zur Pleite von Kaffee Toro, an die sich eine schwere Zeit für den Unternehmer Stier anschließt.
In etwa zwei von fünf Berliner Insolvenzen wird das Verfahren mangels Masse eingestellt – bei einem Gründer mit drei Laptops und einer Idee gibt es für Insolvenzverwalter meist wenig zu holen. Bei Kaffee Toro hingegen ist genug Vermögen für ein Verfahren vorhanden – und die Forderungen der Gläubiger belaufen sich auf eine Viertelmillion Euro.
Stier begann deshalb, zu bangen. Die 50.000 Euro, die er in die Firma gesteckt hatte, waren verloren. Obwohl Kaffee Toro als GmbH nur beschränkte Haftung für den Gesellschafter vorsah, blieben noch einmal Forderungen in Höhe von 20.000 Euro am Geschäftsführer hängen, die er stemmen musste. Das hatte auch Folgen für sein Privatleben: Er hat kaum Geld und ist frisch verheiratet. Seine Frau zieht mit in seine Wohngemeinschaft und die Mitbewohner strecken sechs Monate Miete für das Paar vor. Die Bürokratie und ihre Fristen brachten Stier in diesen Tagen um den Schlaf. Zwischendurch fürchtete Stier gar, er könne im Gefängnis landen. Stichwort Insolvenzverschleppung.
Tatsächlich stellten etwa 80 Prozent der Geschäftsführer den Insolvenzantrag zu spät, weiß Rechtsanwalt Andreas Wähnert. „Wenn es nur drei Monate sind, wird Verschleppung nur selten verfolgt“, sagt er. Ab einem halben Jahr könne es ernst werden. Trotzdem hat er noch nie eine Haftstrafe erlebt. „Da müssten schon Schäden von mehreren Millionen Euro zusammenkommen und der Unternehmer müsste Wiederholungstäter sein“, sagt Wähnert.
Strenge Auskunftspflichten
Der Rechtsanwalt kennt die Sorgen von insolventen Unternehmern nur zu gut. Seit vielen Jahren steht er Firmen zur Seite, denen die Pleite droht. Gut 3000 Insolvenzen haben er und seine Berliner Kanzlei WHP nach eigenen Angaben begleitet. „Zuletzt waren es viele Catering-Unternehmen, vermutlich weil einige größere Start-ups mit hohen Marketing-Etats die kleineren verdrängen“, sagt er. Auch Logistik- und Transportfirmen treffe es seit vielen Jahren vermehrt. Baufirmen und Gastronomie sind laut einer Statistik der Auskunftei Creditreform jedoch weiterhin die gefährdetsten Unternehmen.
Für insolvente Unternehmer gelten strenge Auskunftspflichten – wer ihnen nicht nachkommt, kann in einer Art Beugehaft landen. Grundsätzlich sei das Berliner Insolvenzgericht im Vergleich zu anderen Bundesländern effizient und engagiert, findet Wähnert. Man tue alles dafür, dass insolvente Unternehmen weiter bestehen könnten. „Nur die Kommunikationsformen mit den Geschäftsstellen sind katastrophal“, sagt der Anwalt. Die Gerichte arbeiteten wie vor 20 Jahren mit Papier und in entsprechender Geschwindigkeit. Andere Gerichte in Deutschland seien digitaler aufgestellt.
Sobald alle Dokumente zusammen sind, kümmert sich der Insolvenzverwalter um die Abwicklung. „Der Unternehmer kann dann wieder arbeiten oder sich in eine Neugründung stürzen“, sagt Wähnert. Ein Fachanwalt brauche auch bei großen Unternehmen höchstens 40 Stunden für die Dokumente.
Stier hingegen machte alles selbst – er ist zwar Jurist, von Insolvenzrecht hatte er aber kaum Kenntnisse. „Das kommt im Studium kaum vor, dabei ist es unfassbar wichtig“, klagt er im Rückblick. In seiner Unsicherheit passt er einmal sogar seinen Insolvenzverwalter auf dessen Weg zur Kantine ab, um sicherzugehen, dass Dokumente rechtzeitig angekommen sind.
Zweiter Anlauf
Diese Zeit, die er für die Insolvenz aufwendete, hätte der Unternehmer lieber für seine neue Firma genutzt, die er parallel gründet: Bonaverde. Denn Stier glaubte weiter an seine Idee der röstenden Kaffeemaschinen und sammelt wieder Geld ein. Bei Bonaverde setzt Stier voll auf das Internet: Er lässt eine Website programmieren, einen Werbefilm drehen und startet ein Crowdfunding – eine Gruppenfinanzierung, bei der viele Investoren kleinere und mittelgroße Beträge in die Firma stecken. Diese Geldgeber sollen sich als Gemeinschaft fühlen und werden als Erstes beliefert.
Kampagnen auf den Plattformen Seedmatch, Indiegogo, Kickstarter und Seedrs folgen. Schnell kommt zusammen mit dem Geld einiger klassischer Investoren ein siebenstelliger Betrag zusammen. Nun findet er eine Firma, die wasserdichte und elektrisch gesicherte Geräte herstellt – und dieses Mal beschweren sich die Kunden nicht.
Heute rösten, mahlen und brühen die Automaten auf verschiedenen Messen und funkeln im Bonaverde-Laden in Berlin-Mitte. Auf der Industriemesse IFA 2017 trank der Regierende Bürgermeister Michael Müller das Gebräu aus einer Bonaverde-Maschine. Frisch gerösteter Kaffee ist mittlerweile angesagt. „Die Filter-Plörre will ja niemand mehr trinken heute“, sagt Stier. Bonaverde liefert nun Tausende Maschinen zu Kunden fast überall in Europa und den USA. Stier will Franchisepartner in Bayern, Japan, China, der Golfregion gewinnen, die die Produkte verkaufen und instandhalten. Er kommt den vielen Aufträgen kaum hinterher: Manche Investoren müssen lange auf ihre Maschinen warten und grummeln. Kanadier können derzeit gar nicht beliefert werden.
Für das Geschäftsjahr 2018 peilt das Unternehmen schwarze Zahlen an. Bonaverde liefert nicht nur die Maschinen, sondern auch fertig abgepackte Bohnen, die der Automat automatisch nachbestellt. Der Kaffee wird fair gehandelt und kommt direkt von Bauern in Mexiko, El Salvador und Nicaragua.
„Das ist doch absurd, typisch deutsch“
Viereinhalb Jahre nach der Insolvenz kann Stier Kaffee Toro endlich hinter sich lassen: Am 2. Mai 2018 teilte ihm das Gericht per E-Mail mit, dass das Verfahren aufgehoben sei: keine Geldstrafe, keine Gefängnisstrafe. Stier hat die erlösende Nachricht immer griffbereit auf seinem Smartphone.
Doch ein paar Dinge erinnern Stier an die Insolvenz. Die Schufa, eine Wirtschaftsauskunftei, die die Kreditwürdigkeit von Menschen beurteilt, bewertet ihn sehr schlecht. Wenn Stier eine Wohnung mieten möchte, kann das zum Problem werden. Und er bekommt als Privatperson keinen Handyvertrag.
Zurzeit kann Stier darüber lachen. Vor Kurzem hat seine Firma bei der Telekom 50.000 Sim-Karten gekauft, damit die Kaffeemaschinen durchfunken können, dass die Bohnen knapp werden und Bonaverde nachliefern soll. Stiers eigenes Handy läuft über eine Prepaid-Karte. „Das ist doch absurd, typisch deutsch“, meint er.
Diese Anekdote erzählt Stier gerne, zum Beispiel bei der Fuck-up-Night, einer Veranstaltungsreihe in Berlin, bei der Unternehmer über ihr Scheitern sprechen. Die Veranstalter wollen erreichen, dass Insolvenzen ihr Stigma verlieren. Die amerikanische Unternehmerkultur ist hier das Vorbild, wieder aufstehen und etwas Neues beginnen.
Anwalt Wähnert bemerkt, dass sich die Einstellung der Berliner Unternehmer seit zehn Jahren schleichend ändert: „Insolvenz ist nichts Schlimmes, sondern Chance für einen Neuanfang.“ Das gelte vor allem, wenn man sie früh genug beantragt und einen rechtskundigen Berater hat, rät Wähnert. Man könnte das als Eigenwerbung abtun.
Aber auch Stier sagt im Nachhinein, dass es einer seiner größten Fehler war, auf einen Anwalt zu verzichten. Seine anderen Tipps für insolvente Unternehmer: joggen gehen und Bier trinken.
Dieser Artikel erschien auf der wöchentlichen Sonderseite "Berliner Wirtschaft". Folgen Sie uns auf Twitter für Updates: @BRLNRwirtschaft
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