Die Polizei, die Politik und die Hausbesetzer: Wie Friedrichshain-Kreuzberg zum rechtsfreien Raum verkommt
Ob Liebigstraße oder Rigaer Straße: Mal verteidigt die Politik die Autonomen, mal gängelt sie die Polizei. Verlierer ist das Grundgesetz. Ein Gastbeitrag.
Alexander von Aretin ist Rechtsanwalt, Mediator und Vertreter der Eigentümerin eines teilbesetzten Hauses in Friedrichshain.
Das Grundgesetz gewährleistet das Eigentum innerhalb der gesetzlichen Schranken. Es verhindert eine unbegrenzte Ausübung des Eigentumsrechts dadurch, dass es in Artikel 14, Absatz 2 des Grundgesetzes erkennt: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen.“
So weit, so gut! Welcher Gebrauch des Eigentums dient aber dem Wohl der Allgemeinheit? Über diese Frage hat sich das Bundesverfassungsgericht über Jahrzehnte viele kluge Gedanken gemacht, die sich in so manchen, die Bundesrepublik prägenden Urteilen wiederfinden.
Die Berliner Regierungskoalition scheint diese Frage im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht sehr locker beantworten zu können: Der Eigentümer soll von seinem Eigentumsrecht möglichst keinen Gebrauch machen! Allenfalls dann, wenn sein Recht zur Verpflichtung wird und es darum geht, sein Haus ordentlich instand zu halten und seine Steuern zu bezahlen.
So dient der Grundeigentümer am meisten dem Wohl der Allgemeinheit und seinen Nutzern, denen er ordentliche Wohnungen zu Preisen zu garantieren hat, die sich innerhalb des Berliner Mietendeckels bewegen.
Linke und Grüne: „Hausbesetzer sind Teil unserer Identität“
Hiermit aber nicht genug. Das Wohl der Allgemeinheit fordert nach fester Überzeugung von vier Politikern von Linken und Grünen des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, Oliver Nöll, Katja Jöstling, Annika Gerold und Julian Schwarze, die Ausweitung des Wohls der Allgemeinheit auch auf Hausbesetzer. Und sie fordern die partielle Außerkraftsetzung der Rechtsordnung.
Diese Politiker und die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann wurden kürzlich von verzweifelten Nachbarn in der Rigaer Straße und Liebigstraße gebeten, doch bitte der zunehmenden Schikane durch die Hausbesetzer Einhalt zu gebieten. Man wolle sich nicht auf Dauer Steine in Kinderzimmer und Kita werfen lassen und auf Graffitis an der eigenen Hauswand lesen müssen: „Die Yuppie Scum“ (Stirb Yuppie-Abschaum)!
Das Antwortschreiben der vier Volksvertreter fiel eindeutig aus: „Hausbesetzer sind wichtig für das Gesicht von Friedrichshain-Kreuzberg und Teil unserer Identität, unabhängig davon, ob wir uns mit den dort geführten Diskursen identifizieren können oder nicht.“
Gleichzeitig forderten sie den Eigentümer der Liebigstraße 34 auf, einen nach langem Rechtsstreit erwirkten Räumungstitel gegen die Besetzer nicht zu vollstrecken, da das „anarcha-queer-feministische Hausprojekt“, wo im Binnenverhältnis als Kollektiv ohne patriarchale Strukturen zusammengelebt werden kann, dringend erhalten werden müsse. Rechtsordnung hin oder her, wir sind ja so schön bunt und queer hier in Friedrichshain-Kreuzberg.
Eine Dienstanweisung, die Polizisten im Dienst ausbremst
Lustig geht es auch in der benachbarten Rigaer Straße 94 zu. Dort hatte der Eigentümer nach Jahren der Hausbesetzung endlich erreichen können, dass zumindest der Zugang in das Haus wieder ermöglicht wurde, indem drei von den Besetzern errichtete Sicherheitstore und eine Falltür abgebaut und eine besetzte Wohnung wieder in Besitz genommen werden konnte. Die Freude währte nicht lange.
Nach drei Tagen waren die Tore wieder eingebaut, die geräumte Wohnung wieder besetzt und der Hausverwalter und sein Anwalt wurden beim Versuch, ins Haus zu kommen, von maskierten Besetzern auf die Straße verfolgt, dort mit Reizgas bearbeitet und zu Boden geknüppelt.
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Als die vorher informierte und in einer Nebenstraße wartende Polizei endlich eintraf, um die Täter zu verfolgen, musste sie an der Haustür haltmachen. Dies aufgrund einer polizeilichen Dienstanweisung, wonach vor Betreten des anarcho-autonomen Wohnprojekts erst ein vorgesetzter Polizeibeamter des höheren Dienstes zu fragen sei, ob man das Haus überhaupt betreten dürfe. Der höhere Beamte war aber offensichtlich gerade telefonisch nicht erreichbar, sodass die Strafverfolgung gestoppt wurde und die Straftäter unerkannt in das Innere des autonomen Hausprojektes verschwinden konnten.
Der naive Beobachter fragt sich, wozu sich das Land Berlin ein Sicherheits- und Polizeigesetz gibt, das die Polizei zur Gefahrenabwehr und effizienten Strafverfolgung verpflichtet, wenn eine Dienstanweisung diese vereitelt. Das Strafgesetzbuch setzt die Strafvereitelung genauso unter Strafe wie die fahrlässige Körperverletzung durch Unterlassen. Aber die Rechtsordnung misst in Friedrichshain-Kreuzberg offenbar mit zweierlei Maß.
Stellen Sie sich vor, Ihre Wohnung würde von Einbrechern besetzt
Wir kommen zur Ausgangsfrage der Verpflichtungen des Eigentümers zurück, der gerne seinen verlorenen Besitz und die Zugangsmöglichkeit in sein Haus wieder hätte. Dies nicht zum Spaß, sondern um seinen Eigentümerverpflichtungen zur Gewährung von ungehindertem Zugang und Brandschutz nachzukommen.
Das Gesetz gibt ihm die Möglichkeit, sich unverzüglich seinen Besitz zurückzuholen. Da er dies aber nicht allein durch Ausübung des Faustrechts kann, sondern hierfür Polizeischutz benötigt, fragte er diesen bei der Polizeipräsidentin an. Leider vergeblich, er bekam von ihr eine Absage. Er möge sich doch selbst um die zivilrechtliche Durchsetzung seines Rechtes kümmern. Die verschämte Antwort der überraschten Polizeieinsatzkräfte unter vorgehaltener Hand: Die Verweigerung des Polizeischutzes käme von höchster politischer Stelle!
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Der Leser möge sich die Situation vorstellen, dass er nach der Arbeit vor seiner verschlossenen Wohnung steht, weil diese zwischenzeitlich von Einbrechern besetzt wurde, die sich dort häuslich niedergelassen haben. Der zur Hilfe gerufene Polizist teilt ihm daraufhin mit, er könne da auch nichts machen, er möge die unbekannten Besetzer doch durch Einreichung einer zivilrechtlichen Klage (über zwei Jahre und zwei Instanzen!) wieder räumen. Schließlich sei der widerrechtlich erlangte Besitz des Einbrechers doch schützenswert und er könne ja einstweilen auch woanders wohnen!
Eigentum verpflichtet also in Berlin zu sehr viel, etwa wenn es um den Schutz von „anarcho-autonomen Wohnprojekten“ geht. Das Recht scheint dann nicht so wichtig. Dazu ist Friedrichshain-Kreuzberg zu bunt und muss seine Identität wahren. Wenn Verwaltung und Politik allerdings so weitermachen, ist diese bunte Stadt leider bald nicht mehr Teil unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung, sondern ein rechtsfreier Raum!
Alexander von Aretin