Autonomes Berliner Hausprojekt: Razzia in der Rigaer Straße 94 – Festnahmen bei Demo
Wegen Körperverletzung und Urkundenfälschung: Die Berliner Polizei durchsuchte Wohnungen im umkämpften Haus in Friedrichshain. Gegner jubeln, Autonome zürnen.
Mit 200 Beamtinnen und Beamten, unter anderem aus einer Einsatzhundertschaft, ist die Berliner Polizei am Donnerstagmorgen in die Rigaer Straße in Friedrichshain ausgerückt, das Zentrum der autonomen Szene der Stadt.
Wie die Polizei bei Twitter mitteilte, wurden auf richterliche Anordnung „einzelne Wohnungen eines Wohnprojekts“ durchsucht. Dabei handelte es sich um die Rigaer Straße 94. Die Maßnahmen stehen nach Polizeiangaben „im Zusammenhang mit begangenen Straftaten einzelner Personen".
Am Nachmittag erklärte ein Polizeisprecher den Einsatz für beendet. Auf Twitter hatten Aktivisten gemeldet, dass das Gebäude geräumt werde. Dies dementierte der Sprecher. Es habe lediglich einen weiteren spontanen Einsatz in einer Wohnung in der Rigaer Straße gegeben, weil aus dieser Farbe auf Polizisten gekippt worden sei. Dort haben Einsatzkräfte zwei Männer im Alter von 19 und 32 Jahren überprüft. Sie müssen sich nun wegen des Verdachts des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte und der Sachbeschädigung verantworten
Am Nachmittag riefen Unterstützer aus der linken Szene zu Protest gegen den Einsatz auf. Am frühen Abend sammelten sich daraufhin am sogenannten „Dorfplatz“ treffen, der Kreuzung von Rigaer Straße und Liebigstraße, etwa 60 Demonstranten, um gegen die Razzia und die angeblichen Teilräumungen zu protestieren. Aus Lautsprechern auf Balkonen dröhnte laute Musik. Hinzu kamen rund 90 Schaulustige. Etwa zwei Dutzend Polizisten überwachten die Lage.
Bis zu 220 Demonstranten auf dem „Dorfplatz“
In der Spitze sei die Zahl der Teilnehmenden bei der Demo auf 220 angewachsen, sagte ein Polizeisprecher am Freitagmorgen. Die Lage sei aber weitestgehend störungsfrei gewesen. Es sei eine Art Mahnwache abgehalten worden, „bis Mitternacht war die Straße wieder leer.“
Es habe sieben vorläufige Festnahmen von zwei Frauen und fünf Männern gegeben, hieß es von der Polizei, unter anderem wegen Beleidigung und Widerstandes gegen Beamte, außerdem wegen einer versuchten gefährlichen Körperverletzung – laut einer Sprecherin soll es einen Eierwurf gegeben haben, der aber nicht traf. Einen Medienbericht über Flaschenwürfe auf Beamte konnte sie nicht bestätigen. Die Einsatzkräfte hätten zudem Platzverweise erteilt.
Insgesamt seien wegen des Protest von 17 Uhr bis drei Uhr morgens noch einmal 400 Beamtinnen und Beamten im Einsatz gewesen - jedoch nicht nur an der Kreuzung, betonte die Polizei, sondern unter anderem auch im Führungsstab gewesen und als Verkehrskräfte. Wie viele Beamtinnen und Beamte davon letztlich auf dem „Dorfplatz“ waren, konnte die Polizei am Morgen nicht näher beziffern.
Hintergrund der Razzia seien drei richterliche Durchsuchungsbeschlüsse zu unterschiedlichen Ermittlungsverfahren, hieß es von der Polizei am Donnerstag. Konkret gehe es um eine gefährliche Körperverletzung, Urkundenfälschung und gewerbsmäßigen Betrug. Die Durchsuchungen hätten das Ziel, Beweismittel aufzufinden. Zunächst war von zwei Durchsuchungsbeschlüssen die Rede.
Polizistin mit Laserpointer geblendet – Augenverletzung
Im Januar sei eine Polizeibeamtin mittels eines Laserpointers geblendet worden. Sie habe eine Augenverletzung davongetragen. Die Urkundenfälschung hätte die Zielrichtung gehabt, sich widerrechtlich zu bereichern. In diesem Zusammenhang wurde auch eine Wohnung in der Karl-Marx-Allee durchsucht. Dort wurde ein 33-jähriger Tatverdächtiger von den Beamten überprüft, der beim Arbeitsamt gefälschte Unterlagen vorgelegt und dadurch unrechtmäßig Leistungen bezogen haben soll.
In einer durchsuchten Wohnung in der Rigaer Straße sei eine 29-Jährige angetroffen worden, die sich mutmaßlich unberechtigt dort aufhielt. Gegen sie wurde ein Verfahren wegen Hausfriedensbruch eingeleitet.
„Rechtsbrüche und Straftaten werden konsequent verfolgt“, kommentierte Innenstaatssekretär Torsten Akmann (SPD) die Razzia. „Der Glaube, die Polizei würde sich aus der Rigaer Straße zurückziehen, wenn man sie mit Steinen, Pyrotechnik oder Farbbeuteln angreift, ist ein Irrtum. Die Polizei setzt an allen Orten in dieser Stadt geltendes Recht durch.“
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Sichergestellt wurden laut Staatsanwaltschaft diverse Unterlagen und Pyrotechnik, auf Aufnahmen von Pressefotografen sieht man auch Beamte, die Lautsprecherboxen aus dem Haus tragen.
Mit der Aktion werde die Polizei nicht "durchkommen", sagte eine Aktivistin vor Ort über Lautsprecher. "Das wird Konsequenzen haben." Eine Sprecherin verglich die Razzia mit einem Einsatz im Jahr 2016. Damals wurden Teile des linken Wohnprojekts, darunter die Dachböden und die Hausbesetzerkneipe "Kadterschmiede" geräumt.
Eine Anwohnerin und Demonstrantin äußerte sich ebenfalls wütend über die Durchsuchungen und angeblichen Räumungen: „Während Nazis in Neukölln Anschläge auf Menschen verüben und es dort keine Strafverfolgung gibt, werden in der Rigaer Straße grundlos Menschen aus ihren Wohnhäusern vertrieben. Warum gibt es in Neukölln keine Razzien?“
Polizei: Bewohner warfen Trinkkartons und Eier, kippten Farbe aus
Auch wenn die Beamten eine Tür des Gebäudes mit Gewalt hätten öffnen müssen, sei die Lage am Morgen zunächst ruhig gewesen und es habe keinen Widerstand gegen die Durchsuchung gegeben, sagte eine Polizeisprecherin der Deutschen Presse-Agentur am Morgen. Dies bestätigte ein dpa-Fotograf vor Ort.
Später teilte die Polizei mit, im Zuge von Wohnungsdurchsuchungen seien Einsatzkräfte angegriffen worden. Menschen aus dem Haus hätten etwa gefüllte Getränkekartons und Eier geworfen sowie Farbe ausgekippt, sagte ein Sprecher am Donnerstag der dpa. Außerdem sei ein Feuerwerkskörper gezündet worden. Polizisten seien nicht verletzt worden. Die Ermittlungen zu den Angriffen dauern an.
Die Durchsuchungen hatten am frühen Morgen begonnen. Laut Verkehrsinformationszentrale wurde die Rigaer Straße zwischen Liebig- und Zellestraße gesperrt.
Bewohner der Rigaer 94: Teile des Hauses von Polizei „besetzt“
Bewohner des Hauses twitterten Bilder von Polizisten auf dem Dach und im Treppenhauses. Die Polizei (im Jargon der Autonomen: „Bullen“) sei am Morgen in den Hof „eingebrochen“ und habe „Teile des Vorderhauses besetzt“. Außerdem würden vor der Tür Autos abgeschleppt.
Bewohner der Rigaer 94 bezweifelten, dass es bei der Durchsuchung allein um die Ermittlungen in den genannten Verfahren ging. "Bauarbeiter zerstören unsere Türen von der Straße bis in den Hof", schrieben sie am frühen Nachmittag. "Unklar, was sie sonst noch vorhaben, aber nach nur einer Razzia sieht es definitiv nicht aus."
Auf einem Foto waren vor einem Mannschaftswagen der Polizei Männer in sportlicher Kleidung zu sehen, die nach Angaben der Bewohner Bauarbeiter und Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes waren, die "Handlanger" der Polizei seien. Dem widersprach ein Sprecher der Polizei. Es habe sich um Personen gehandelt, die vom Hausverwalter, der ebenfalls vor Ort war, für Bauarbeiten eingesetzt waren. Ihre Tätigkeit habe mit dem Einsatz nichts zu tun gehabt.
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Den Autonomen zufolge sei der Hausverwalter vom Eigentümer neu eingesetzt und erst vor Kurzem vorgestellt worden - mit einer "extrem verkleinerten Kopie eines angeblich von einem angeblichen Notar in England beglaubigten Schreibens", unter dem eine "unleserliche Unterschrift" stehe. Der Verwalter selbst berufe sich auf eine Briefkastenfirma namens Lafone Investment Ltd. Die Autonomen sprachen von einer "Immobilienmafia".
"Na, hier zu wohnen ist ja auch kein Freude"
Um das Haus in der Rigaer Straße herrschte während der Durchsuchungen am Vormittag beinahe ungestörter Alltag. In 200 Metern Entfernung standen Menschen Schlange vor einer Arztpraxis, andere tranken in aller Ruhe ihren Kaffee zum Croissant. Sämtliche Zufahrten des abgesperrten Abschnitts der Rigaer Straße waren mit Polizeiwagen besetzt, darunter auch zivile Einsatzkräfte.
Anwohner, Familien mit Kindern auf dem Weg in die umliegenden Kitas, wurden abgewiesen und mussten Umwege nehmen. Über die voraussichtliche Dauer der Maßnahme trafen die zur Absperrung der Straße abgestellten Beamten keine Aussage. "Na, hier zu wohnen ist ja auch kein Freude", sagte ein Mann zu seiner Begleiterin, nachdem beide freundlich, aber bestimmt zur Umkehr bewogen worden waren.
Der Friedrichshainer Nordkiez: Wo der Ausnahmezustand normal ist
Währenddessen dröhnte von einem Balkon der Rigaer 94 laute Musik, beobachteten vermummte Bewohner des Hauses die Lage. Der Ausnahmezustand ist im Friedrichshainer Nordkiez ein gewohntes Bild. In der Rigaer Straße und Umgebung stehen noch einige symbolträchtige und zum Teil besetzte Häuser der linksradikalen Szene. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, oft werden Beamte angegriffen.
Zuletzt stand vor allem der Konflikt um die Liebigstraße 34, gleich um die Ecke, im Mittelpunkt: Anfang Juni hatte das Berliner Landgericht den Weg für die Räumung des selbsterklärten „anarcha-queer-feministischen“ Hausprojekts „Liebig 34“ frei gemacht. Es gab einer Klage des Eigentümers statt, nachdem der Mietvertrag seit mehr als einem Jahr abgelaufen war. Der Bewohner-Verein hat jedoch Rechtsmittel gegen das Urteil eingelegt.
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Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) lobte den Einsatz angesichts der Attacke gegen die Beamtin. "Die heutigen Durchsuchungsmaßnahmen sind ein wichtiges Signal des Rechtsstaates“, teilte der Berliner GdP-Sprecher Benjamin Jendro mit. „Auch die Rigaer Straße 94 darf kein Symbol zur Legitimation von Gewalt oder ein rechtsfreier Raum sein." Es sei eine "schwere Straftat", Menschen mit einem Laserpointer zu blenden und Verletzungen in Kauf zu nehmen.
Baustadtrat Schmidt als Vertreter der Bauaufsicht vor Ort
Auch Baustadtrat Florian Schmidt (Grüne) war beim Einsatz und im Gespräch mit einem Beamten zu sehen. Die Polizei habe die Bauaufsicht um Amtshilfe wegen Schäden an einer Treppe gebeten, erklärte er. "Da ich meine Mitarbeiter nicht dem Geschehen einer laufenden Polizeiaktion aussetzen wollte, bin ich selber gekommen", sagte er dem Tagesspiegel.
Im Haus habe es dann aber laut Polizei keine Schäden an der Treppe gegeben, jedoch seien eine verschließbare und eine zu kleine Tür von den Einsatzkräften bemängelt worden. "Mängel, die ein bauordnungsrechtliches Eingreifen aufgrund von Gefahr für Leib und Leben zwingend erfordern würden, konnte ich nicht feststellen", sagte Schmidt. Dennoch werde er prüfen lassen, ob die angeführten Mängel seitens der Verursacher beseitigt werden müssen.
CDU spricht von "falscher Tolerierung und Nichthandeln"
Die Berliner CDU kritisierte den Umgang mit dem linken Wohnprojekt durch Koalition und Bezirk in den vergangenen Jahren. Der Fraktionschef und innenpolitische Sprecher Burkard Dregger sprach von „falscher Tolerierung und Nichthandeln“, die „über Jahre den Rechtsstaat geschwächt“ hätten.
Kurt Wansner, CDU-Abgeordneter aus Friedrichshain-Kreuzberg, unterstellte Teilen des Bezirksamts, „mehr Sympathien für Gewalttäter als für Polizei und Anwohner“ zu haben. Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) habe zu spät auf „massive Anwohner-Kritiken“ reagiert.
SPD-Innenpolitiker: "Der Dominoeffekt setzt nun ein"
"Erfreulich" nannte der SPD-Innenpolitiker Tom Schreiber den Polizeieinsatz. "Der Dominoeffekt setzt nun ein", schrieb er bei Twitter. "Das wird nachhaltig seine Wirkung entfalten. Meine Prognose: über die nächsten 5 Jahre verschwinden diese Rückzugsorte."
"Gewalt gegen unsere Polizeibeamten dulden wir nicht!", kommentierte FDP-Fraktionschef Sebastian Czaja den Einsatz. "Die katastrophalen Zustände in der Rigaer Straße werden nicht zuletzt durch ein Klima gefördert, in dem auch Enteignungs- und Systemchange-Fantasien reifen konnten." Der rot-rot-grüne Senat müsse "seine Rolle in dieser Entwicklung überdenken". Zu einem "Klima des Respekts" gehörten auch die "Achtung der Meinung und des Eigentums anderer", sagte Czaja. "Man kann sich Dinge nicht einfach nehmen – auch nicht in Berlin."
Von einem "Trippelschrittchen in die richtige Richtung" sprach das Mitglied des Innenausschusses Marcel Luthe. Er gehört der FDP an, wurde aber kürzlich aus deren Fraktion ausgeschlossen. "Je näher das Wahljahr rückt, desto mehr interessiert sich der Innensenator offenbar wieder für seine Aufgaben", teilte Luthe mit. Wenn 200 Beamte für eine Durchsuchung notwendig seien, zeigte das jedoch "eindrucksvoll" das Ausmaß der Bedrohung durch den Linksextremismus.
Innensenator Andreas Geisel war in der Vergangenheit wiederholt ein zu lasches Vorgehen in der Rigaer Straße vorgeworfen worden. Der SPD-Politiker hat dort bisher nicht mit derselben demonstrativen Härte agiert wie sein Amtsvorgänger Frank Henkel von der CDU. Inwieweit er in den Einsatz vom Donnerstag involviert war, ist unklar: Geisel weilt zurzeit im Urlaub. (mit dpa)