Vor einem ungewissen Winter: Wie die Coronakrise das Leid der Berliner Obdachlosen verschärft
Die Ausgaben für die Kältehilfe verdoppeln sich. Zwar stehen so viele Notschlafplätze wie 2019 bereit, Obdachlose leiden wegen des Lockdowns trotzdem mehr.
Zeitungen lassen sich schlechter verkaufen, es wird kaum noch gespendet, und Pfandflaschen zum Sammeln gibt es auch weniger: Der Lockdown hat für viele Berliner Obdachlose negative Folgen. Nun kommt auch noch die Kälte hinzu, viele sind verunsichert.
„Für die Wohnungslosen ist der Lockdown eine extreme Belastung“, sagt Jens Aldag von der Koordinierungsstelle Kältehilfe Berlin. Viele von ihnen fragten sich, ob sie nachts in den Einrichtungen der Kältehilfe noch ein Bett bekämen, haben Angst, dass es vielleicht zu wenig Plätze gibt.
Insgesamt stehen laut der Senatssozialverwaltung wie auch im vergangenen Jahr rund 1044 Schlafplätze in den Einrichtungen zur Verfügung, davon 71 speziell für Frauen. Um dies auch im Corona-Winter gewährleisten und Hygieneauflagen einhalten zu können, müssen zusätzliche Plätze in drei Hostels angemietet werden. Denn die Belegung der Zimmer in den Einrichtungen muss wegen Corona verringert werden.
Dadurch kommen auf das Land in diesem Jahr mehr Ausgaben zu. Wurden für die vergangene Kälteperiode 2019/20 laut Sozialverwaltung noch 3,1 Millionen Euro für die Kältehilfe ausgegeben, könnte sich die Summe nach Angaben der Bezirke in diesem Jahr nahezu verdoppeln: In Tempelhof-Schöneberg hat man im vergangenen Jahr mit einem Tagessatz von 17,10 Euro pro Schlafplatz und Teilnehmer pro Tag gerechnet, in diesem Jahr sind es dem Bezirk zufolge 31,88 Euro. In Mitte betrugen die Kosten für einen Schlafplatz im vergangenen Jahr pro Tag durchschnittlich rund 24 Euro, in diesem Jahr rechnet man mit 47 Euro.
Auch der Bezirk Pankow hat einen Mehrbedarf von 100.000 Euro angemeldet – 206.000 Euro haben die Kältehilfeeinrichtungen des Bezirks 2019 an Zuwendungen erhalten. In Friedrichshain-Kreuzberg wird laut Bezirk mit 322.000 Euro pandemiebedingten Mehrkosten kalkuliert, im vergangenen Jahr lag die Gesamtzuwendungssumme für die Kältehilfe bei rund 1.295.000 Euro.
Laut Finanz- und Sozialverwaltung sollen die Ausgaben für die diesjährige Kälteperiode als pandemiebedingte Mehrkosten übernommen werden. Die Träger bleiben also nicht auf den Kosten sitzen, heißt es. Die hatten zuletzt noch Zweifel geäußert.
Für die Besucher der Obdachloseneinrichtungen ist aber nicht nur das Thema Übernachtung in Corona-Zeiten ein Problem: Laut Angaben der Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) gibt es Schätzungen, dass rund 75 Prozent der Angebote wie etwa Essensausgaben, Plätze in Tageseinrichtungen oder Beratungen wegfallen, die im Sommer noch ins Freie ausweichen konnten. Genau sei diese Zahl der Sozialverwaltung nicht bekannt, die Ermittlung sei Aufgabe der Bezirke.
Finanzierung macht Ärger
Zwischen ihnen und der Sozialverwaltung gibt es Ärger: Sozialsenatorin Breitenbach wirft den Bezirken laut einem Bericht des RBB vor, Geld erst spät abgerufen zu haben. Gleichzeitig verstehe sie nicht, warum die Bezirke sich nicht verstärkt bemühten, Wohnungslose längerfristig unterzubringen, als nur für eine Nacht in den Einrichtungen der Kältehilfe. Insgesamt stünden 3,1 Millionen Euro für die Kältehilfe zur Verfügung.
Dem widerspricht der Sozialstadtrat Matthias Steuckardt (CDU) aus Tempelhof-Schöneberg. Der Senat strecke die Kosten von 17,10 Euro zwar vor, die Kosten lägen aber in dieser Kälteperiode höher. "Da ist für uns die Frage, wie wird das refinanziert?" Erst am 21. Oktober sei die Zusage der Finanzverwaltung gekommen - das sei viel zu spät gewesen.
Gerade in Kälteperioden sind aber nicht nur die Notübernachtungen sondern insbesondere Einrichtungen, in denen sich Obdachlose tagsüber aufhalten können wichtig, um dem Körper Ruhe zu gönnen.
Die Kälte schwächt den Körper enorm
„Das ist Dauerstress für den Körper“, sagt Elisa Lindemann, Einrichtungsleiterin der Frauen-Notübernachtung Marie der Koepjohann´schen Stiftung in Mitte. Insbesondere für Frauen sei es problematisch, dass sie tagsüber in den Einrichtungen nicht wie sonst auf die Toilette könnten, beispielsweise wenn sie menstruieren. „Citytoiletten kosten 50 Cent bis einen Euro, das ist für viele zu teuer“, sagt Lindemann.
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Die Situation der Frauen hat auch Lonneke Schmidt-Bink, Leiterin des Frauentreffs Olga, im Blick, in dem vor allem Sexarbeiterinnen und Transfrauen von der Kurfürstenstraße Zuflucht finden. Auch deren Situation habe sich durch das pandemiebedingte Arbeitsverbot verschärft. Konnten sie während der ersten Welle zum Teil noch von Erspartem leben, so sei dieses in vielen Fällen nun aufgebraucht.
Sexarbeiterinnen und Transfrauen geraten aus dem Blick
Häufig seien die Frauen und Transfrauen auch nicht sozialleistungsberechtigt. Ihnen werde nun mit Essens- und Pflegegutscheinen der Stadt geholfen, so Lonneke Schmidt-Bink. Viele von ihnen würden aber den Frauentreff nicht mehr aufsuchen. „Hier entsteht ein blinder Fleck“, sagt die Leiterin des Frauentreffs.
Viele, die keine Wahl hätten, würden trotz des Verbots und regelmäßiger Polizeikontrollen arbeiten. Vielfach geschehe das aber nicht mehr im öffentlichen Raum, sondern in Privaträumen und Pensionen. „Wir können die Frauen so nicht mehr erreichen“, so Schmidt-Bink. Je länger der Lockdown dauere, desto schwieriger werde die Lage.
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Die Leiterin der Frauen-Notübernachtung Marie, Lindemann, sieht gleichzeitig ein großes Problem darin, dass in vielen Einrichtungen mit Notschlafplätzen keine Möglichkeit gegeben sei, Menschen mit Corona-Symptomen zu isolieren. Erst mit einem Corona-positiv-Test können Obdachlose zur Quarantänestation in Mitte gebracht werden.
5000 Schnelltests für Einrichtungen mit medizinischem Personal
Dabei versucht der Senat Abhilfe zu schaffen. Seit Freitag werden laut Angaben der Sozialverwaltung 5000 Schnelltests an Kältehilfeeinrichtungen mit medizinischem Personal ausgeliefert. Das sind rund die Hälfte der Berliner Einrichtungen. Sie sollen sowohl für das Personal als auch für die Gäste der Einrichtungen zur Verfügung stehen. Derzeit arbeite man außerdem mit dem Arbeiter Samariter Bund an einer Lösung, wie auch in Einrichtungen ohne medizinisches Personal getestet werden könne, sagte ein Sprecher der Sozialverwaltung.
Gleichzeitig soll erneut Geld für zwei weitere 24-Stunden-Obdachlosenunterkünfte bereitgestellt werden – bislang wurde lediglich der Weiterbetrieb der Unterkunft in der Lehrter Straße Ende Oktober verlängert. Fest steht, dass auch zwei weitere 24-Stunden-Unterkünfte als dauerhafte Schutzräume mit Vollverpflegung und sozialer Beratung für Obdachlose öffnen sollen, wenn die Lockdown-Regelungen noch weiter verschärft werden. In der ersten Welle war das unter anderem auch die Jugendherberge in der Kluckstraße in Tiergarten. Wo die Unterkünfte aktiviert werden sollen, werde derzeit mit den Trägern geklärt, sagte der Sprecher. In der ersten Welle der Pandemie seien diese Unterkünfte gut angenommen worden.
Schon jetzt hohe Arbeitsbelastung für Mitarbeiter und Ehrenamtliche
Auch das zumeist ehrenamtliche Personal ist in der derzeitigen Situation besonders belastet, sagt Barbara Breuer von der Berliner Stadtmission. Gerade in der Bahnhofsmission am Zoo arbeiteten viele ältere Ehrenamtliche, die ihre Schichten wegen des Gesundheitsrisikos abgeben mussten. Das führt jetzt schon zu erhöhter Arbeitsbelastung, obwohl die Saison gerade erst begonnen hat.
Für viele sei es belastend, Kunden zum Essen nicht in die sonst zur Verfügung stehenden Räume lassen zu können. Ähnlich sei es in der Kleiderkammer in der Lehrter Straße. Pandemiebedingt werden Bedürftige draußen bedient – deswegen müssten sie aber Wartezeiten in der Kälte in Kauf nehmen. Das sorge auch für Frust. Klar sei für sie aber, egal ob in den Tagesanlaufstellen oder in den Notunterkünften für die Nacht: „Wir werden niemanden wegschicken.“