„Die Kältehilfe läuft extrem unbefriedigend“: Breitenbach fürchtet Corona-Engpass bei Obdachlosenhilfe
Was bedeutet die Coronakrise für die Ärmsten? Berlins Sozialsenatorin Breitenbach über Abstandhalten unter Obdachlosen und neue Wohnangebote für Bedürftige.
Der Landeschef der AWO hat kürzlich gesagt, die Pandemie könne das Hilfesystem lahmlegen. Sehen Sie die Gefahr?
Die Pandemie kann sicherlich Teile des Hilfesystems lahmlegen. Wir haben das in den vergangenen Monaten gesehen, als es nicht ausreichend Schutzkleidung und Masken gab. Man muss auch damit rechnen, dass plötzlich ganz viele Menschen erkranken und das Personal dann fehlt. Aber ich will mir jetzt keine Horrorgeschichten ausdenken.
Auch die Kältehilfe schien lange bedroht, können doch Menschen aufgrund der Abstandsregeln nicht wie in den vergangenen Jahren Matratze an Matratze schlafen…
Stimmt, wir müssen die Abstands- und Hygieneregeln einhalten und es muss eine Entzerrung stattfinden. Das bedeutet, dass wir entweder zusätzliche Einrichtungen brauchen oder mehr Personal, das etwa auf zusätzlichen Etagen für Sicherheit sorgt.
Was, wenn nachts jemand vor einer Unterkunft steht, bei dem der Verdacht besteht, er könnte mit Corona infiziert sein?
Das handhaben die Gesundheitsämter unterschiedlich. Einige sagen, die Menschen verlassen auf keinen Fall den Bezirk, andere lassen einen Transport zu, etwa in die Quarantänestation für Obdachlose in der Lehrter Straße. Die Frage ist: Wie kommt die Person dorthin? Man kann sie ja nicht einfach in einen Kältebus setzen. Die Träger müssen bei den Gesundheitsämtern eine Entscheidung einholen – im Zweifel auch nachts. Sie brauchen konkrete Ansprechpartner.
Glücklicherweise mussten erst wenige Menschen auf die Quarantänestation.
Es waren insgesamt sechs. Warum sich so wenig Menschen auf der Straße angesteckt haben, kann ich nicht sagen. Möglicherweise, weil die Ansteckungsgefahr draußen nicht so groß ist. Klar ist, dass wir mit der AHA-Formel – also Abstand halten, Hygiene beachten, Alltagsmaske tragen – in den Einrichtungen bisher gut durch die Pandemie gekommen sind.
Weil in vielen Unterkünften weniger Betten stehen, fallen schätzungsweise ein Drittel der Schlafplätze weg. Sie haben trotzdem zugesagt, dass die Kältehilfe in den kommenden Wochen auf etwa 1000 Plätze aufgestockt wird – und damit auf eine ähnliche Kapazität wie im vergangenen November. Wie soll das gehen?
Die Kältehilfe hat am 1. Oktober mit 500 Notübernachtungsplätzen angefangen, die Kapazität wird – wie in der Vergangenheit auch – nun schrittweise erhöht. Zusätzliche Plätze können geschaffen werden, in dem große Unterkünfte weitere Räume belegen. Außerdem laufen Gespräche mit Hostels.
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Auch tagsüber verschärft die Pandemie die Situation. Etwa Essensausgaben, Beratungen oder Treffs fanden im Sommer im Freien statt. Droht jetzt ein Engpass?
Ich fürchte, ja. Es gibt Schätzungen, die davon ausgehen, dass etwa 75 Prozent der Angebote wegbrechen. Wir wissen es nicht, denn das ist Aufgabe der Bezirke. Die Kältehilfe-Koordination fragt derzeit bei den Bezirken nach. Wenn das Ergebnis vorliegt, schauen wir und müssen dann gemeinsam Lösungen finden.
Obwohl Sie versichert haben, der Senat übernehme die Mehrkosten für die Träger, fürchten viele Akteure noch immer, auf den Ausgaben sitzen zu bleiben.
Der Finanzsenator und ich haben vereinbart, dass das Land Berlin die pandemisch bedingten Mehrkosten in der Kältehilfe trägt. Im nächsten Schritt mussten die Bezirke dann mit den Trägern Rücksprache halten und benennen, wie viel Mehrkosten sie wegen der Pandemie in ihren Unterkünften noch haben. Jetzt prüft die Finanzverwaltung die Mehrkosten und gibt die Zusage an die Bezirke, die die Träger informieren.
Das geschieht spät. Mitte Oktober können Träger immer noch keine Verträge mit Mitarbeitern abschließen. Hätten Sie sich nicht eher mit dem Finanzsenator kurzschließen müssen?
Nein. Das Geld für die Kältehilfe wird über die Bezirke abgerechnet, nicht über den Haushalt der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales. Die Bezirke hätten früher sagen müssen, bei welchen Unterkünften es Probleme gibt und wie hoch die Mehrkosten sind.
Behörden-Pingpong?
Das hat nichts damit zu tun, dass ich Verantwortung wegschieben will. Nur: Ich kann gar kein Geld beantragen. Die Bezirke hätten wenigstens schon einen Teil ihrer Plätze absichern und zusagen können. Doch trotz der Zusage des Finanzsenators warten sie, bis sie alles schriftlich haben. Die Kältehilfe läuft zurzeit extrem unbefriedigend – auch für diejenigen, die darauf angewiesen sind.
Was müsste sich ändern?
Die meisten Menschen in der Kältehilfe hätten Anspruch, zumindest temporär in Wohnheimen untergebracht zu werden. Wir könnten alle Menschen erst einmal in Unterkünften unterbringen, anstatt sie in prekären Situationen in der Kältehilfe zu belassen. Und im nächsten Schritt könnte in einem Clearingverfahren geguckt werden: Hat der Mensch Anspruch auf Sozialleistungen? Das ist Voraussetzung für eine dauerhafte Unterbringung.
Laut Statistik kommen zwei Drittel der Nutzer in der Kältehilfe aus dem Ausland. Viele haben nie in Deutschland gearbeitet und damit eben keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Was passiert mit denen, die ohne Perspektive in Berlin stranden?
Moment, es ist nicht so, dass Menschen aus anderen europäischen Ländern per se keinen Anspruch haben. Wir stellen fest, dass in Einrichtungen der Kältehilfe durchaus Menschen übernachten, die einer Arbeit nachgehen. Sie sind in der Regel Opfer von Ausbeutung und brauchen Beratung in arbeitsrechtlichen Fragen. Andere haben nicht die Kraft, sich beim Amt etwa um neue Papiere zu kümmern. Wieder andere haben tatsächlich keinen Anspruch auf Leistungen. In Berlin gibt es muttersprachliche Beratungen. Wenn jemand tatsächlich keinen Anspruch hat, kommt der Punkt, an dem es das Angebot für eine Rückfahrkarte gibt.
Nimmt die Zahl der Wohnungslosen coronabedingt zu, weil mehr Menschen in wirtschaftliche Nöte geraten?
Noch nicht. Aber bei den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften sind Räumungen ausgesetzt und die Menschen können sich melden, wenn sie ihre Miete nicht mehr bezahlen können. Deshalb gab es weniger Kündigungen. Aber die Frage ist, wie sich die Lage insgesamt auf dem Wohnungsmarkt weiterentwickelt.
Die Kältehilfe ist das niedrigschwelligste Notsystem. Bräuchte es nicht schon früher mehr nachhaltige Lösungen?
Wir sind zurzeit dabei, die Unterbringung wohnungsloser Menschen gesamtstädtisch neu zu koordinieren. Berlin ist das erste Bundesland mit so einem Projekt. Wir haben in Berlin etwa 35 000 Wohnungslose in Unterkünften einquartiert, zuzüglich der Geflüchteten sind wir bei etwa 50.000 Menschen.
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Es gibt bei der Unterbringung durch die Bezirke unglaublichen Wildwuchs, teils läuft sie ohne Verträge und Qualitätsstandards ab. Eine Steuerung für ganz Berlin, über Bezirks- und Behördengrenzen hinweg, soll das verbessern. Alle in Echtzeit verfügbaren Betten werden auf einen Klick angezeigt, um Wohnungslose – auch Geflüchtete mit Bleiberecht ohne Obdach - nach ihren Bedürfnissen unterzubringen.
Obdachlosenlotsen, Safe Spaces, also Flächen, auf denen Obdachlose selbstverwalttet leben, oder das Projekt Housing First, das Menschen Wohnungen vermittelt, ohne Auflagen an Abstinenz oder Jobsuche zu stellen – das sind nur einige Ihrer Projekte für Obdachlose: Müsste die Sozialpolitik nicht weg vom Gießkannenprinzip?
In der Sozialpolitik gibt es kein Gießkannenprinzip. Es geht um individuelle Hilfen für Menschen in schwierigen Lebenslagen. Und wir wissen auch, dass diese Hilfe nicht immer dort ankommt, wo sie hingehört. Deshalb gehen wir neue Wege, sei es zum Beispiel mit Housing First oder mit den Obdachlosenlotsen.
Die gesamtstädtische Steuerung steht schon im Koalitionsvertrag, im Sommer 2018 hat der Senat das Projekt beschlossen. Wieso wird es erst jetzt konkret?
Wir hatten nicht die technischen Voraussetzungen. Es war aufwendig, die neue Software zu entwickeln. Im Februar 2021 soll das Pilotprojekt mit vorerst fünf Unterkünften starten. In der nächsten Legislatur muss beschlossen werden, wo die zentrale Stelle angesiedelt wird. In Frage kommen das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, das Landesamt für Gesundheit und Soziales, unsere Senatsverwaltung oder eine ganz neue Behörde.
50.000 Menschen – hat die Stadt überhaupt so viele Unterkünfte?
Ja, Plätze sind ausreichend verfügbar. Aber die Pandemie sorgt in allen Bereichen, wo Menschen untergebracht werden, für Probleme. Oft leben zwei Personen in einem Zimmer. Und wenn da zwei Betten drinstehen, zwei Schränke, ein Tisch und zwei Stühle, dann können die Bewohner den Abstand kaum einhalten.
Was tun?
Wir müssen verstärkt so bauen, dass die Abstands- und Hygieneregeln eingehalten werden. Das heißt auch, dass wir für Geflüchtete und Wohnungslose Unterkünfte in Apartmentstruktur bauen müssen. In den Wohnheimen für Geflüchtete leben derzeit rund 20.000 Menschen, ein Großteil könnte eine Wohnung beziehen. Aber die gibt es nicht. Deswegen brauchen wir andere Formen, zum Beispiel Mikro-Apartments. Dann haben die Menschen eine Bleibe, in der sie dauerhaft wohnen können.
Schöne Idee – aber wo?
Der Senat hat etwa 100 Grundstücke für Wohlfahrtsverbände und Träger freigehalten, die selbst bauen wollen. Dabei geht es nicht allein um Obdachlose, sondern auch um andere soziale Gruppen. Das muss aber noch vom Abgeordnetenhaus abgesegnet werden.
Letzte Frage: Im Dezember gibt es den Parteitag der Linken, auf dem Klaus Lederer zum Spitzenkandidaten gekürt werden soll. Wo sehen Sie Ihre politische Zukunft?
Ich werde wieder kandidieren, alles Weitere wird man sehen.