Jahrestag der Attacke am Alexanderplatz: Wie der Tod von Jonny K. Berlin verändert hat
Vor einem Jahr starb Jonny K. in der Nähe des Alexanderplatzes. Seitdem hat sich vieles verändert. Doch eine Frage bleibt: Was tun gegen sinnlose Gewalt? Eine Bestandsaufnahme.
Wenn sie glaubt, er hat Durst, stellt sie ihm etwas zu trinken auf den Schrein. Eine Flasche Cola steht da nun. „Bruderherz“ ist auf dem Etikett zu lesen. Daneben ein Bild von Jonny K., Blumen – Erinnerungen an einen jungen Mann, der vor genau einem Jahr unweit des Alexanderplatzes, zwischen Fernsehturm und Rotem Rathaus zu Tode geprügelt wurde. Seine Schwester Tina K. hat ihm in ihrer Wohnung mit dem Schrein ein Denkmal gesetzt. Heute aber soll Jonny nicht nur dort präsent sein. Die ganze Stadt soll sein Gesicht sehen.
Am Morgen vor dem Jahrestag der Attacke auf ihren Bruder sitzt Tina K. in ihrer Küche. Die Haare hochgesteckt, graue Jogginghose, es gibt Kaffee. Es ist die Ruhe vor dem medialen Sturm, der nun wieder aufkommen wird. Kaum ein anderer Kriminalfall hat im vergangenen Jahr die Öffentlichkeit so aufgewühlt wie der Tod ihres damals 20-jährigen Bruders. Nicht nur in Berlin interessierte man sich plötzlich für die Schwester, die so eisern für das Andenken ihres Bruders kämpft. Anne Will, Markus Lanz, Frühstücksfernsehen. Kaum eine Talkshow bei der sie nicht war. Die meisten in Deutschland haben ihr Gesicht schon gesehen, die Geschichte ihres Bruders gehört, spätestens seit sie den Bambi für ihr Engagement gegen Gewalt bekommen hat. Auch dafür ist Platz auf dem Schrein.
Nachricht per SMS: "Jonnys Herz schlägt nicht mehr"
„Es ist krass, wie viele Leute ich kennengelernt habe im letzten Jahr“, sagt sie. Auf ihrem iPhone hat sie Bilder von Sandra Maischberger und Günther Jauch, Spieler der Eisbären tragen „Jonny K.“-Shirts. Der Modedesigner Wolfgang Joop hat ihr ein Gemälde mit dem Konterfei ihres Bruders geschenkt. Sie hätte nicht gedacht, dass sie all diese Leute treffen würde. Doch wenn sie zur Ruhe kommt, muss sie auch an die anderen Menschen denken, die sie lieber nicht getroffen hätte. Den Bestatter. Den Herrn im Krematorium. Die Ärzte, die ihr sagten, dass Jonny an den Blutungen in seinem Gehirn sterben würde. Wenn sie zur Ruhe kommt, denkt sie daran, wie sie damals in Zimmer 7 des Krankenhauses neben Jonnys Bett saß und noch Hoffnung hatte, weil die Sieben doch seine Glückszahl war. Früher als geplant wurde er in Zimmer 6 verlegt. Wenn sie zur Ruhe kommt, muss sie an die SMS denken, die Freunde ihr in der Nacht schrieben, als ihr Bruder attackiert wurde: „Jonnys Herz schlägt nicht mehr.“
Alexanderplatz wurde zum Symbol von Gewalt im öffentlichen Raum
Auch bei Michael Krömer klingelte in dieser Nacht das Handy. Krömer ist Leiter der Direktion City bei der Berliner Polizei. „In diesen schlimmen Fällen werde ich auch nachts angerufen“, sagt er. Der Fall habe auch erfahrende Kollegen erschüttert. Sechs Männer, die grundlos auf einen jungen Mann eintreten und schlagen. Mitten in Berlin. An einem der meist frequentierten Orte der Stadt. „Das vergisst man nicht.“ Krömer sitzt in einem Einsatzwagen der Polizei am Alexanderplatz. Jener „Mobilen Wache“, die nach der Attacke eingerichtet worden war, weil der Alexanderplatz zum Symbol für Gewalt im öffentlichen Raum geworden war. Weil die Polizei etwas tun musste, gegen das Gefühl der Unsicherheit, obwohl sie doch machtlos ist bei Verbrechen wie diesen, wie Krömer sagt: „Die Attacke auf Jonny K. war ein prägnantes Beispiel für Taten, die man letztlich nicht verhindern kann.“
Dass die Präventionsarbeit überprüft werden musste, das sei schnell klar gewesen. Mehr Streifen, mehr Zivilpolizisten. Zum Jahrestag wünschte sich Polizeipräsident Klaus Kandt noch mehr Uniformierte am Alexanderplatz. Ständig, auch nachts. Krömer ließ dafür einen Plan erarbeiten, der nun am 4. November in Kraft tritt. Dabei fällt der Alexanderplatz in der Statistik nicht einmal besonders auf. Seit Jonnys Tod ging die Zahl der Straftaten dort sogar leicht zurück. Krömer muss nun den anderen Abschnittsleitern im Bezirk Mitte erklären, warum nicht auch in Wedding und Moabit mehr Polizisten patrouillieren. Die Antwort ist so einfach wie ernüchternd. Weil etwa der Leopoldplatz nicht so im Blick der Öffentlichkeit ist.
Der Fall Jonny K. bewegte auch die Politik
Als Jonny K. starb, kam Justizsenator Thomas Heilmann in die Marienkirche. Innensenator Frank Henkel sprach persönlich sein Beileid aus. Angela Merkel sprach über den Fall mit dem türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan als es um die Auslieferung von Verdächtigen ging. Der Fall Jonny K. ist etwas Besonderes. Obwohl er kein Einzelfall ist.
Als vor kurzem Tina K.s kleine Schwester Jenny von einem Jugendlichen mit einem Messer bedroht wurde, traute sie sich erst nicht ihrer großen Schwester davon zu berichten. Als hätte der Vorfall alles zunichte gemacht, was sie im vergangenen Jahr versucht hatte, auf die Beine zu stellen. Der Verein „I am Jonny“, die Präventionsworkshops, die Tina K. an Schulen veranstaltete, das Konzert zu Jonnys Geburtstag im Admiralspalast, das ein Zeichen gegen Gewalt setzen sollte. Was hat es gebracht? Was kann es überhaupt bringen? „Ich weiß nur, dass man für Veränderung kämpfen muss“, sagt Tina K. Heute wird eine Gedenktafel für Jonny K. an jener Stelle eingelassen, wo er attackiert wurde. Damit niemand vergisst, dass es Veränderung braucht. Nur ein Symbol. So wie die 10 000 „I am Jonny“-T-Shirts die heute in der ganzen Stadt verteilt werden. „Vielleicht ist es das, was man in einem Jahr schaffen kann“, sagt Tina K.
Ihre Familie hat so gut es geht ins Leben zurück gefunden. Die Mutter räumt die Wohnung auf, während die neuesten Familienmitglieder über das Laminat flitzen. „Bee“ und „Jay“. Die beiden Katzen. Wie Beyoncé und Jay Z. Jonny K. hätte das gefallen. Er liebte Hip Hop.
Sidney Gennies