Talkshow-Auftritt bei "Anne Will": Schwester von Jonny K.: "Es fühlt sich nicht an, als ob er weg wäre"
Nur wenige Tage nach der Trauerfeier für Jonny K., der am Alexanderplatz zu Tode geprügelt wurde, meldet sich seine große Schwester bei "Anne Will" zu Wort. Sie bleibt stark, ist gut vorbereitet, doch zwischen den anderen Gästen gerät sie zur emotionalen Staffage für die Justizschelte.
Tina K. hat auf dem Sofa neben Anne Will Platz genommen. Sie lächelt, obwohl sie wahrscheinlich weiß, was gleich eine Stunde lang auf sie zukommt. Neben Tina, der Schwester von Jonny K., der Mitte Oktober am Alexanderplatz zu Tode geprügelt wurde, hat die "Anne Will"-Redaktion auch Sozialpädagogen, einen Richter und Politiker eingeladen. "Keine Gnade für die Opfer - was soll mit den Schlägern geschehen?", heißt das Thema und die Richtung ist klar: Eigentlich geht es wieder um die Täter.
Dabei ist Tina K. wegen ihres Bruders hier, von dem sie glaubt, dass er von irgendwoher noch immer auf sie herabsieht, beobachtet, was passiert, dass er stolz auf sie ist, wie sie alles regelt. "Ich war schon immer die große Schwester", sagt Tina. Es sind diese Momente, in denen ihr Lächeln echt wirkt, nicht gequält. Wenn sie sich an Jonny zurückerinnert. Ein Engel sei er. Auch jetzt noch. Ob er sich oft geprügelt habe, will Anne Will wissen. "Nie", sagt Tina knapp. "Er war immer positiv. Das war mein Bruder."
Das Andenken ihres Bruders ist ihr wichtig. Am Mittwoch, bei Anne Will im Studio, hat sie knapp zehn Minuten, um klarzumachen, dass es hier nicht um irgendeinen Menschen geht, dass es ihr Bruder ist, der tot ist. Dafür geht sie zurück in die Nacht, in der er starb. Er sei angstfrei durch Berlin gelaufen. "Das ist nicht New York hier.", habe er gedacht. Er sei zur Geburtstagsfeier eines gemeinsamen Freundes gefahren. Tina war auch eingeladen. Sie blieb stattdessen im Bett und schlief. Um 4 Uhr morgens bekommt sie eine SMS: "Jonnys Herz schlägt wieder." Da wusste sie noch nicht, dass er überhaupt angegriffen worden war. Dass sechs Schläger auf ihn eingeprügelt hatten, bis sein Herz stillstand.
Sie fährt ins Krankenhaus. Die Ärzte sagen ihr, dass es schlecht aussehe. Dass Jonny zu viel Blut verloren habe. Sie sei die letzte gewesen, sagt Tina, die Jonnys Hand gehalten habe.
Dann endlich sagt sie es: "Ich bin sauer. Und ich bin wütend, dass die Täter die Schuld so hin und her schieben." Aber was solle sie machen? "Dass die beiden Leute freigelassen wurden, kann ich nicht verstehen." Bei zwei der mutmaßlichen Schläger war der Haftbefehl ausgesetzt worden. Diese Entscheidung hatte in Berlin eine Debatte darüber ausgelöst, ob die Justiz den jungen Schlägern zu lasch entgegen tritt. Es ist das Stichwort für Anne Will, eben diese Diskussion in ihrer Sendung zu eröffnen, und es ist Tinas Rolle, diese Stichworte zu geben.
"Es fühlt sich nicht an, als ob er weg wäre"
Jugendrichter Andreas Müller beschwört den deutschen Rechtsstaat, der jeden einzelnen Täter beurteilen und eben nicht alle über einen Kamm scheren dürfe. Sozialarbeiter und Ex-Schläger Fadi Saad breitet fassungslos aus, dass die Aussetzung der Haft einem Freispruch gleichkomme. Tina schweigt. Ihr Gesicht ist emotionale Staffage für die immer gleiche Diskussion, die in Berlin in regelmäßigen Abständen geführt wird, über den Umgang mit jugendlichen Gewaltverbrechern. Die Kamera schwenkt nur ab und zu auf sie, als solle sie das Gesagte absegnen. Sie soll die Sicht der Opfer in dieser Runde repräsentieren und kommt doch kaum zu Wort.
"Ich werde eine Stiftung für Opfer gründen", darf sie am Schluss der Sendung noch sagen. "Ich versuche, Jonny damit unsterblich zu machen." Die Gäste im Studio finden das ganz großartig. Endlich kümmert sich mal jemand um die Opfer. Dabei hatten sie eines direkt in ihrer Mitte. "Meine Mutter zieht sich in ihre Religion zurück, mein Vater will seinen Tod nicht wahrhaben", sagt Tina. Ihre kleine Schwester habe noch gar nicht verstanden, was passiert sei. In der Zwischenzeit hat Tina die Trauerfeier für ihren Bruder organisiert. Der Druck lastet auf ihr, das sei okay. Vielleicht hat auch sie noch nicht verstanden, was passiert ist: "Es fühlt sich nicht an, als ob er weg wäre." Jonny sei der wichtigste Mensch in ihrem Leben gewesen.
So ist auch sie Opfer. Und wie so viele Opfer wird sie, obwohl im Fernsehen, im Fokus der Öffentlichkeit, von der Runde ignoriert. Wird über sie, statt mit ihr diskutiert. Vielleicht ist das die einzige Erkenntnis, die man aus der Sendung ziehen kann.
Sidney Gennies