Tina K.: Im Kampf gegen die Gewalt
„Ich bin nur ein normales Mädchen in einer unnormalen Situation“, sagt sie oft. Tina K. hat ihren Bruder Jonny verloren, der am Alexanderplatz getötet wurde. Seit Monaten kämpft sie für sein Andenken. Tritt in Schulen auf, hält Reden. Gegen Gewalt, gegen den Hass. Aber manchmal kommt doch Wut in ihr hoch.
Im roten Kleid tritt Tina K. auf die große Showbühne. Die langen schwarzen Haare sind zum Scheitel gekämmt. Millionen Augen sind auf sie gerichtet und auf ihre stark geschminkten Lippen. Einen Moment lang gehört das Publikum ihr, im Saal und vor dem Fernseher. „Danke“, bringt sie hervor und schaut auf das goldene Reh in ihrer Hand, den „Bambi“ für ihr Engagement gegen Gewalt. Ein Zeichen dafür, dass viele, viele Menschen mit ihr fühlen, sie unterstützen wollen.
Drei Monate ist das her. Jetzt denkt Tina K. wieder oft daran. Solche Erinnerungen hat sie gesammelt.
Seit ihr Bruder Jonny am 14. Oktober 2012 von sechs Männern am Alexanderplatz so schwer verprügelt wurde, dass die Ärzte ihn nicht mehr retten konnten, fahndeten Polizei und Justiz nach den Tätern, sammelten Beweise. Tina K. sammelte positive Gedanken. Um zu kitten, was eigentlich nicht mehr zu kitten ist. „In mir, da ist so viel kaputt gegangen“, sagt sie. Tina K. hat gelächelt, als ihr der „Bambi“ überreicht wurde. Sie lächelt, als sie am Buß- und Bettag in der Marienkirche in Mitte das erste Mal für den Gedenkverein „I am Jonny“ wirbt. Sie lächelt als sie mit Innensenator Frank Henkel über Gewalt unter Berliner Jugendlichen diskutiert. Tina K. lächelt eigentlich immer. Was zerbrochen ist in ihr, niemand sieht es und soll es auch nicht sehen. Sie sammelt Kraft.
Mittlerweile hat die Staatsanwaltschaft Anklage gegen sechs Männer erhoben, die mutmaßlich ihren Bruder töteten. Einer ist aus der Untersuchungshaft wieder entlassen worden. Einer hat sich in die Türkei abgesetzt und auch die türkische Staatsbürgerschaft angenommen. Für die deutschen Behörden ist er nicht mehr erreichbar. Ein weiterer stellte sich vor wenigen Tagen am Flughafen Tegel, auch er war im Ausland untergetaucht. Kein Mord, nur Körperverletzung mit Todesfolge und Teilnahme an einer Schlägerei wird ihnen vorgeworfen. Dass sie Jonny K. wirklich töten wollten, dafür gebe es keine Beweise.
Aber Jonny ist tot. Tina K. war nicht dabei, als er starb. Sie lag zu Hause im Bett, erzählt sie. Freunde riefen sie an, schluchzten ins Telefon.
Vollständig rekonstruieren lassen sich die Geschehnisse jener Nacht bisher nicht. Jonny, so erzählt es Tina, wollte einem Freund helfen, der in Streit mit den Tatverdächtigen geraten war. Darauf richtete sich die Aggression gegen ihn, der Vermittler wurde selbst zum Opfer. Nun wird in den kommenden Wochen im Prozess alles das genau beschrieben werden. Das lässt wenig Raum für Emotionen. Es reduziert Jonny K. auf jemanden, den die Öffentlichkeit meint zu kennen als den Jungen, der totgeschlagen wurde. Das kann Tina K. niemals akzeptieren.
In jener Nacht schickte ein Freund aus dem Krankenhaus noch eine SMS, die Tina K. hoffen ließ: „Jonnys Herz schlägt wieder“, stand darin. Doch Jonny verlor den Kampf.
Tina K. ist Nebenklägerin. Sie will sich alles anhören. Sie will den Tätern nicht als gebrochene Frau gegenübertreten, sondern ins Gesicht sehen, sagt sie. Eine „gerechte Strafe“ wünscht sie sich, sagt sie – doch welche Strafe ist schon gerecht für die Menschen, die ihr den Bruder genommen haben? Sie sagt es selbst: „Es wird für mich kein Abschluss sein. Jonny ist tot, und das kann ich nie vergessen.“
Tina K. hat Kontakt zur Staatsanwaltschaft, hat die Polizisten der Mordkommission getroffen. Beim Gedenkgottesdienst saß sie neben Berlins Justizsenator Thomas Heilmann, Innensenator Frank Henkel kam für einen Besuch zu ihr nach Hause.
Sie will den Tätern ins Gesicht sehen, aber sie will keine Rache
Sie will die Täter nicht hassen. Aber da ist auch diese Wut. Wut darüber, dass die Täter bis heute schweigen. Dass keiner sich verantwortlich fühlt für das, was ihrem Bruder geschehen ist. Tina K. hat den Zorn darauf nie offen gezeigt. Er passt nicht zu der Botschaft, die sie vermitteln will. Dass es cool ist, „jemanden in den Arm zu nehmen und ihm zu sagen, dass ich ihn lieb habe“, wie sie oft sagt. In die Kameras, oder auf der Bühne. Dort, wo man von Menschen erwartet, dass sie lächeln. Die Tränen, sagt Tina K., und das große Loch, in das sie fällt, kommen erst, wenn das Licht ausgeht und sie allein ist.
Deswegen darf das Licht nie ausgehen. Sie hat sich entschlossen, offensiv an die Öffentlichkeit zu gehen. Nicht um ihre Trauer zu teilen, sondern, um ihren Bruder nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Es hat etwas Trotziges, wie sie ihren Bruder unsterblich machen will.
Die Kampagne dazu beginnt an einem Sonntag im November. Da ist sie auf dem Weg zur Berlin-Brandenburg International School. Sie soll erstmals öffentlich eine Rede halten, vor 400 Schülern und der Hauptstadtpresse. Da hat sie noch keine Ahnung, wie sie das anstellen soll. Aber dafür ist ihre Freundin, die Soulsängerin Jocelyn B. Smith, dabei. Die steuert ihren schwarzen Audi in rasendem Tempo, denn sie sind spät dran. Auf der Rückbank sitzt wortlos Tina K., neben ihr drängen sich ihr Partner Kaze und die kleine Schwester Jenny. In der Hand hält Tina K. das Manuskript der Rede, die sie für die Schüler vorbereitet hat. Sie wird diese Rede so oder so ähnlich noch viele Male halten. Es ist der Auftakt zu einer großen Kampagne gegen Gewalt und im Andenken ihres Bruders.
„Ich habe ein komisches Gefühl“, flüstert die 28-Jährige. Jocelyn B. Smith schaltet das Radio aus. „Sag einfach ,hallo, wie geht’s?’, oder so. Die Kinder werden sich darüber freuen und dich mögen.“
Tina K. wird den Rat annehmen, als sie mit einiger Verspätung die Schule erreichen und Tina sofort auf die Bühne muss. Ihr Auftritt dauert nicht einmal zehn Minuten. Sie erzählt kurz von ihrem Bruder Jonny. Wie er mit Freunden in einem Klub unterm Fernsehturm feierte, wie die Gruppe später vor dem „Cancun“ unvermittelt angegriffen wurde. Dass sie nicht akzeptieren will, dass es kein Mittel gegen diese willkürliche Gewalt geben soll: „Mein Name ist Tina und I am Jonny“, sagt sie zum Abschluss.
Der Applaus gibt ihr Recht. Jeder könnte Jonny sein. Aber die Gäste spüren auch: Nicht jeder ist wie Tina.
„Sie fliegt hier ein wie ein bunter Schmetterling und reißt alle Aufmerksamkeit an sich“, sagt Karin Hövermann nach der Show. Sie ist Lehrerin der John-F.-Kennedy-Schule, die sich seit Jahren gegen Gewalt engagiere. Nun sind alle Kameras auf Tina gerichtet. Jocelyn B. Smith nimmt die Lehrerin zur Seite und redet beruhigend auf sie ein. Tina K. soll von der Missgunst nichts mitbekommen.
Sie steht etwas abseits und lächelt in die Kameras. Lächelt, um nicht weinen zu müssen, wie sie sagt. Der Journalistin vom RBB stehen die Tränen in den Augen, als sie Tina K. interviewt. „Hör auf“, sagt Tina K., „sonst muss ich auch heulen.“ Sie umarmt die Journalistin zum Abschied. So, als müsste die und nicht sie getröstet werden. So, wie sie überhaupt fast jeden umarmt, der sie anspricht, der sich für ihren Bruder oder den Verein „I am Jonny“ interessiert, den sie zu seinem Gedenken gegründet hat. Am Ende muss sie doch weinen. Manchmal sind die positiven Erinnerungen am schmerzhaftesten: Der DJ in der Schule spielt als letztes Lied „Gangnam Style“. Den charakteristischen Tanz dazu hatte Jonny seiner Schwester Tina K. am Vorabend seines Todes noch beigebracht.
Von überall kommen Anfragen für Interviews
„Ich bin nur ein normales Mädchen, in einer unnormalen Situation“, sagt sie oft. Aber normale Mädchen gehen nach einem solchen Schicksalsschlag nicht so offensiv an die Öffentlichkeit. Ganz Deutschland kennt mittlerweile Jonnys Geschichte. Dass er das Kind eines Deutschen und einer Thailänderin ist. Dass er gern Hip Hop hört, am liebsten Lil Wanye, Jay-Z und Kanye West. Ein normaler Schüler, der an der Oscar-Tietz-Schule sein Fachabitur machen wollte und nach dem Unterricht in seinem Arsenal-Trikot Fußball spielte. Oft mit Kollegen aus dem „12 Apostel“, wo er an der Bar arbeitete, um auf eigenen Beinen zu stehen. Tina K. war stolz auf ihr „Baby“, wie sie ihren Bruder nennt.
Anfragen für Interviews werden von überall an sie herangetragen. Von „Anne Will“ bei der ARD, vom Frühstücksfernsehen bei Sat1. „Es ist positiver Stress“, sagt sie. Jonny, da ist sie sicher, kann sie beobachten und wäre stolz auf sie. „Ich bin nicht allein damit“, erzählt sie und zündet an einem Abend im Dezember wie so oft schon die roten Grablichter an, die zu Hunderten in dem kleinen Pavillon brennen, an der Stelle, an der Jonny getötet wurde. Dort steht auch eine kleine Buddha-Statue, jemand hat sie gespendet.
„Am Wochenende“, sagt sie, „treffe ich mich immer noch mit Jonnys Freunden. Wir machen die Dinge, die wir früher getan haben. Karaoke singen zum Beispiel. Es gibt uns Kraft.“
Normalität ist, was sie damit zurückhaben möchte. Doch da ist nichts Normales mehr. Es sind kleine Situationen oder sogar Filmszenen, die sie aus der Bahn werfen. Wenn zu viel Gewalt, zu viel Blut im Spiel ist.
Eines hat sie erreicht. Ihr Bruder ist nicht vergessen. In ihrer Wohnung steht die goldene „Bambi“-Statue. Eine dieser Erinnerungen, die sie weitermachen lässt. Die es ihr erlaubt die gleiche Geschichte immer wieder zu erzählen. Mit ihrem Verein „I am Jonny“ dafür zu sorgen, dass weiter über Mobbing und Gewalt geredet wird. Auf der Straße lassen sich Mädchen mit ihr fotografieren, sie wollen T-Shirts mit dem Konterfei von Jonny. Tina ist Vorbild geworden. Sie weiß nicht, wie lange sie dieses Bild von sich noch aufrechterhalten kann. In der Nacht, als sie den „Bambi“ bekommt, schickt sie eine SMS: -.- “ Es ist die asiatische Version eines Smileys, die ausdrückt, dass sie ein bisschen beschämt ist.
Erschienen auf der Reportage-Seite.
Sidney Gennies