Nach Entweichungen aus JVA Plötzensee: Wie der offene Vollzug in Berlin funktioniert
Noch sind drei geflohene Häftlinge aus der JVA Plötzensee nicht gefasst. Ein Blick in die Statistik zeigt: Jedes Jahr entkommen Dutzende aus dem Berliner Strafvollzug.
Immerhin, jetzt fehlen in Berlins Justizvollzugsanstalten nur noch zwei Häftlinge aus dem offenen und einer aus dem geschlossenen Vollzug. Doch der Vorwurf, hier komme jeder raus, ist weiterhin häufig zu hören. Im offenen Vollzug stimmt das sogar: hier soll jeder Gefangene raus – zur Arbeit. Der offene Vollzug ist in Berlin dabei einerseits politisch gewünscht und andererseits der Regelvollzug.
Berlin ist stolz auf seinen liberalen Strafvollzug. Wäre der Steuerhinterzieher Uli Hoeneß ein Berliner, hätte er seine 3,5 Jahre Haft sofort im offenen Vollzug antreten können. In Bayern musste er die Strafe bekanntlich im normalen Knast antreten.
Im offenen Vollzug sitzen unterschiedliche Gefangene. In Plötzensee werden Ersatzfreiheitsstrafen verbüßt, also nicht bezahlte Geldstrafen. Oft sind das arme Schlucker, die nichts zu verlieren haben. Sie sind mehrfach beim Schwarzfahren oder beim Klauen erwischt worden und können die Geldstrafe nicht zahlen – eine sozial sehr schwierige, arbeitslose Klientel, wie es in der Justiz heißt.
Die Zahl der „Entweichungen“ ("Flucht" heißt es nur beim geschlossenem Vollzug) ist hier sehr hoch, wie die letzte Woche zeigte. Derzeit sind dort 89 Männer untergebracht, 2017 hauten 42 ab – etwa jeder zweite also. Die Sicherheit ist dort wesentlich geringer als in allen anderen Gefängnissen. Auch zwei Frauen kamen 2017 nicht in ihre Haftanstalt zurück.
Keine festen Schließzeiten im offenen Vollzug
In der „JVA des offenen Vollzugs“ sitzen in dieser Woche 658 Männer in vier verschiedenen Standorten, in je einem in Düppel und Reinickendorf und zweien in Spandau. Nur 20 von ihnen verschwanden im Jahr 2017, das hat einen einfachen Grund. Dort sitzen Menschen, die die Vorteile zu schätzen wissen. Entweder weil sie zuvor im geschlossenen Vollzug waren und nun den Rest ihrer Strafe als Freigänger verbüßen dürfen.
Oder eben Verurteilte, die ihre komplette Strafe im offenen Vollzug verbüßen dürfen. Wenige Wochen nach dem Urteil verschickt die Justiz an sie eine „Ladung zum Haftantritt“, mit der Bitte, „montags bis freitags zwischen 8 und 12 Uhr am Gefängnis zu klingeln“. Nach einer kurzen Eignungsprüfung (zwei bis vier Wochen unter Verschluss) darf der Gefangene seiner Arbeit nachgehen.
Feste Einschlusszeiten gibt es dabei nicht. Ein Bäckergeselle meldet sich morgens um 2 Uhr an der Pforte ab. Den Schlüssel seiner Zelle deponiert er im Schließfach, dem er dafür sein Mobiltelefon entnimmt. Die Pforte weiß, wann die Arbeit zu Ende ist, überzieht der Gefangene die Zeit, wird er angerufen – deshalb das Telefon. Oft sind es banale Gründe, ein Unfall oder eine S-Bahn-Panne. Auch ehrenamtliche Tätigkeiten draußen sind möglich, Arbeitslose finden Beschäftigung in der anstaltseigenen Gärtnerei.
Rechtsanwaltskammer spricht sich für offenen Vollzug aus
Ein Vorwurf wird immer wieder laut: Dass Gefangene zu schnell in den offenen Vollzug dürfen. Angesichts der vollen Gefängnisse (Auslastung bis zu 98 Prozent derzeit) wäre es für die Justiz attraktiv, in den nur zu 71 Prozent belegten offenen Vollzug abzuschieben. 2012 kritisierte die Vereinigung der Berliner Staatsanwälte, dass zu oft in den offenen Vollzug verlegt wird.
Der damalige Justizsenator Thomas Heilmann prüfte diese Praxis anhand der Akten von 250 Freigängern. Geändert hat sich an der Praxis dem Vernehmen nach nichts. Denn die geringe Missbrauchsquote im offenen Vollzug spricht dagegen. Die Rechtsanwaltskammer sprach sich am Donnerstag klar für diese liberale (und deutlich billigere) Art der Vollstreckung aus: „Die Allgemeinheit wird am besten durch eine Resozialisierung der Straftäter geschützt. Gerade der offene Vollzug gehöre dabei zu den wichtigsten Maßnahmen“, teilte Vizepräsidentin Vera Hofmann mit.
Ein Hotel ist der offene Vollzug dabei übrigens nicht. Vieles ist verboten: Telefone, Waffen, Werkzeuge, Computer, CDs, DVDs, natürlich Alkohol und andere „rauschverursachende Substanzen“, wie es in einem Merkblatt für neue Gefangene heißt.
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