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Die BVG meldete für 2016 rund 287.000 erwischte Schwarzfahrer.
© picture alliance / dpa

Überlastete Justiz in Berlin: Soll Schwarzfahren strafbar bleiben?

Die S-Bahn hat Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft als probates Mittel gegen Nichtzahler entdeckt. Dabei sehen Juristen das Delikt kritisch.

Schwarzfahren ist unfair und unsolidarisch. Schwarzfahrer nutzen ihre redlichen Mitpassagiere aus. Stimmt alles. Aber ist Schwarzfahren kriminell? Bislang ja, da sich der Begriff der Kriminalität an den Tatbeständen des Strafgesetzbuchs orientiert.

Hier steht mit Paragraf 265a das „Erschleichen von Leistungen“, das mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft werden kann. Die „Beförderung durch ein Verkehrsmittel“ gehört ausdrücklich dazu.

Aus politisch eher linken Kreisen ist die Forderung seit Jahrzehnten zu hören, das Delikt endlich zu streichen. Mit NRW-Justizminister Peter Biesenbach bekommt sie einen neuen politischen Hintergrund. Die CDU war Maßnahmen zur Entkriminalisierung bisher grundsätzlich abgeneigt.

Das bleibt sie auch. Gegenüber dem Tagesspiegel machte Biesenbach jedenfalls deutlich, dass er nur bei diesem Delikt Handlungsbedarf sehe. Der Minister spricht von einer einzelnen „Fehlentwicklung“ zulasten der Justizbehörden.

Die Deutsche Bahn, zu der die Berliner S-Bahn gehört, hat die Strafanzeige offenbar als probates Mittel gegen Nichtzahler entdeckt.

BVG und S-Bahn gehen nur gegen Mehrfachtäter vor

Während die Anzahl der „Fahrgäste ohne gültigen Fahrausweis“, wie die S-Bahn ihre Schwarzfahrer nennt, im Jahr 2016 gegenüber 2015 (340.000) um rund 10.000 gesunken ist und bis Ende September für 2017 nur bei knapp 200.000 lag, stieg die Zahl der Strafanzeigen um 15.000 auf aktuell 35.000.

Beide Unternehmen, BVG und S-Bahn, geben an, nur gegen Mehrfachtäter vorzugehen. Die BVG, die weit mehr Passagiere befördert und für 2016 rund 287.000 Fälle eines „erhöhten Beförderungsentgelts“ meldete, zeigt dagegen regelmäßig nur zwischen 11.000 und 12.000 Personen jährlich an.

Die mehr als 50.000 Strafanzeigen, die damit bei den Berliner Ermittlungsbehörden in diesem Jahr voraussichtlich bearbeitet werden müssen, geben der Diskussion weiteren Auftrieb. Der weit überwiegende Teil mag eine Formsache sein, Routine. Doch von der Feststellung der Personalien über die Anklage bis zum Strafbefehl werden Kräfte in der Justiz gebunden, die für die Bekämpfung schwerer Kriminalität aufgewendet werden könnten.

Trotzdem überwiegt Skepsis. Vielfach wird befürchtet, eine Entkriminalisierung könne als Anzeichen für ein erodierendes Rechtssystem verstanden werden, nach dem Motto: Der Staat hat kapituliert, demnächst werde dann auch noch der Ladendiebstahl freigegeben.

Der allgemeine politische Trend verläuft seit Langem in die Gegenrichtung. Immer mehr Taten finden sich als strafbare Handlungen im Gesetzbuch wieder, zuletzt das Gaffen am Unfallort, das jetzt als „Behinderung von hilfeleistenden Personen“ geahndet werden kann. Vorher war dergleichen „nur“ eine Ordnungswidrigkeit, bei der ein Bußgeld drohte.

Soll das etwa kein Betrug sein?

Im allgemeinen Rechtsverständnis werden Schwarzfahrer als eine Sorte Betrüger identifiziert, bei denen eine Kriminalstrafe unumgänglich sein soll. Schließlich ergaunert sich da einer einen Vorteil, für den man selbst bezahlen muss. Soll das etwa kein Betrug sein?

Nicht zuletzt: „Die abschreckende Wirkung einer drohenden Freiheitsstrafe als letzte Konsequenz ist absolut notwendig“, erklärte der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) in einer Reaktion auf den Biesenbach-Vorstoß, über den man sich „verwundert“ zeigte.

Verwundern darf indes auch die Beharrlichkeit, mit der die Täter verurteilt werden. Denn unter Juristen mehren sich die Stimmen, die die Anwendung des Tatbestands infrage stellen. Das strafrechtliche Verbot ist nach klassischem Verständnis die Ultima Ratio, das letzte Mittel zum Schutz von Leib, Leben, Vermögen und anderen hochrangigen Rechtsgütern. Die unberechtigte Inanspruchnahme einer Massenverkehrsleistung erscheint da als Bagatelle.

Ein genauer Blick auf den Tatbestand verweist auf ein weiteres Problem. Was strafbar ist, muss im Sinne rechtsstaatlicher Prinzipien genau bestimmt und vorhersehbar sein. Daher werden Strafgesetze eng ausgelegt. Strafbar soll laut Gesetz jedoch nur das „Erschleichen“ einer Leistung sein.

Kein Schwarzfahrer schleicht oder erschleicht sich etwas

Kein Schwarzfahrer schleicht oder erschleicht sich etwas; er tut, was alle oder die meisten tun. Er geht an den Ticketautomaten vorbei und setzt sich in die Bahn. Kein Trick, keine Täuschung, wie sie etwa bei Betrugsdelikten erforderlich wären. Die Abschaffung regelmäßiger Kontrollen hat zur Folge, dass es keinen Betrogenen gibt. Der frühere Richter am Bundesgerichtshof (BGH) Thomas Fischer, der den führenden Strafrechtskommentar herausgibt, bringt es auf den Punkt: „Wer telefoniert, in einen Bus einsteigt oder ein Kino betritt, ‚erschleicht‘ nicht.“

Der Bundesgerichtshof als letzte Instanz hält bislang dagegen. Zur Erfüllung des Tatbestands genüge, dass sich der Täter mit dem „Anschein der Ordnungsgemäßheit“ umgebe. Nur: Anschein bei wem? Kontrollpersonal gibt es regelmäßig keines mehr. Auf den Anschein bei den Mitpassagieren kommt es nicht an, sie haben mit dem Schwarzfahrer nichts zu schaffen.

Die Verkehrsunternehmen halten die Strafbarkeit noch aus einem anderen Grund für unentbehrlich. Bei einer Straftat hat jedermann das Recht , den anderen festzuhalten. Mit der Streichung des Delikts fiele auch diese Möglichkeit weg. „Eine Feststellung der Personalien vor Ort wäre damit so gut wie nicht mehr möglich. Das käme einem Freifahrtschein fürs Schwarzfahren gleich“, klagt der VDV. Ein durchaus relevantes Problem. Allein bei der BVG sind im ersten Halbjahr mehr als tausend mutmaßliche Schwarzfahrer einfach davongelaufen.

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