Leben auf der Straße: Wie andere Großstädte mit Obdachlosen umgehen
Nicht nur in Berlin nimmt die Obdachlosigkeit zu. Wie gehen Hamburg, Stuttgart, Köln und Frankfurt am Main mit dem Thema Wohnungslosigkeit um?
Hamburg
Mit 1,8 Millionen Einwohnern ist Hamburg halb so groß wie Berlin. Aber das menschliche Elend ist öffentlich erheblich weniger stark zu sehen als in der Hauptstadt. Jedenfalls, wenn man die Zahl der Obdachlosen als Maßstab nimmt. Genaue Zahlen gibt es weder für Berlin noch für Hamburg. Aber Schätzungen, laut denen in der Hansestadt 2000 Menschen unter freiem Himmel übernachten. In Berlin sollen es etwa fünfmal so viele sein
Marcel Schweitzer, Sprecher der Arbeits- und Sozialbehörde von Hamburg, sagt: „Die Stadt steuert bei diesem Thema.“ Steuern bedeutet, dass die Verwaltung aktiv versucht, die Zahl der Obdachlosen zu begrenzen. „Wir zeigen der Bevölkerung, dass wir uns um das Thema kümmern“, sagt Schweitzer. Im Klartext: Wer Anspruch auf umfassende Hilfe hat, bekommt sie. Wer sie nicht hat, der wird aufgeklärt – und motiviert, in seine Heimat zurückzureisen, wenn er aus einem EU-Land stammt und dort eine eigene Wohnung besitzt.
Hamburg führt seit einigen Jahren sogenannte Perspektivberatungen durch, allerdings ausschließlich beim Winter-Notprogramm. Dabei können vor allem EU-Bürger klären lassen, ob sie Leistungsansprüche in Deutschland haben. Kann ja sein, dass ein Arbeitgeber die entsprechenden Sozialleistungen nicht abgeführt hat. Dann hilft zum Beispiel die von der Stadt finanzierte „Servicestelle Arbeitnehmerfreizügigkeit“. 1235 Perspektivberatungen haben in den vergangenen zwei Monaten stattgefunden. Im Winter 2016/17 waren es insgesamt 2170.
„Die Abreise erfolgt meist innerhalb weniger Tage“
Doch auch Hamburg muss sich mit der zunehmenden Zahl osteuropäischer Menschen auseinandersetzen, die ohne berufliche Perspektive in die Stadt kommen. Wenn ihnen das Jobcenter oder das Sozialamt bescheinigt hat, dass sie weder Hartz IV noch Grundsicherung erhalten können und wenn die Betroffenen zu Hause eine Wohnung besitzen, sollen sie in ihre Heimat zurück. Hier greift eine bundesweite Regelung. Die Betroffenen bekommen vom Grundsicherungsamt ein Ticket für die Heimreise. Außerdem wird ihnen die Unterkunft bis zur Abreise gestellt. Lange dauert das Warten nicht. „Die Abreise erfolgt meist innerhalb weniger Tage“, sagt Schweitzer. 2017 seien es 521 Rückreisen gewesen.
Nur wie erfährt die Stadt zum Beispiel, dass ein Osteuropäer in seiner Heimat eine Wohnung hat? „Die Betroffenen sind in der Beratung sehr offen“, sagt Schweitzer. „Die erzählen das.“ Lügt doch einer und es ist nicht nachzuweisen, dann darf er in den beiden staatlichen Unterkünften des Winter-Notprogramms (WNP) unterkommen. Schweitzer gibt zu: „Das ist eine Lücke.“ Aber offenbar sei der Missbrauch nicht allzu groß. Die 760 Betten, die derzeit in den WNP-Unterkünften zur Verfügung stehen, seien nur zu 85 Prozent belegt.
„In der Szene spricht sich herum, dass die Stadt durchgreift“
Häufig weigern sich Menschen freilich, das Ticket für die Heimreise einzulösen. 116 Personen wurden in den vergangenen beiden Monaten zur Rückreise aufgefordert, 100 lehnten sie ab. Mit spürbaren Folgen: Sie dürfen nur noch in einer Wärmestube übernachten.
Wer im Freien nächtigt, stößt schnell an Grenzen. Es gibt nur wenige öffentlich geduldete Plätze für Obdachlose. Dort leben, seit vielen Jahren schon, vor allem Deutsche. Wer seinen Schlafsack in einem Park oder in anderen öffentlichen Grünanlagen ausbreitet, bekommt bald Besuch. Sozialarbeiter und Dolmetscher erklären dann im Auftrag des jeweiligen Bezirks, dass hier kein Platz zum Leben sei und kündigen eine Räumung an, die wenige Tage später bevorstehe. Und Camps werden ohnehin nirgends geduldet.
Niemand kann natürlich verhindern, dass die Obdachlosen nur ein paar Straßen weiterziehen. „Aber in der Szene spricht sich herum, dass die Stadt durchgreift“, sagt Schweitzer. „Die Tendenz geht deshalb eher dahin, dass sie in eine andere Stadt ziehen.“ Wenn sich in der Szene auch herumspricht, dass Berlin jedem Obdachlosen eine feste Unterkunft bieten will, egal, aus welchem Land er kommt und welchen Status er besitzt, dann ist auch klar, in welche Stadt sie ziehen werden.
77 Millionen Euro zur Abwendung von Wohnungslosigkeit
Die Hilfe, das ist auch das Hamburger Signal, gilt vor allem für Menschen, die sich einen Anspruch darauf über Arbeit erworben haben oder ihn von Geburt an besitzen. Neben den WNP-Gebäuden gibt es noch diverse Wohncontainer mit 113 Plätzen von Kirchengemeinden und weiteren Einrichtungen. Die Unterbringung in den staatlichen Gebäuden erfolgt in Einzel- und Mehrbettzimmern, es gibt auch für Frauen abgetrennte Bereiche sowie barrierefreie Zimmer. Zur Standardausstattung gehören außer Betten auch abschließbare Schränke für jede Person, um persönliche Sachen auch während der Tagesschließzeiten sicher verwahren zu können.
Nachdem die EU für Polen (2011) sowie Rumänien und Bulgarien (2014) Arbeitnehmer-Freizügigkeit beschlossen hat, musste Hamburg für das Winternotprogramm sukzessive mehr Betten zur Verfügung stellen. Doch für den Zeitraum 2017/18 waren keine neuen Betten nötig. Ergebnis der intensiven Perspektivberatungen, die dazu führten, dass viele Betroffene in ihre Heimat zurückkehrten oder in Wohnunterkünfte zogen.
Im vergangenen Winter sind rund 280 Obdachlose, die einen Leistungsanspruch besitzen, von der Straße geholt und in staatliche Unterkünfte gebracht worden. In den ersten beiden Monaten des diesjährigen Winternotprogramms ist das schon in 84 Fällen passiert. Darunter sind zwölf Osteuropäer mit Leistungsanspruch.
Derzeit bringt die Hansestadt rund 5400 Menschen in Gemeinschaftsunterkünften unter. Dazu kommen rund 25.000 Menschen ohne Wohnung, deren Asylantrag angenommen wurde. 2016 hat Hamburg knapp 77 Millionen Euro zur Abwendung von Wohnungslosigkeit und zum Thema Obdachlosigkeit ausgegeben. 2017 betrugen die Ausgaben rund 84 Millionen Euro.
Stuttgart
In Stuttgart leben 3929 Menschen in Angeboten der Wohnungs-Notfallhilfe, darunter 2102 in Sozialpensionen oder Fürsorgeunterkünften. Mit 1827 ist die Zahl der Plätze bei der Wohnungslosenhilfe (Wohnheime, betreute Wohngruppen, ambulant betreutes Wohnen), in den vergangenen Jahren konstant geblieben. Dagegen ist die Zahl der Menschen, die in Fürsorge- und Notunterkünften sowie in Pensionen untergebracht werden müssen, erheblich gestiegen: von 1789 (2010) auf 2102 (2017).
Die Zahl der klassischen Obdachlosen ist dagegen relativ gering mit 50 bis 80 Personen. Solange sie gegen keine Regeln und Gesetze verstoßen, bleiben sie unbehelligt. Es gibt keine Einsätze gegen sie. Und Camps wie in Berlin gibt es nicht.
Ganzjährig ist die zentrale Notübernachtung geöffnet (50 Plätze), zudem stehen in 15 Häusern 52 Notübernachtungsplätze zur Verfügung. Abmachungen mit anderen Ländern, ob EU-Mitglieder oder nicht, dass sie ihre Obdachlosen wieder aufnehmen, gibt es nicht. Dafür aber teilweise Gespräche mit konsularischen Vertretungen. Ein Rückkehrprogramm für Obdachlose hat Stuttgart nicht. Die Kosten für die Verhinderung von Obdach- und Wohnungslosigkeit betrugen 2016 rund 30 Millionen Euro.
Köln
Die soziale Not ist auch in der Domstadt größer geworden. 2011 gab es in Köln 3655 Menschen, die in Not- und Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden mussten, 2016 waren es schon 4871. Zu dieser Gruppe zählen auch rund 900 ehemalige Wohnungslose, die in Wohnheimen, betreuten Wohngruppen und einzeln betreut wohnen.
Unklar ist die Zahl der klassischen Obdachlosen. Die Stadt geht von rund 200 Personen aus. Sie werden toleriert, durch Streetworker angesprochen und über Hilfsangebote informiert. Die Stadt ist zwar bemüht, jedem Betroffenen eine bedarfsgerechte Unterkunftsmöglichkeit anzubieten, doch dieser Plan stößt an Grenzen. Einerseits gibt es nicht genügend Unterkünfte, andererseits weigern sich mitunter die Betroffenen, dort einzuziehen
Abmachungen mit Ländern, dass die ihre Obdachlosen wieder aufnehmen, gibt es auch in Köln nicht. Rückreisen in das jeweilige Heimatland werden nur in Einzelfällen organisiert.
Für Köln ist die Bekämpfung der Obdach- und Wohnungslosigkeit teuer geworden. 2016 zahlte die Stadt dafür 8,3 Millionen Euro. Das ist eine erhebliche Steigerung gegenüber den Vorjahren.
Frankfurt am Main
In Frankfurt am Main sind zurzeit 2700 wohnungslose Menschen in Wohnungen, Übergangsunterkünften und Hotels untergebracht. Außerdem leben 4770 Geflüchtete die Not-, Übergangsunterkünften, Wohnungen und Hotels. Im Winter ist jede Nacht der Kältebus unterwegs, versorgt die Menschen auf der Straße und zählt sie. Die Zahl der Personen, die das Team des Kältebusses antrifft, schwankt zwischen 100 und 220. Am Frankfurter Flughafen halten sich darüber hinaus nach Schätzungen bis zu 200 Personen an unterschiedlichen Tagen und zu unterschiedlichen Zeiten auf.
Die Stadt öffnet im Winter nachts die B-Ebene der Hauptwache, damit Menschen vor der Kälte geschützt sind. Die Schlafplätze außerhalb der Hauptwache werden in der Regel toleriert. Es gab aber auch Ausnahmen: Das Grünflächenamt zum Beispiel hat einen Zaun aufgestellt, um eine Grünanlage mit empfindlichen Pflanzen am Mainufer zu schützen. Im vergangenen Jahr wurde ein Privatgrundstück von der Stadt geräumt, um das sich der Eigentümer nicht kümmerte und auf dem sich bis zu drei Dutzend Menschen Hütten gebaut hatten. Zuvor hatte es einen Brand in einer der Hütten gegeben.
Menschen, die aus Osteuropa gekommen sind und in der Regel keine Ansprüche auf Transferleistungen haben, erhalten über die gesetzlich geregelte Überbrückungsleistung von vier Wochen hinaus nur ein humanitäres Angebot: Sie können sich in den Tagestreffs der Obdachlosenhilfe duschen, dort ihre Kleider waschen und sich aufwärmen. Außerdem können auch sie in der B-Ebene des Verkehrsbauwerks Hauptwache in einem geschützten Bereich schlafen. Dort stehen ihnen auch Toilettenanlagen zur Verfügung.
Überlegungen, diesem Personenkreis generell feste Unterkünfte anzubieten, bestehen nicht.
Abmachungen mit Ländern, dass die ihre Obdachlosen wieder aufnehmen, gibt es nicht. Menschen, die keine Ansprüche auf Leistungen zum Lebensunterhalt haben und in ihr Herkunftsland zurückreisen wollen, bekommen auf Wunsch das Ticket bezahlt und ein Reisegeld. Über diese Rückkehrhilfe hinaus gibt es kein Programm. Die Stadt hat 2016 rund 30 Millionen Euro für die Wohnungslosen- und Obdachlosenhilfe ausgegeben (ohne Flüchtlinge). Die Tendenz ist steigend.