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Im Berliner Regierungsviertel. „Und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus“, heißt es bei Jesaja im Alten Testament.
© dpa/Paul Zinken

Obdachlose in Berlin: Eine Bewährungsprobe für alle

Berlin, die coole, beliebte Metropole, wächst. Und unerbittlich wächst damit auch die Zahl der Obdachlosen. Eine Mahnung.

Alle Jahre wieder lauscht man der Weihnachtsgeschichte mit ihrer frohen Botschaft und klopft ihre Worte instinktiv ab auf ein Echo. Immer geschieht dies auch vor dem Hintergrund der emotional prägenden Ereignisse des sich neigenden Jahres, dessen Bilder sich zu Rückblicken aneinander fügen. Wieder treiben einem die meisten die Schamesröte ins Gesicht. Weil das Unrecht nicht weniger geworden ist auf Erden, weil Menschen leiden, denen nicht geholfen wird. Die Bilder des Elends erreichen uns in diesem Jahr noch einmal ganz anders. Sie rücken uns nahe wie nie, weil sie im Herzen der Stadt angekommen sind: in unseren Bahnhöfen und Zügen, den Bussen und Parks, vor den Geldautomaten und Supermärkten. 2017 ist das Jahr, in dem man vor der Obdachlosigkeit endgültig die Augen nicht mehr verschließen kann – eine Erfahrung, die beklommen macht.

Dass zur Geburt Jesu gerade kein Platz in der Herberge frei war, dass mit den Hirten die Außenseiter der Gesellschaft zu den ersten Zeugen einer neuen Zeit wurden, erscheint bei bis zu 30 000 Menschen ohne Wohnung allein in Berlin wie ein mildes Märchen. Bis zu 10 000 Menschen leben dauerhaft auf der Straße. Genaue Zahlen gibt es nicht, weil keine offizielle Statistik geführt wird. So kann jede Schätzung angegriffen werden, doch alle sind sie unerträglich hoch. Josef hatte als Handwerksmeister wahrscheinlich wenigstens eine abbezahlte Doppelhaushälfte in Nazareth stehen.

In Berlin hingegen halten sich auf den U-Bahnsteigen Menschen auf, die nur noch von stinkenden Lumpen zusammengehalten scheinen. Man kann versuchen, an ihnen vorbeizusehen, doch selbst dann riecht man noch, dass hier ein Leben zuschanden kommt. Vom Ekel und dem darauf folgenden Entsetzen über uns selbst gebannt, hoffen wir, solche Begegnungen nicht all zu oft zu erleben. Und darauf, dass irgendjemand Hilfe weiß. Der Weg ins Freie führt vorbei an der Fotokabine im Zwischengeschoss, die seit Monaten als Notdurftzelle dient. Eine Futterkrippe als Wiege? Was für ein Luxus!

Metropole des Lohndumpings

Nicht selten teilen bettelnde Obdachlose, sofern sie dazu noch in der Lage sind, für eine Spende Gottes Segen unter den erstarrten Mitreisenden aus. In einer Stadt, in der zumindest der christliche Glaube immer lockerer verankert ist, sind die Züge voller schwankender Heiliger. Wer je näher mit Obdachlosen zu tun hatte, weiß, dass sie ihre Legenden bewohnen wie die Bürgerlichen ihre Häuser und Wohnungen. Nur ein Mensch ohne Herzensbildung würde sie deshalb Lügner nennen. Es schmerzt zu sehen, wie sich einer, der gerade noch wegen etwas Geld für einen Schlafplatz die Fahrgäste segnete, die Treppen emporschleppt und dort von einem jungen Dealer ein Briefchen zugesteckt bekommt. Eine letzte Zuwendung, sicherer als ein warmes Bett. Für die Obdachlosen-Winterhilfe werden dieses Jahr bis zu 1100 Plätze für die Nacht hergerichtet. Selbst wenn es keine sibirische Kälte gibt: Auf Berlins Straßen werden auch diesen Winter Menschen an Unterkühlung sterben.

Sie sehen dann nicht viel anders aus als jener junge Mann, der nachts auf dem Gehsteig liegt, plötzlich aus seinem fragilen Leben gestürzt, regungslos auf dem schneenassen Pflaster. Wer einfach an ihm vorbeigeht, noch ganz vom Philharmonie-Besuch erfüllt, macht sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig. Die Scham über die eigene Hilflosigkeit kann kein Glas Rotwein tilgen. Zum Glück ist die Polizei gerade um die Ecke damit beschäftigt, die ordnungsgemäße Abschleppung eines Autos zu sichern.

Die beiden Beamten sind ebenso jung wie der Mann auf dem Boden, sie wuchten ihn hoch. Er spricht kein Deutsch, auch kein Englisch, seine Augen sind glasig, sein Rucksack ist leer. Die wenigen Silben, die er herausbringt, legen nahe, dass er aus Osteuropa stammt. Wie viele, die in die Stadt kommen, EU-Bürger auf der Suche nach Arbeit. Auf ihren Schultern gründet Berlin seinen Ruf als Metropole des Lohndumpings.

Berlin wächst, und seine Probleme wachsen mit

In der neuen, unübersehbaren Obdachlosigkeit vermischt sich alles schier unauflösbar und ohne Gnade. Die Freizügigkeit innerhalb der EU mit ihrem herben Wohlstandsgefälle, heimatlos gewordene Geflüchtete von jenseits des Mittelmeers, drohender sozialer Abstieg trotz Arbeit, drückende Wohnraumknappheit, die steigende Beliebtheit Berlins als Reise- und Lebensdestination – und die Furcht vor einer kalten Stadt, in der viele, die etwas zu entscheiden haben, schon lange nicht mehr am öffentlichen Nahverkehr teilnehmen. Aber selbst wer sich nur noch mit dem eigenen Auto von Tiefgarage zu Tiefgarage durch die Stadt bewegt, kann nicht umhin, die Veränderung wahrzunehmen. Auch die Auffahrten solcher Garagen dienen Obdachlosen als Zuflucht.

Im September schockierte die Nachricht, dass im Vorraum einer Bank mehrere Menschen über einen sterbenden Rentner hinweggestiegen sind, um an den Geldautomaten zu gelangen. Deutschland hat sein Sinnbild für Verrohung durch soziale Kälte gefunden, ein Gericht verhängte Geldstrafen. Dabei hat jeder, der Geld zieht, eine solche oder ähnliche Situation schon einmal erlebt. Auf den Granitböden zwischen den Geräten lagern Menschen, bei denen mitunter kaum ein eindeutiges Lebenszeichen auszumachen ist. Vor jedem Geldautomaten sind Kameras installiert, sie filmen Tag für Tag, wie wir über am Boden liegende Obdachlose hinweggehen, um an unser Geld zu kommen. Und man ahnt, der Satz von der Schere zwischen Arm und Reich, die immer weiter auseinanderklafft, er meint keineswegs nur andere.

Wenn Städte wachsen, droht zugleich ihr größtes Versprechen zu verblassen: dass sie ein Ort sind, der Arbeit und Wohnung bietet, Chancen für gesellschaftliche Teilhabe und Aufstieg. Berlin wächst, und seine Probleme wachsen unerbittlich mit. Ein grausames Spiel von Anziehung und Abstoßung findet mitten auf der Straße statt, vor aller Augen. Das ist nicht zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt so. Der Journalist Friedrich Sass streift 1846 für sein Buch „Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung“ durch die Stadt. Von 12 000 Obdachlosen berichtet er, bei einem jährlichen Bevölkerungswachstum von 10 000 Menschen an der Spree.

Dach über dem Kopf. Giottos „Geburt Christi“ in der Arena-Kapelle.
Dach über dem Kopf. Giottos „Geburt Christi“ in der Arena-Kapelle.
© Pinterest

Er beschreibt eine bürgerliche Gesellschaft, die sich mit Hilfe von Polizei, Nachtwächtern und Gendarmen jene vom Hals zu halten versucht, die Schutz suchen, „ermattet vom unsteten Irren und von der Kälte der Nacht, in irgendeinen Winkel der Straße hineingeklemmt, unter einer Colonnade, in einem leerstehenden Schilderhaus“. Sass attestiert dieser Berliner Gesellschaft, kaum noch den Unterschied zu kennen „zwischen der Armuth und dem Verbrechen“. Und beschreibt gleich danach, wie Investoren satte Gewinne machen mit dürftigsten Unterkünften für die Ärmsten. Berlins Aufstieg zur drittgrößten Stadt der Welt 1920 erzeugt eine Obdachlosigkeit von in Friedenszeiten bislang unbekannten Ausmaßen. Wohnungsknappheit, Bauspekulation und hohe Mieten bei zugleich gewaltigen Strömen neuer Bewohner verursachen ein soziales Erdbeben.

Niemand muss den Gestrauchelten dieser Gesellschaft böse Worte hinter her rufen. Man kann darauf verzichten, diesen Menschen zu erklären, dass sie selbst schuldig sind an ihrem Unglück. Man kann sie auch einfach in Ruhe lassen. Das wäre schon ein Fortschritt.

schreibt NutzerIn 2010ff

Am Kottbusser Tor entsteht aus Bretterbuden die sogenannte „Freistadt Barackia“, deren Bewohner vor allem vogelfrei sind. Selbst wer eine überteuerte Wohnung mieten kann, genießt kaum Schutz und lebt in der permanenten Angst, am nächsten „Ziehtag“ mit seiner Familie auf der Straße zu landen. Rückblickend hat sich das Jahr 2017 tüchtig daran besoffen, das Berlin der zwanziger Jahre zu feiern. „Ihr lebt die zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts!“, rief kürzlich ein Kulturmanager seinem tanzenden Partyvolk im ehemaligen Stummfilmkino Delphi zu. Zur Ausnüchterung war das nicht gedacht. Am Ausgang hätte man besser Spenden für die Obdachlosenhilfe gesammelt.

Das Grundgesetz garantiert die Unverletzlichkeit der Wohnung

Das Wort „Elend“ stammt vom mittelhochdeutschen „ellende“, was ursprünglich „fremd“ hieß, „verbannt“. Es fasst einen Zustand, in dem es keine schützende soziale Zugehörigkeit mehr gibt. Ein Gemeinwesen, das kein Obdach bieten kann, hört auf, eines zu sein.

Wer die öffentlichen Verkehrsmittel lieber nicht mehr nutzt, wird sich auch anderswo zurückziehen aus einem Raum, den er nicht mehr als den seinen begreift. Dabei wird vergessen, dass sich der Sozialstaat zur Unterbringung von Wohnungslosen verpflichtet hat, auch in Berlin. Und das unabhängig von nationaler Herkunft und Aufenthaltsrechten. Das Grundgesetz garantiert die Unverletzlichkeit der Wohnung. Dafür müssen auch ausreichend Unterkünfte geschaffen werden. Doch Hilflose kommen selten ohne Unterstützung zu ihrem Recht. Es reicht also nicht aus, sie einer überlasteten Bürokratie zu überlassen, in der Hoffnung, diese werde wenigstens abschreckend wirken.

Der Prophet Jesaja sieht sich den Klagen des Volkes Israel ausgesetzt, dass Gott ihm fernbleibe, obwohl es sich doch an die Fastenregeln hält. Im Alten Testament diktiert Gott ihm darauf diese Antwort: „Brich mit den Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus. Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“ Das ist keine frohe Botschaft, sondern eine Mahnung zur Mitmenschlichkeit, ohne die es keine Gemeinschaft geben kann. Man muss noch nicht einmal an Gott und das Kind in der Krippe glauben, um zu wissen: So lange Menschen leiden, hat sich die Verheißung von Weihnachten noch nicht erfüllt. Die neue Obdachlosigkeit stellt alle auf eine Bewährungsprobe.

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