Wohnungslosigkeit in Berlin: Wenn eine Familie ihr Zuhause verliert
Zwei Stunden hat sie Zeit, um das Wichtigste zu holen. Dann dürfen Anna Nowak und ihre drei Kinder nie wieder in ihre Wohnung. Eine Reportage.
Vier Tage vor Weihnachten darf sie noch einmal in ihre alte Wohnung. Das Glas in der Spüle hat einen Kaffeerand, das Brot im Korb ist verschimmelt, die dunkelroten Rosen auf dem Fensterbrett sind verwelkt. Es ist zehn Uhr morgens. Unten am Bordstein steht ein Umzugswagen.
Bis Punkt zwölf hat Anna Nowak Zeit, um ihr Leben auseinanderzuschrauben, es von der Wand zu nehmen, in Kartons zu packen, runterzutragen, mitzunehmen. Obwohl sie dort, wo sie jetzt schläft, gar keinen Platz für Möbel hat. Nicht einmal für Kartons.
Kurz schaut Anna Nowak zu, wie eine der beiden Frauen, die nebenan wohnen und ihr helfen, einen Packen Kinderpullover aus der Kommode nimmt und in einen blauen Müllsack stopft. Die andere wickelt einen Fußballpokal in Zeitungspapier. „Ist das nicht traurig?“, fragt sie.
Viele Wohnungslose sind gepflegt, normal gekleidet
Anna Nowak, die eigentlich anders heißt, aber unerkannt bleiben möchte, ist 39 Jahre alt und ganz in Schwarz gekleidet. Schwarzes T-Shirt, schwarze Leggins, schwarze Turnschuhe. Die Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, damit sie in der Eile nicht stören. Ihre Eltern und Freunde wissen nicht, was gerade geschieht. Auch nicht, dass sie hier vor drei Wochen mit ihren Kindern vor die Tür gesetzt wurde.
Bis Anfang Februar hat sie mit ihnen ein Zimmer in einer Notunterkunft in Reinickendorf. Was dann geschieht, weiß sie nicht.
Obdachlose, die in Schlafsäcken draußen auf dem Boden oder auf Bänken kauern, sind nur ein kleiner, der sichtbare Teil. Die weitaus größere Gruppe schläft in Not- und Gemeinschaftsunterkünften. Und es werden immer mehr. 2016 hat sich die Zahl in Berlin gegenüber dem Vorjahr fast verdoppelt – auf mehr als 30.000.
Im vergangenen Jahr, schätzt der Senat, waren es mindestens 50.000. Experten sagen, viele der Menschen sind gepflegt, normal gekleidet, man sieht ihnen die Wohnungslosigkeit nicht an. So ist es auch bei Anna Nowak.
"Das Allerschlimmste ist, dass ich mich so schäme"
Für das erste Treffen, in einem Café in Kreuzberg, kurz nach ihrem Rauswurf Ende November, hatte sich Anna Nowak zurechtgemacht. Sie hatte ihre langen blonden Haare glatt gekämmt, Make-up aufgelegt, ihre Wimpern getuscht und die Augenbrauen dunkel nachgemalt, sich die Nägel gefeilt und eine weiße Bluse besorgt.
Sie wollte nicht aussehen wie eine Frau, die kein Zuhause mehr hat. Die „am Arsch ist“, wie sie sagt. Heute hat Anna Nowak „keine Kraft“ gehabt, um sich zu schminken. Dass sie keine Kraft hat, sagt sie oft.
„Das Allerschlimmste ist, dass ich mich so sehr schäme“, sagt Anna Nowak. „Ich bin an all dem schuld. Ich habe versagt.“
Die Nachbarinnen und zwei Umzugshelfer tragen das beigefarbene Sofa, den Esstisch, das Bücherregal und die Fotoalben aus dem Wohnzimmer nach unten auf die Straße. Übrig bleibt eine Zimmerecke, die von einem hellbraunen Vorhang verhüllt ist.
Als Anna Nowak den Vorhang wegzieht, steht sie vor einem riesigen Tisch, darauf ein Berg von Zetteln, Briefen, Überweisungsträgern, Formularen, Einladungen, Prospekten mit Sonderangeboten und Kassenbons. Der versteckte Haufen ist anderthalb Meter hoch. Er ist die Erklärung für ihre Geschichte. Für die Kürzung der Gelder vom Jobcenter, die Schulden, die Räumung, die Obdachlosigkeit. Dafür, wie sie im vergangenen Jahr den Überblick verlor. Sich wortwörtlich verzettelt hat.
Das Erzählen tut ihr körperlich weh
Irgendwann, dachte sie, würde sie sich drum kümmern. Sie dachte, das funktioniert.
Doch das hat es nicht.
Wie es passieren konnte, dass sie mit ihren drei Kindern keine Wohnung mehr hat, sondern in einem kleinen Zimmer in einer Notunterkunft hockt, fällt ihr schwer, zu erklären. Wenn sie darüber spricht, beginnt sie zu weinen. Sie fasst sich an den Bauch. Das Erzählen tut ihr körperlich weh.
Viola Schröder kennt viele dieser Geschichten, die schwer zu glauben sind. „Oft hätte man eine Räumung abwenden können, wenn die Eltern sich Hilfe geholt hätten, aber die sind aus Angst und Scham völlig unfähig, zu reagieren.“
Viola Schröder leitet die erste Notübernachtungsstelle für Familien in Berlin, die im vergangenen September eröffnet wurde, weil immer mehr Familien in der Stadt bei den üblichen Anlaufstellen um Unterschlupf gebeten hätten. Wie viele es genau sind, könne niemand sagen. Niemand zählt sie. Gefühlt seien 60 Prozent EU-Bürger, oft aus Bulgarien oder Rumänien, und 40 Prozent Deutsche.
Unter ihnen war ein Polizist mit Kindern, ein Vater aus Bayern, der in Berlin neu anfangen wollte, aber keine Arbeit fand, eine Mutter mit einem Baby auf dem Arm. „Es kann schneller gehen, als man denkt“, sagt Viola Schröder.
Zwei bis drei Wochen können die Familien in der ständig voll belegten Einrichtung mit 30 Betten bleiben. Weil sich weitaus mehr melden, müssen Familien abgewiesen werden.
Sie hatten nur die Kleidung, die sie trugen
Kreuzberg, Wrangelstraße 12, erstes Geschoss: Die Zimmer sind schlicht eingerichtet. Hochbetten aus Holz, grüne Bettwäsche, ein kleiner Tisch, zwei Stühle, ein Schrank. Die Notübernachtungsstelle versteht sich als ein geschützter Ort, wo Familien unter Anleitung beginnen sollen, ihr Leben wieder in Ordnung zu bringen. Hier können sich die Eltern sortieren, Unterlagen bei den Ämtern besorgen, Anträge ausfüllen, eine Bleibe suchen. „Manche kommen mit Hunderten von losen Zetteln hierher“, sagt Schröder.
Die Kinder sollen währenddessen etwas Abstand zu den Sorgen ihrer Eltern bekommen. Neben zwei Sozialarbeiterinnen arbeiten hier zwei Integrationslotsinnen, die mit den Kindern backen, basteln oder malen. Dabei beobachten sie, ob es den Kleinen gut geht. Ob sie verwahrlost sind, dreckige Sachen tragen, unangenehm riechen.
Depression ist weit davon entfernt, eine gesellschaftlich verstandene, geschweige denn anerkannte Krankheit zu sein. Anstatt das die Gesellschaft den handlungsunfähigen Patienten aktiv hilft, werden sie angeprangert und ihnen ein sehr hilfreiches "selbst schuld" in die Schuhe geschoben.
schreibt NutzerIn Pressekritiker2
Viele der Familien werden von dort in ein Heim für wohnungslose Menschen vermittelt. So war es auch bei Anna Nowak, die mit ihren Kindern eine Nacht hier verbrachte. „Wir schlafen heute mal woanders“, sagte Anna Nowak, als sie ihre Söhne Alex und Bartosz von der Schule abholte und nach Kreuzberg fuhr. Paulina war an dem Tag krank, konnte nicht in die Kita. Als sie aus ihrer Wohnung sollten, hatte ihre Mama sie schnell zu den Nachbarinnen gebracht.
Was sie bei sich hatten, waren an jenem Novembertag nur ihre Rucksäcke und die Kleidung, die sie trugen. Nichts zum Wechseln, nichts zum Schlafen. An nichts hatte Anna Nowak, gelähmt wie sie war, gedacht. Sogar ihren Ausweis vergaß sie.
Paulia vermisst ihr Spielzeug, ihr Zimmer
Ein vernebelter Abend Anfang Januar. Aus der einen Nacht, in der sie woanders schlafen würden, sind mittlerweile 41 geworden. In ihrem Zimmer im Wohnheim in Reinickendorf steht ein Doppelbett aus Holz, in dem Mama und Paulina schlafen, und ein Hochbett für die Jungen.
Sie haben einen Kühlschrank, einen weißen Tisch mit vier Tellern, vier Tassen und Gläsern, zwei Plastikstühle und einen weißen Kleiderschrank. „Mama, ich nehme die mal eben mit“, sagt Bartosz und greift nach einer Toilettenpapierrolle. „Das ist das Demütigendste“, sagt seine Mutter. Mit der Rolle in der Hand über den Flur zu einer Toilettenkabine zu gehen. Die drei Kabinen, vier Duschen und die Küche teilen sich acht Familien.
Anna Nowak schaut Paulina an, die ihren geflochtenen Zopf um den Finger dreht.
„Geht’s dir hier gut?“
„Ja, guuuut.“
„Vermisst du unsere alte Wohnung?“
„Ja.“
„Was vermisst du?“
„Mein Spielzeug und mein Zimmer.“
„Was mochtest du daran am meisten?“
„Die rosa Tapete. Und da konnte ich alleine schlafen.“
„Geh mal nach deinen Brüdern gucken“, sagt Anna Nowak. Ihre Tochter soll nicht sehen, wie sie weint.
Die Träume ihrer Kinder waren zu viel
In Polen, wo sie am 7. Mai 1978 geboren wurde, geht Anna Nowak auf eine gute Schule, studiert Wirtschaftswissenschaften, arbeitet als Projektmanagerin. Sie verliebt sich. Erst in den Vater von Alex, 9, und Bartosz, 8, später in den Vater von Paulina, 4. Sie kommt für ihn nach Deutschland, aber während der Schwangerschaft trennt sie sich von ihm und zieht 2013 von Bautzen nach Berlin.
Als Paulina ein Jahr alt ist, geht sie wieder arbeiten. Soll bei einem großen Hotel die Prozesse optimieren. Doch sie kommt abends immer so spät nach Hause, bringt die Kinder nur ins Bett, hat das Gefühl, eine schlechte Mutter zu sein. Deswegen kündigt sie. Eine Pause, nur für ein paar Jahre. Denkt sie. Nur, bis die Kinder ein bisschen älter sind. „Und dann merkst du, dass du länger in Hartz IV bleibst als geplant.“
Zur Schule bringen, von der Schule abholen, Programmier-AG, Elternabende, vier Mal in der Woche haben Alex und Bartosz Fußballtraining, zwei Mal hat Paulina Breakdance. Am Wochenende sind Turniere und Kindergeburtstage. Anna Nowak versucht das zu schaffen, ohne irgendjemandem zu sagen, dass sie Hartz IV bekommt.
Ohne sich einzugestehen, dass sie sich die Träume ihrer Kinder nicht leisten kann. Die Vereinsgebühren, die Trikots, Fußbälle und Fahrten. „Ich habe mich nie als Sozialhilfeempfänger gesehen“, sagt sie. Und so wollte sie auch von niemandem gesehen werden.
Erstmal in die Ecke mit den Briefen
Im Frühjahr 2017 beginnen die Probleme. Nach drei Jahren endet die Familienhilfe des Jugendamtes, die sie nach der Trennung von Paulinas Vater als alleinerziehende Mutter in einer fremden Stadt beantragt hatte. Dabei hatte ihr eine Sozialpädagogin bei der Erziehung und im Haushalt geholfen.
Anna Nowak hat das Gefühl, ihr Leben ohne Unterstützung meistern zu können, aber im Juni kommt sie mit der Post nicht mehr hinterher, mit der Beantwortung von Briefen. Erst mal in die Ecke damit. Vorhang zu. Später wird sie nachschauen. In Ruhe.
Doch immer kommt etwas dazwischen. Und so nimmt sie erst jetzt, sieben Monate später, die vielen Zettel, Briefe und Formulare in die Hand und packt sie hastig in neun Kartons und Kisten. Verteilt das Chaos um.
Im vergangenen Juli schreibt ihr das Jobcenter, sie müsse zu einem Termin kommen, aber Anna Nowak ist krank und reicht das falsche Formular ein. Erste Sanktion. Die Gelder werden gekürzt. Sie beschwert sich, aber nicht korrekt. Kurz darauf soll sie kommen, aber kann nicht, weil eines der Kinder eine Lungenentzündung habe. Zweite Sanktion.
Die Gelder werden auf das Minimum gekürzt. Lagen bei „irgendwas mit 200 Euro“, wie sie meint, sich zu erinnern. Sie hat Angst vor dem Mitarbeiter im Jobcenter. Will da nicht mehr hin und hören, was sie alles falsch macht. Sie ignoriert seine Vorladungen.
"Du vergisst Sachen, verpasst Termine"
„Weißt du, wenn man fit ist, dann schafft man das alles. Aber wenn du überfordert bist, vergisst du Sachen, liest nicht richtig, verpasst Termine“, erzählt sie auf gutem Deutsch, wischt sich mit dem Ärmel die verlaufene Mascara unter dem Auge weg, „und mit jeder Niederlage wirst du schwächer.“
Im Nachhinein erkennt sie, dass ihr der Antrieb auch fehlte, weil sie krank wurde. Depressiv. Anna Nowak will eine Therapie machen, notfalls Medikamente nehmen, um die Energie, die sie so dringend braucht, wiederzubekommen.
Im August 2017 kann Anna Nowak die Miete nicht mehr bezahlen. Auch nicht im September, Oktober und November. Raten lehnt die Hausverwaltung ab. An wen sie sich wenden kann, weiß sie nicht. Mitte November liegt die Räumungsklage im Briefkasten. Zwei Wochen später stehen fünf Männer vor ihrer Tür, wechseln das Schloss aus, geben ihr zwanzig Minuten Zeit, um zu gehen.
Man könnte sagen: Wie schwer ist es, Briefe pünktlich zu beantworten und zu Terminen zu erscheinen? Andersherum: Was muss geschehen, um an solch einfachen Dingen zu verzweifeln?
Am Anfang haben ihre Kinder oft gesagt: „Mama, wir vermissen unsere alte Wohnung so. Wann können wir zurück?“ Paulina wollte ihr Kuschelkissen mit dem Eichhörnchen haben, das nach ihr roch, nach zu Hause, die Jungen ihre Fußballschuhe. „Mama wird das alles klären“, sagte sie dann. Mittlerweile fragen die Kleinen kaum noch, ob sie hierbleiben oder woanders hinziehen, ob sie im Verein bleiben können, die Schule wechseln müssen, weil ihre Mama dann so traurig wird und den ganzen Tag im Bett liegt.
Nie ist es vor Mitternacht mal ruhig
In den ersten Nächten kann Anna Nowak nicht schlafen, die Wände sind dünn. Zwei Männer nebenan würfeln die ganze Nacht. Gerade rennen Kinder durch den Flur, kreischen, machen Musik an. „Ey, du kriegst gleich eine auf die Fresse!“, ruft einer. Eine Tür wird zugeknallt. Manchmal schlägt ein Mann seine Frau. Erst heult sie, dann er. „Hier ist es nie vor Mitternacht ruhig“, sagt Anna Nowak.
Alex gähnt. Er und seine Geschwister wachen nachts oft auf, haben Albträume, weil die Kinder aus Syrien ihnen Grausames vom Krieg erzählt haben. Paulina macht, seitdem sie hier sind, wieder in die Hose. Bartosz schaut auf die Uhr und sagt: „Mama, es ist acht Uhr, wir müssen jetzt schlafen.“ Er weiß, sonst fallen ihm im Unterricht wieder fast die Augen zu.
Früher haben Alex und Bartosz ihre Hausaufgaben immer in der Schule schon fertig gemacht. Heute sind sie oft zu erschöpft, erledigen die Arbeit hier auf dem dunkelbraunen Fußboden. Auf dem einen Tisch, den sie haben, stehen ja das Geschirr und die Zahnbürsten in einem Becher. Wenn die Jungen besonders still sind, weiß ihre Mama, sie wurden wieder geärgert. Wie vor einigen Tagen, als ein Mitschüler Bartosz auslachte, weil er immer die gleichen Sachen trägt.
Senat verdoppelt Ausgaben für Wohnungslosenhilfe
Vom Jugendamt heißt es: Kinder werden nicht automatisch aus der Familie genommen, wenn Obdachlosigkeit droht oder eingetreten ist. Die Behörden prüfen den Einzelfall. Viola Schröder, die eng mit dem Jugendamt zusammenarbeitet, erklärt, dass es nur dann so weit kommt, wenn andere schwerwiegende Probleme hinzukämen – wie eine Suchterkrankung oder Missbrauch.
„Wer seine Wohnung verliert, muss noch lange keine schlechte Mutter sein“, sagt sie. Bislang hatten sie nur einen Fall, in dem das Jugendamt ein Kind in seine Obhut nahm. Der Vater war völlig verwirrt und wollte sich selbst in die Psychiatrie einweisen.
Weil in Berlin immer mehr Menschen ohne Wohnung sind, haben sich vor einer Woche zum ersten Mal 200 Experten von den Bezirken, Senatsverwaltungen und Hilfsorganisationen zu einer Strategiekonferenz getroffen. „Vor ein paar Jahren war der Obdachlose noch der deutsche Mann zwischen 35 und 55“, sagte die Sozialsenatorin Elke Breitenbach von der Linken. „Jetzt sehen wir viel mehr Frauen, mehr Familien.“ Wie viele es sind, wie viel mehr als vor ein paar Jahren, weiß sie nicht.
Der Senat verdoppelt nach eigenen Angaben in diesem Jahr seine Ausgaben für Projekte der Wohnungslosenhilfe auf rund 8,1 Millionen Euro. Damit sollen Plätze in Notunterkünften für Frauen und Familien finanziert werden, obwohl die Senatsverwaltung für Soziales gar nicht weiß, wie viel Kapazität es in Berlin überhaupt schon gibt. Da müsste man bei jedem Bezirk mal nachfragen.
Eine Obdachlosenstatistik soll es bald geben, und mehr Geld für die Bezirke, damit diese Zwangsräumungen von Familien künftig verhindern können. Jeder Obdachlose soll eine feste Unterkunft bekommen. Das ist das Ziel. Angesichts viel zu weniger Sozialwohnungen allerdings ein illusorisches. Überlegt wird deshalb, für Flüchtlinge errichtete Wohncontainer auch zur Unterbringung von Wohnungslosen zu nutzen. Für eine Übergangsphase.
Keine Anschaffungen. Es soll ja nicht von Dauer sein
Eine Übergangsphase, das soll auch dieses Zimmer sein, in dem Anna Nowak sitzt und das sie nur mit Anführungszeichen als ihr Zuhause bezeichnet. Ein richtiges Zuhause haben, heißt für sie, dass der Name an Klingelschild und Briefkasten steht. Kochen und backen zu können. Vergangenen Sonntag wollte sie Pfannkuchen machen, aber weil sie keine Rührschüssel und keinen Mixer hat, ist sie zu ihren ehemaligen Nachbarinnen gefahren und hat den Teig dort zubereitet. Küchengeräte will sie sich nicht anschaffen. Es soll hier ja nicht von Dauer sein.
Zu Hause sein heißt für sie, auf dem Sofa liegen, entspannen, einen Film gucken, während die Kinder in ihrem Zimmer spielen. Hier sind die vier immer beieinander. Tag und Nacht. „Ich bin froh, wenn sie mal auf dem Flur sind, aber ich kenne die Menschen hier nicht und mache mir dann Sorgen“, sagt sie. „Aber ständig mit den Kindern zusammen sein – da kriege ich eine Macke.“
Ihre Möbel und Kartons hat Anna Nowak in einen Kellerraum gebracht. Die monatliche Miete dafür beträgt 250 Euro. Vom Jobcenter bekommt sie nach der Verrechnung von Kindergeld und Unterhaltsvorschuss aber nur 288 Euro und die 25 Euro pro Tag für das Zimmer. Wie sie den Lagerraum bezahlen will, neben Lebensmitteln, Kleidung, Hort, Kita, Vereinsgebühren?
Weiß sie nicht.
Sie überzieht das Konto ein bisschen, leiht sich was von „Bekannten“. Von den Vätern ihrer Kinder bekommt sie nichts, von ihren Eltern möchte sie kein Geld. Zu peinlich. Wie hoch ihre Schulden sind? „4000 Euro vielleicht, plus Räumungskosten, plus was weiß ich“, sagt sie.
Ihr eigenes Leben ist ihr zuwider geworden
Ob sie, wie sie es vorhatte, die Kartons mit den vielen Zetteln und Briefen schon durchgesehen hat? Nein, will sie noch. Was sie im Februar macht? Wird sich in diesem Monat ergeben. Sie könnte noch eine Weile bleiben, aber das möchte sie nicht. Manche Familien sind schon ein Jahr hier.
„Ich schaffe es nicht, über all das nachzudenken, ich schaffe es nicht“, sagt sie und hält sich die Augen zu. „Ich bin ein hoffnungsloser Fall.“
Ihren Eltern in Polen hat sie erzählt, dass sie mit den Kindern gerade in einem Zimmer lebt, aber nicht, dass sie das nur bis Ende des Monats haben. Zu Freunden, in die Schule, zum Training und zu den Turnieren der Jungen geht sie nicht mehr, weil sie nicht mehr so tun kann, als sei alles gut. „Ich gehöre jetzt zu anderen Menschen. Ich gehöre jetzt zu denen, die zur Obdachlosenhilfe und zur Tafel gehen“, sagt sie.
Zur Tafel kann sie einmal im Monat. „Mir wird schlecht, wenn ich darüber nachdenke. Es ist so erniedrigend.“ Sie kriegt dort eine Wäscheklammer mit einer Nummer, stellt sich in eine Reihe von traurig blickenden Gesichtern, sagt, dass sie drei Kinder hat und wie viel sie braucht. „Das letzte Mal habe ich zwei Joghurts bekommen, vier Eier und ein Viertelstück Butter.“ Danach verkriecht sie sich im Bett.
Hat Anna Nowak im November nach der Räumung noch gesagt, „ich werde das schaffen“, sagt sie im Januar, sie habe keinen Plan. Keine Lösung. „Ich habe Angst, mit meinen Mietschulden nie wieder eine Wohnung zu bekommen“, sagt sie und schaut an die Wand zum Bild vom Heiligen Antonius, dem Schutzpatron der verlorenen Seelen. „Ich habe Angst, nie wieder ein glückliches, ein nicht asoziales Leben zu haben, weißt du? Ich habe den Glauben daran verloren.“
Ihr Leben ist ihr zuwider geworden. „Man nimmt keine Drogen, trinkt nicht, und trotzdem landet man ganz unten.“ Nur noch Schulden, Tafel und Heim. Nur noch bitten und betteln.
„Aber sag, bin ich so wertlos?“
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