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Ricardo lange arbeitet auf einer Berliner Intensivstation als Pflegekraft.
© Doris Spiekermann-Klaas

Der normale Wahnsinn auf der Intensivstation: Wenn die Reanimation Stunden dauert

Gebrochene Rippen, spritzendes Blut und ein rettender Rhythmus - Intensivpfleger Ricardo Lange über den Versuch, Menschen zurück ins Leben zu holen.

Ricardo Lange, 38, ist Intensivpfleger in Berlin. Hier berichtet er jede Woche von Schichten an der Corona-Front, Provisorien und Hoffnungsschimmern.

Auf meiner Station liegen derzeit sehr wenige Corona-Patienten. Deshalb will ich die Chance nutzen und davon erzählen, wie unser Alltag jenseits der Pandemie aussieht.

Wenn Leute an Intensivstationen denken, fallen ihnen häufig Bilder von spektakulären Reanimationen aus Filmen ein. In Wirklichkeit läuft das oft ein wenig anders ab.

In einem meiner letzten Nachtdienste hatten wir wieder eine solche Rea, wie wir das auf der Station nennen.

Nicht selten habe ich als Pflegekraft vorher ein Bauchgefühl, dass etwas mit dem Patienten nicht stimmt. Manchmal sind es begründete Anzeichen wie ein stark fallender Blutdruck, Luftnot oder ein zu schnell schlagendes Herz, das nicht mehr vollständig kontrahiert, also nicht mehr ausreichend Blut in den Kreislauf pumpt.

Ab und an kann ich es auch nicht erklären – es ist einfach das Gefühl, dass gleich etwas Schlimmes passiert.

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Bleibt irgendwo ein Herz stehen, schrillt der Alarm am Patientenmonitor extrem laut. Jetzt muss alles schnell gehen.

Ich rufe ärztliche und pflegerische Hilfe ins Zimmer: „Rea in Zimmer acht!“ Während ich das Bett flach stelle und mit der Herzdruckmassage beginne, kommen die Kollegen mit dem Rea-Wagen ins Zimmer. Darauf befinden sich alle Notfallmedikamente, wie zum Beispiel Adrenalin und ein Defibrillator.

Herzmassage zu "Stayin'Alive"

Bei der Herzdruckmassage lege ich beide Hände übereinander auf die Mitte des Brustkorbs, das sogenannte Sternum, und drücke das Brustbein 100 - 120 Mal pro Minute etwa fünf, sechs Zentimeter nach unten. Das entspricht ungefähr dem Rhythmus des Refrains von „Stayin’ Alive“ der Bee Gees.

So haben wir das in der Ausbildung gelernt. Ich denke inzwischen nicht mehr an den Song, sondern habe ein Gespür fürs richtige Tempo entwickelt. Am Monitor sehe ich, dass der erloschene Blutdruck wieder steigt und weiß, dass ich es richtig mache.

[Die anderen Folgen der Kolumne "Außer Atem" mit Ricardo Lange lesen Sie hier, hier, hier, hier und hier]

Bei sehr übergewichtigen Patienten kann das anstrengend werden. Ich wechsle mich ohnehin immer mit einem Kollegen ab, der mir gegenübersteht, sodass es durch den Wechsel zu keiner Pause kommt.

Neulich habe ich zum ersten Mal gesehen, wie ein Gerät diese Aufgabe übernimmt, der sogenannte Lucas. Das sieht brutal aus, ist aber hilfreich, wenn die Reanimation Stunden dauert.

Rippen können sich in die Lunge bohren

Oft kommt es vor, dass durch die starke Kompression Rippen laut hörbar brechen, der Brustkorb fühlt sich beim Drücken dann weicher an.

Die gebrochenen Rippen können sich in die Lunge bohren – deshalb röntgen wir nach jeder Reanimation. So schlimm sich das anhört: Wir nehmen diese Verletzungen in Kauf, wenn es uns dadurch gelingt, einen Menschen zurück ins Leben zu holen.

An den Anblick, wie der blasse, leblose Körper während der Massage unter mir wackelt und die Augen des Patienten an die Decke starren, werde ich mich nie richtig gewöhnen. Einmal legte ein Arzt einen arteriellen Zugang in die Leiste, während ich das Herz massierte – da spritzte ziemlich viel Blut übers Bett.

Gezielte Stromstöße

Der Arzt ordnet während einer Reanimation immer wieder mal kurze Pausen an, um feststellen zu können, ob der Patient wieder einen eigenen Blutdruck hat.

Ist auf dem EKG noch eine elektrische Aktivität des Herzens erkennbar, kommt der Defibrillator zum Einsatz: Wir kleben zwei sogenannte Paddles auf den Oberkörper, der Arzt sagt: „Alle weg vom Bett“, dann kriegt der Patient einen gezielten Stromstoß, der das Herz wie bei einem Computerneustart resettet.

Wir hoffen, dass es danach wieder im Sinusrhythmus schlägt.

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Schockt das Gerät den Patienten, zuckt sein Körper kurz und heftig. Wenn der Arzt es anordnet, spritzen wir das Medikament Adrenalin – aber eben nicht wie in den Filmen dramatisch direkt in den Brustkorb, sondern geregelt über einen Zugang.

Übungen an High-Tech-Puppen

All diese Schritte üben wir regelmäßig in Fortbildungen an High-Tech-Puppen, die mit einem Puls und Herzschlag ausgestattet sind. Wir werden dabei gefilmt und analysieren hinterher gemeinsam, was verbessert werden kann.

Die Reanimation aus jener Nacht war leider nicht erfolgreich. Aber auch, wenn sie geglückt wäre: Es kann immer passieren, dass durch zu langen Sauerstoffmangel ein Hirnschaden entsteht.

In jedem Fall muss der Arzt entscheiden, wann er mit den Wiederbelebungsmaßnahmen aufhören will. Ich bin froh, dass ich solche Entscheidungen nicht treffen muss.

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