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Ort der Erinnerungen: Der "Goldene Hahn" in Kreuzberg.
© Kitty Kleist-Heinrich

Tag der Arbeit und Myfest in Berlin: Was Kreuzberger Urgesteine vom 1. Mai halten

Am 1. Mai wird Kreuzberg jährlich zum Anlaufpunkt für Feierwütige, Krawallmacher und Polizeihundertschaften. Wie geht es denen, die hier leben?

Wer von der Straße aus der Frühlingssonne in die Eckkneipe am Kreuzberger Heinrichplatz tritt, bleibt im Türrahmen stehen. Der Geruch von jahrzehntealtem Rauch klebt hier an den Wänden. Und am Tresen kleben die Trinker. Ihre Augen sind glasig, ihre Haut vergilbt.

Ein Schild hinter der Theke warnt die Anwesenden: „Gäste, die trinken um zu vergessen, werden gebeten vorher zu bezahlen.“ Und die Warnung kommt wohl nicht von ungefähr. Denn manch einer hat sich hier schon um den Verstand und auch sein Leben gesoffen.

„Wenn ich an die Stammkundschaft von früher denke – die Hälfte ist tot“, sagt Hans-Jürgen Hillmann, den alle nur „Hille“ nennen. Freundliches Gesicht und graue Haare, ein ordentlicher Typ, der einen Lebensmittelladen in der Oranienstraße hat und ein paar Häuser weiter wohnt.

„Ich glaub, hier wird genau so viel gestorben wie überall“, meint Wolfgang Müller, der als Mitbegründer des Künstlerkollektivs „Die tödliche Doris“ weltweite Erfolge feierte. Wolfgang hat die Haare kurz, trägt Hemd unter Kapuzenpulli unter Bomberjacke, er hat sich gut gehalten. „Doch, doch, alle tot“, pflichten Beatrice, die ihren vollen Namen nicht preisgeben möchte, und Erik Steffen bei. Ihnen sieht man an, dass es das Leben nicht immer ganz so gut mit ihnen meinte.

"Wir haben ja alle keine Familie in Berlin, deshalb sind wir ja hier"

Erik ist so was wie ein Kreuzberger Chronist, auch wenn er mittlerweile „gentrifiziert in Lichtenberg unterwegs“ ist. Wenn es ihm gutgeht, schreibt er Nachrufe für all die Freunde, die es nicht gepackt haben. Drogen, Alkohol, die Schicksale ähneln sich und wer sie liest, versteht, dass auch Erik einer von ihnen ist. Beatrice wird von Freunden Bea genannt. Sie lebte in der Wagenburg, zog ein Mädchen groß und war eine Zeit beim Kreuzberger Quartiersrat.

Erik sagte einmal: „Wir haben ja alle keine Familie in Berlin, deshalb sind wir ja hier.“ Und dann sucht man sich eben so eine Art Ersatz. Er fand sie im goldenen Hahn, in Beatrice, in Wolfgang, Hille und all den anderen. Dass sie so beieinandersitzen wie heute, kommt nicht mehr oft vor. Wolfgang ist viel unterwegs, Hille bei der Familie, das Leben tickt nicht mehr wie damals.

Heute aber sitzen sie am Kneipentisch mit der klebrigen Plastikdecke; trinken Kaffee, Wein, Schorle. Und erinnern sich: „Erster Mai? War ich schon lange nicht mehr“, sagt Beatrice. Nicht auf dem Myfest, auch nicht bei den Autonomen. Sympathien haben sie aber noch immer, das schon. Auch wenn sie nie selbst Steine geworfen haben. Man sei „mehr teilnehmende Beobachter“ gewesen, sagt Erik.

Hille glaubt: „Den ersten Mai, wie er früher einmal war, gibt es nicht mehr. Der Anlass wurde aufgegriffen, mit anderem Sinn gefüllt und das gibt’s jetzt in Endlosschleife.“ Mehr Partymeile als Protest – ein Rummel für Erwachsene, nur ohne Karussell. Auch Wolfgang ist es zu viel Entertainment, zu viel Kommerz. „Mehr als eine Bulette am Tag pack ich nicht.“ Kultur, Diskussionen über soziale Themen, solche Sachen interessieren Wolfgang, vielleicht ein klassisches Konzert. Aber das findet er nicht.

Erik fehlt der Fokus: „Man kann gegen den Staat sein und gegen Rassismus. Aber sich schon vor der Demo die Köppe einhauen?“, sagt er. Und zieht an seiner Zigarette. Selbst gedreht, ohne Filter natürlich. „Und im Alter kann man ja auch nicht mehr so gut rennen.“

„Wenn die Leute ihre Angst verlieren, ist vieles möglich“

Hille mischt sich ein: „Das müsste einen anderen Rahmen haben und woanders stattfinden.“ Eine der vielen Demos soll in diesem Jahr durch das Villenviertel im Grunewald gehen. Allgemeine Zustimmung. „Ja!“, johlt Erik, er lacht laut. „Das find ich ne gute Idee. Die sozial ausgegrenzten Wilden im Grunewald, die sollten wir mal integrieren.“ Andererseits: Kann man politischen Protest überhaupt inszenieren? „Wenn die Leute ihre Angst verlieren, ist vieles möglich“, glaubt Wolfgang.

Wie damals, 1987: Beatrice war gerade erst in Berlin angekommen, jung, mit Baby auf dem Arm. Aus dem Radio in ihrem Zimmer in Neukölln hörte sie, was da in SO36 los war. Am nächsten Tag wollte sie es dann mit eigenen Augen sehen: die türkische Oma, der Punk, Kinder, Obdachlose, Studenten, all die Gegensätze, die Kreuzberg in Teilen heute noch ausmachen, prallten aufeinander. „Das war etwas ganz Besonderes, ich bin froh, das erlebt zu haben“, sagt sie.

Wolfgang sieht die Vergangenheit kritischer. Er sah, wie Punks aus einer kleinen Drogerie in der Waldemarstraße Haarspray für die Omas aus dem Altenheim gegenüber klauten. „Da war ich bisschen schockiert, ehrlich gesagt, dass auch die Rentner eifrig mitplünderten“, sagt er. „Die Menschen sind doch alle ziemlich ähnlich.“

Erik erinnert sich an den Lärm, der sich vom Görlitzer Bahnhof über den den Bezirk legte. Hunderte Menschen trommelten gleichzeitig. Ein Konzert der „Einstürzende Neubauten“ sei nichts dagegen. Er fühlte sich absolut frei, ein bisschen wie Gott. „Die Nacht hab’ ich in einem Auto gepennt, das mir nicht gehörte, und mich geärgert, dass der Punk neben mir die ganze Zeit onanierte. Das war ein toller Abend.“ Toller Abend, tolle Zeiten – oder war’s nur so doll, weil die Kämpen jünger waren? Ist schon was dran, meint Hille, auch wenn die andern lautstark protestieren. „Der Schrei nach Gerechtigkeit schreit einfach nicht mehr so laut in mir wie früher.“

Andererseits, die Themen von damals sind heute wieder aktueller denn je: Mietenwahnsinn, Ungleichheit, Armut. „Ich kann mir Kreuzberg eigentlich schon lange nicht mehr leisten“, sagt Beatrice. Als sie eine junge Frau war, da lebte Kreuzberg solidarisch miteinander, Selbstversorger, Volksküche und so.

Es war ein gutes Leben. Doch dann kam die Wende und Beatrice blickte nicht mehr so recht durch. Sie fühlte sich betäubt, vielleicht war sie es auch. Plötzlich sei alles „enger geworden“. Ihre Tochter, sagt sie, hat es heute besser als sie, aber Freiräume muss man sich leisten können.

„Monika Herrmann könnte für die Anwohner Butterfahrten nach Brandenburg organisieren"

Erik tätschelt Beatrices Arm, er weiß, wovon sie spricht. Wolfgang verstummt, ihm geht es zurzeit gut, Sorgen um Geld muss er sich gerade nicht machen. „Bea, komm wir machen ne WG“, sagt er. „Ich find’s scheiße, so was zu hören. Wenn 50 Euro darüber entscheiden, ob jemand den Monat rumkriegt oder nicht. Das ist mir nicht egal“, sagt Wolfgang. Heute, da ist doch jeder erfolgreich vereinzelt, sagt er.

Erik bestellt eine neue Runde Getränke und zündet sich eine weitere Zigarette an. „Und schuld daran ist die Befriedung, das war ne große Verarsche.“ Gemeint ist das Myfest, das die Touristen rein- und die Proteste rauslocken sollte. Die Anwohner machten mit, weil sie an Ständen Essen und Getränke verkaufen durften.

Mittlerweile platzt das Myfest am ersten Mai aus allen Nähten, eigentlich der ganze Kiez. Und MaiGörli, das neue Fest im Görlitzer Park, ist „die letzte Strafe von Monika Herrmann“, meint Erik und seine Freunde stimmen mit ein. Beatrice fragt sich, wieso ein angeblich befriedetes Straßenfest so viel Bewachung überhaupt nötig hat. „Niemand findet das interessant“, meint Wolfgang. Erik: „Sogar der Techno ist weg. Was macht man dann bei MaiGörli?“ Wolfgang frotzelt: „Bratwurst essen.“ Alle lachen.

Hille findet es okay, die Situation am ersten Mai etwas entzerren zu wollen, aber noch so ein großes Fest zu organisieren, sei an der Bedürfnislage vorbei. Auch wenn das bezirklich organisierte Fest den Görlitzer Park vor der jährlichen Zerstörung schützen soll, die vier wollen davon nichts wissen.

„Monika Herrmann könnte stattdessen für die Anwohner Butterfahrten nach Brandenburg organisieren, damit wir am 1. Mai rauskommen“, sagt Beatrice. „Der Bezirk will doch auch nur ein Stück vom Kuchen, so wie viele hier am ersten Mai, da geht’s um Aufmerksamkeit.“

Worum geht es am 1. Mai?

Sei es das Alter oder die Umstände, repräsentiert fühlt sich hier keiner auf den Kreuzberger Maifeiern. Ganz gleich, ob bei den Gewerkschaften, der Feierei oder den Revolutionären. Das einzig Gute am 1. Mai sei die BSR, die noch nachts versuche, die gröbsten Sauereien wieder rein zu machen.

Ein erster Mai, an dem sie alle noch mal auf die Straße gehen würden? Erik: „Was ich mir auf mein Transparent schreiben würde? Ich will Freiheit.“ Beatrice: „Freiheit, schönes Wort. Ich würde schreiben: Für bessere Arbeits- und Lebensverhältnisse, Menschenrechte, Menschenwürde. Ganz banale Dinge eigentlich.“ Wolfgang: „Gleichheit.“ Hille: „Da fällt mir überhaupt nichts ein.“

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