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Unüberwindbar scheint die Berliner Mauer an der Gedenkstädte an der Bernauer Straße. Trotzdem gab es Mutige, die unter Lebensgefahr über die Mauer kletterten.
© Kay Nietfeld dpa/lbn

Berlin am Zirkeltag: Warum sich die Zeit mit Mauer länger anfühlt als die Zeit danach

10.316 Tage stand die Mauer in Berlin. Warum erscheinen sie so viel länger als die darauf folgenden? Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Immer nur warten. Auf irgend Etwas. Auf Obst und Gemüse. Auf ein Telefon. Auf die Zuweisung einer Wohnung. Auf Zentralheizung statt Halbe-Treppe-tiefer-Klo. Auf den Handwerker. Das Auto. Den Ferienplatz. Auf Godot. Und die frischen Schrippen für’n Sechser beim Bäcker.

Ein Land im Wartestand.

Die DDR – ein deutscher Wartesaal. In einer bleiernen Zeit. Denn heute gesehen, im Rückblick, verging die Zeit der Einmauerung langsam und gemächlich im Schneckentempo, wenn man an die darauffolgenden 28 Jahre denkt, also ans Heute, das Gestern noch Morgen war.

Viel graue Theorie

Wieso verging das Leben in der eingemauerten Zeit langsamer als die gleiche Zeit danach? Mit einem Zitat aus dem Buch „Time is Honey“ von den Zeitforscher-Kapazitäten Karlheinz und Jonas Geißler aus München kann da schon ein erster Hinweis sein: „Zeit als solche gibt's ja gar nicht, sondern nur Zeiten, und was wir daraus machen.“

Also: Was haben wir aus unserer Zeit in der DDR gemacht? Eigentlich das, was wir auch heute noch oder gerade tun: das Beste. Es hieß immer, „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“. Das war natürlich graue Theorie. Mir wollte mal ein Schuldirektor erklären, weshalb ein musikalisch begnadeter Junge, der schon mit 14 auf der Orgel Bachkantaten rauf und runter spielte, nicht zum Abitur zugelassen wurde. „Weil seine übrigen Leistungen nicht den Anforderungen entsprachen.“ Also, wunderte ich mich, könnte uns so ein Genie an der Orgel verloren gehen, bloß weil er mit der Chemie nichts am Hut hat? Antwort: „Wozu brauchen wir Organisten? Wir brauchen allseits gebildete Menschen.“

Man wusste Bescheid, aber konnte nicht teilhaben

Es war dieser Machtanspruch einer Partei, deren führende Genossen dafür sorgten, dass die vielgelobte Arbeiterklasse eines Tages – 17. Juni 1953 und 9. November 1989 – die Fäuste ballte. Mit ihrem Kaderwelsch beglückten die Oberen ein kluges Volk, das sich der schleichenden Sowjetisierung durch Arbeit nach Vorschrift entzog und den Begriff Volkseigentum wortwörtlich nahm. Dazu das ideologische Trommelfeuer: Die eine Partei hatte eben immer recht. Dabei war der DDR-Mensch informierter als alle anderen: Die Nachrichten aus Adlershof waren kaum zu Ende, da tippelte bei den meisten schon der Klassenfeind durchs Wohnzimmer: Tagesschau! Kennzeichen D.! Kontraste! Frühschoppen! Dazu noch Friedrich Luft im Rias – man wusste Bescheid, aber konnte nicht teilhaben.

28 Jahre lang im Biotop.

Ging das auf die Dauer gut? Es ging. Es gab, wie in jedem Land, die Vor- und Mitläufer und die Angepassten, die Gegner und die Mutigen, die sich mit dem Staat anlegten oder unter Lebensgefahr über die Mauer kletterten. Ausreißer und Ausreiser. Letztere schickten uns bunte Ansichtskarten, während man wusste, dass man frühestens mit 65 die Welt kennenlernen durfte.

Und dann lag man den lieben West-Freunden auf der Tasche, drückte sich am Wohlstand die Nase platt und dachte am bunten Gemüsestand an die Zwiebeln und Kohlköpfe zu Hause. Begriffe wie Geldanlage, Kurssturz, vierzehntes Monatsgehalt, Überfluss, Insolvenz, Arbeitsamt oder Schlussverkauf waren uns im Osten fremd, das mussten wir lernen – mit der Zeit. Und: Dass uns keiner mehr vorschreiben konnte, was wir zu denken hatten. „Die Gedanken sind frei!“ - dieses Lied aus der 48er Revolution war in der DDR tabu, jetzt durfte wieder gedacht werden, kreuz und quer, her und hin. Mit der Zeitenwende begann ein neues Leben im alten.

Es herrschte Langeweile

Der DDR-Mensch konnte seine Fähigkeiten beweisen, Geschäfte öffnen, Betriebe gründen, er durfte vieles, was ihm durch Engstirnigkeit, Arroganz und Dogmatismus verwehrt worden war. Jetzt ging der redliche, praktische Ossi in die Offensive. Oder er ging unter, weil er den neuen Anforderungen nicht gewachsen war. Glück und Pech saßen nebeneinander auf dem Arbeitsamt. Die Menschen der alten Zeit waren auch die der neuen.

Der bekannte hallesche Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz hat eine einfache Erklärung für das Phänomen, dass einem die 10316 Tage mit Mauer viel langsamer vorkommen wie die Zeitspanne danach: Wo sich nichts bewegt, keine Hoffnung auf Veränderung besteht, da herrscht Langeweile. Eine neue Entwicklung eröffnet neue Möglichkeiten, alles geht schneller und total digital, manch einer möchte mehr, immer mehr. Viele kamen in eine Krise, weil sie die plötzliche Weite nicht füllen konnten. Man hatte es gar nicht gelernt: Innere Enge oder Weite? Nun: Nutzt die Weite!

Ein weites Feld, unsere kurze Zeit.

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