Argument „Chancenungleichheit“: Warum eine Berliner Schülerin gegen die Abiturprüfung klagte
Der Vater plötzlich arbeitslos, die Wohnung klein, Schule und Bibliotheken geschlossen, lernen kaum möglich. Eine Kreuzberger Schülerin ging rechtliche Schritte.
Der Vater verlor zu Beginn der Coronakrise seine Arbeit und saß seither zu Hause in der 2,5-Zimmer-Wohnung in Kreuzberg – zusammen mit Frau und Sohn sowie seiner Tochter. Sie war es, die am 17. April vor Gericht zog, um das Abitur nicht mitschreiben zu müssen. Ihr Argument? „Chancenungleichheit“.
Am 20. April entschied das Verwaltungsgericht gegen die junge Frau: Ihr Eilantrag auf Verschiebung der Abiturprüfung wegen mangelnder Vorbereitung im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie wurde abgelehnt. Ihr Anwalt Andreas Schulz kündigte am Abend Beschwerde in der nächsten Instanz an.
„Es drängt sich für die Antragstellerin die Frage auf, ob übergeordnete Interessen ihren grundrechtssensitiven Individualrechtsschutz überlagert haben“, führte der Anwalt aus. In dieser Annahme werde sie unterstützt durch die Tatsache, dass das Gericht den Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) vom 25. März erwähnte, wonach Abschlussprüfungen stattfinden sollten.
Die Schülerin ist nicht die einzige, die gegen die Prüfungen juristisch vorgehe, berichtet Landesschülersprecher Miguel Góngora. Er weiß von weiteren über 200 Abiturienten, die sich ebenfalls wehren wollen.
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Im Zentrum dieser Klagen steht die Frage, ob Schüler, die unter beengten oder ungünstigen Wohnverhältnissen leben, unzumutbar benachteiligt sind, da sie seit über vier Wochen weder in der Schule noch in Bibliotheken lernen konnten.
Zudem gehe mit dieser Benachteiligung oftmals noch das Problem einher, dass die Eltern sie – mangels Deutschkenntnissen oder Bildung – nicht so unterstützen könnten wie gebildete Eltern, die in großen Wohnungen leben und ihren Kindern zudem gute technischen Ausrüstung und Internet bieten könnten.
„Wir Schüler*Innen werde unabhängig von der Entscheidung des Gerichtes nicht aufhören standhaft zu bleiben“, sagte Góngora am Montag. Die Schüler sollten sich nicht die Frage stellen, „ob noch Hoffnung besteht, sondern wie wehrhaft wir sein wollen“.
Er empfehle Schülern zu überdenken, ob sie zu ihren ersten Prüfungsterminen erscheinen, „für den Fall dass sie sich mit der Entscheidung der Senatorin unwohl fühlen“. Der Landesschülerausschuss wolle versuchen, Schüler in Fällen von „Ungerechtigkeiten, Benachteiligungen und Gesundheitsgefährdungen so gut wie möglich schützen“.
Am Montag ging es los mit den Prüfungen
Wie berichtet, lehnt der Landesschülerausschuss wegen der Coronakrise sowohl die Abiturprüfungen also auch die Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss ab und bekommt dafür viel Unterstützung. Dessen ungeachtet ging es am Montag los mit den Abiturprüfungen: Sowohl aus Berlin als auch aus Brandenburg wurde über rege Beteiligung berichtet - und auch über Freude, das Gelernte zeigen zu können.
Eine weitere Schülerin unterlag vor Gericht
Bisher waren das Schülergremium, die Eltern, Schulleiterverbände und Gewerkschaften nicht erfolgreich mit der Gegenwehr. Vielmehr scheiterte am Freitag auch eine Schülerin vor Gericht, die sich wegen der Infektionsgefahr von den Prüfungen befreien lassen wollte. Damit allerdings war gerechnet worden, weil eine vergleichbare Klage gerade erst in Hessen zuungunsten einer Schülerin entschieden worden sein soll.
Das Gericht entschied, dass die Durchführung unter seuchenrechtlichen Gesichtspunkten zulässig sei, solange die Abstandsregeln eingehalten würden. Entsprechend ging es am Montag los mit den Abiturprüfungen.
Auch Forscher und ein neues Bündnis warnen vor verschärfter Chancenungleichheit
Die besondere Benachteiligung von Schülern, die unter sozial prekären Verhältnissen leben, ist angesichts der Coronakrise nicht nur am Montag vor Gericht Thema gewesen.
Vielmehr hatte eine große Gruppe namhafter Wissenschaftler und Schulpraktikern am Montag an die KMK appelliert, Schüler aus solchen Familien verstärkt in den Fokus zu nehmen und sie vorfristig zurück in die Schulen zu holen.
Noch bevor am die ersten Abiturklausuren geschrieben wurden, hat ein großes Bündnis türkischer, alevitischer, kurdischer, palästinensischer und weiterer Vereine darauf hingewiesen, dass sich viele „Black, Indigenous and People of Color Abiturienten“ infolge der höheren Armutsgefährdung „unter weitaus ungünstigeren Bedingungen“ auf die Prüfungen vorbereiten mussten. Daher werde man den Schülern „kostenlose Beratungen zu den Prüfungsergebnissen anbieten“.
Diese Beratung werde neben dem Widerspruch gegen die Benotung auch juristische Wege beinhalten.