Nach Unfall in der Invalidenstraße: Warum ein SUV-Verbot falsch wäre
Angst und Ablehnung sind schlechte Ratgeber in der politischen Debatte um SUV. Und Autofahren ist keine Schande. Ein Gastbeitrag.
Der Autor: Tobias Schulze, 43, ist stellvertretender Vorsitzender der Berliner Linken und Mitglied des Abgeordnetenhauses.
Wie die meisten, die nach dem schrecklichen Unfall in Mitte ein SUV-Verbot fordern, halte ich diese Fahrzeuge für eine Fehlentwicklung. Höhe, Luftwiderstand und oft auch Gewicht stehen in keinem Verhältnis zum Platzangebot. Damit sie trotzdem schnell sind, werden hohe und schwere Autos oft deutlich stärker motorisiert und verbrauchen mehr. Verkehrspsychologen erklären die Attraktivität dieser Fahrzeugklasse mit Bequemlichkeit, aber vor allem damit, dass sich die Fahrer abgeschirmt fühlen und sich über den Rest des Verkehrs buchstäblich erheben. Mit Rationalität hat der wachsende Erfolg dieses Autotyps also wenig zu tun. Das trifft leider auch auf die Debatte um ihr Verbot zu.
Lässt sich eine Karosserieform verbieten?
Ich halte ein solches für falsch, obwohl ich die Wagen nicht mag – wie so viele Berliner. Manche haben sogar Angst vor ihnen. Beides, Ablehnung und Angst, sind starke Gefühle, aber schlechte politische Ratgeber. Das fängt schon bei der Diskussion um die Fahrzeugklasse an: Das Segment der SUV und der Geländewagen reicht von Kleinwagen wie dem Renault Captur bis zu „Stadtpanzern“ wie dem BMW X6. Lässt sich eine Karosserieform verbieten? Wohl kaum.
Aus Sicht des Klimaschutzes und der Verkehrssicherheit sind stark motorisierte Freizeitmobile wie aktuelle VW-Busse mit 180 PS oder auch Transporter von Lieferdiensten ein genauso großes Problem. Die will niemand verbieten – und besonders Letztere sind bislang kaum zu ersetzen.
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SUV-Besitzern werfen wir hingegen vor, völlig unnötig mit zu großen und zu starken Autos in der Stadt zu fahren. Dieser Vorwurf gilt in einem gewissem Grad allerdings für fast alle städtischen Pkw: Statistisch werden sie nur selten für das Reisen auf der Autobahn genutzt, schaffen aber zumeist mehr als 160 Stundenkilometer.
Weitere Texte zum Unfall in Berlin und zur SUV-Debatte:
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SUV-Verbot ist Bauchdebatte
Wir werden jedoch weder den Kampf für mehr Verkehrssicherheit gewinnen noch den um die Luftverschmutzung in Städten, wenn wir ihn als Frage des individuellen Lebensstils führen. Wer unser Verkehrssystem so radikal umbauen will, wie es notwendig ist, kommt mit emotionalen Appellen, Flugscham oder Bauchdebatten wie einem SUV-Verbot nicht weit.
Die meisten Menschen wissen, dass ihre Alltagsgewohnheiten zu oft nicht zukunftsfähig sind. Wir können unsere Zukunft aber nicht der Frage überlassen, wann aus diesem Wissen auch individuelles Handeln wird – und zwar gegen den Werbedruck der Industrie. Wenn der Kopf Klarheit hat, dass ein Kleinstwagen oder das Rad reicht, aber der Bauch doch lieber den großen bequemen Wagen will, dann ist nicht der Markt gefragt, sondern die Politik.
Wir brauchen Tempo 30 und Bremsschwellen in Wohngebieten sowie deutlich mehr Blitzer in der Stadt. Das vermeidet Raserei. Falschparker, die Menschen mit Rad oder zu Fuß behindern, gehören ohne Wenn und Aber abgeschleppt. Wir brauchen Liefer- und Wirtschaftsparkzonen in jeder Straße – für Pflege- und Lieferdienste sowie Handwerker, die nicht auf das Auto verzichten können.
Mehr Kapazitäten, Sicherheit und Komfort im öffentlichen Nahverkehr sowie gute Rad- und Fußwegeinfrastruktur müssen Anreize für den Umstieg setzen. Dies gilt besonders für den öffentlichen Nahverkehr in den Berliner Außenbezirken, die bisher zu schlecht erschlossen sind. Der Straßenbahnbau muss beschleunigt werden, neue U-Bahn-Strecken sind auf lange Sicht zu diskutieren. Auch untereinander müssen die Außenbezirke besser verbunden werden – wer derzeit von Rahnsdorf nach Marzahn oder von Dahlem nach Wittenau will, ist mit Bus oder Bahn zu lange unterwegs.
Tempolimit auf Bundesebene einführen
Auf Bundesebene müssen wir ein Tempolimit auf Autobahnen einführen: Deutsche Autos müssten dann nicht mehr 200 Stundenkilometer und mehr schaffen. Die Bundesregierung muss sich endlich für niedrigere Emissionsgrenzwerte statt für die Interessen der Autoindustrie einsetzen. Eine Grenze von 80 oder besser 50 Gramm CO2 auf 100 Kilometern und die SUV wären von selbst Geschichte. Regeln, die durchgesetzt werden und von allen akzeptiert sind – das machen uns andere Länder vor.
Statt individuelles Verhalten zu geißeln, brauchen wir also Rückhalt und Akzeptanz für nachvollziehbares, wo notwendig auch radikales politisches Handeln. Wir haben keine Ökodiktatur und wir wollen auch keine. Das heißt, wir brauchen Mehrheiten für diese Maßnahmen. Die Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner fährt Auto: viele, weil sie wollen; andere, weil sie müssen – und weil die Politik über Jahrzehnte die falschen Weichen gestellt hat.
Das Autofahren sollten wir uns deshalb nicht gegenseitig vorwerfen, sondern uns gemeinsam auf Wege für den Umbau unseres Verkehrssystems verständigen. Vielleicht können wir uns in der gesamten aufgeheizten Debatte um Klimaschutz, Essgewohnheiten, Flugreisen und Autokäufe auf eines einigen: Du bist nicht schuld, du musst nicht allein dein Verhalten ändern. Wir müssen es im Sinne einer lebenswerten Zukunft alle zusammen tun.
Tobias Schulze