Debatte um Verkehrssicherheit: Wie gefährlich sind SUV wirklich? Das sagen Unfallforscher
Nach dem Unfall in Berlin fordern manche, SUV aus den Städten zu verbannen. Doch nichts spricht dafür, dass die Autos für Fußgänger besonders gefährlich sind.
Seitdem vergangene Woche bei einem schweren Unfall in Berlin-Mitte vier Menschen ums Leben gekommen sind, ist eine hitzige Debatte über SUV (Sport Utility Vehicles) entstanden. Manche, unter anderem die Deutsche Umwelthilfe, fordern, die Fahrzeuge aus den Innenstädten zu verbannen.
Vielfach werden sie dieser Tage als Killer im Straßenverkehr oder ähnliches bezeichnet. Fakten allerdings spielen bei der aktuellen Debatte in der Regel keine große Rolle. „Die Diskussion ist viel zu schwarz-weiß gemalt. Dem SUV nach diesem Unfall alles Schlechte aufzuladen, funktioniert so nicht“, sagt Matthias Kühn, Ingenieur und Bereichsleiter bei der Unfallforschung der Versicherer (UDV). Vielmehr müsse man differenzieren. Das fängt schon mit der Frage an: Was ist eigentlich ein SUV?
„Es gibt keine einheitliche Definition von SUV“, sagt Kühn. Zwar haben sie im Normalfall eine größere Bodenfreiheit und sind schwerer als etwa ein Kleinwagen. Aber manche kleineren SUV-Modelle unterscheiden sich hinsichtlich Masse, Motorisierung und Breite kaum von klassischen PKW.
So kann auch ein voll ausgestatteter VW Passat fast 1,8 Tonnen wiegen, trotzdem würde ihn wohl niemand als SUV bezeichnen. Und auch innerhalb der als SUV verkauften Fahrzeuge gibt es große Unterschiede. So kann man etwa einen VW Tiguan mit etwa 1,5 Tonnen nicht mit einem Porsche Cayenne vergleichen, der mehr als zwei Tonnen wiegt. Der unscharfe SUV-Begriff ist nicht zuletzt auch ein Grund dafür, dass wissenschaftliche Auswertungen schwierig sind – zumal jedes Modell anders gebaut ist und jeder Unfall in seiner Konstellation anders ist als der vorige.
PKW und Fußgänger sind „vollkommen inkompatibel“
Unabhängig von der Bezeichnung hätten Menschen bei Kollisionen mit Fahrzeugen generell schlechte Chancen, sagt Kühn. Unfälle zwischen PKW und Fußgängern seien „vollkommen inkompatibel“. „Wenn eine Tonne, anderthalb oder zwei Tonnen mit einem 75-Kilo-Objekt kollidierten, gehe es für das 75-Kilo-Objekt selten gut aus“, sagt er.
Neben dem Massenunterschied entschieden dann allerdings weitere Parameter wie Geschwindigkeit oder Bauform des Fahrzeugs, wie gravierend die Folgen sind. „Es macht einen großen Unterschied, ob man von einem flachen Fahrzeug mit einer langen Haube getroffen wird oder von einem mit einer hohen, steilen Front, die eher wie eine Wand wirkt“, sagt Kühn. Je nachdem unterscheide sich, wo und wie man als Fußgänger auf die Front des Fahrzeugs aufpralle.
Zwar erscheint es auf den ersten Blick logisch, das die tendenziell schwereren und höheren SUV bei Unfällen mit Fußgängern auch schlimmere Verletzungen verursachen. Aber genau zu dieser Frage ist die Studienlage recht dünn.
Kein gravierender Unterschied?
Die bisher besten Daten für Deutschland stammen aus einer Studie der Unfallforschung der Versicherer. Die Wissenschaftler werteten im Jahr 2011 Daten des Statistischen Bundesamts sowie eigene Unfalldaten aus. Als SUV galten dabei Fahrzeuge mit einer Bodenfreiheit von mindestens 17 Zentimetern und einer Höhe von mindestens 1,60 Metern.
Die Experten kamen zu dem überraschenden Schluss, dass es keinen gravierenden Unterschied macht, ob ungeschützte Fußgänger mit einem SUV oder mit einem herkömmlichen PKW kollidierten. Beim Zusammenstoß mit einem SUV trugen demnach etwa 47 Prozent der Passanten schwere oder lebensbedrohliche Verletzungen davon, bei Kollision mit einem herkömmlichen Wagen etwa 40 Prozent.
Deutlich größere Unterschiede gab es aber bei den Verletzungmustern. Beim Zusammenprall mit einem SUV wurden Fußgänger doppelt so häufig an Beinen und Becken verletzt, Kopf und Oberkörper wurden jedoch bei Unfällen mit herkömmlichen PKW etwas öfter und schwerer verletzt. Das liege vermutlich daran, schreiben die Experten, dass ein Fußgänger wegen der größeren Bodenfreiheit von SUV eher im Bereich der Oberschenkel und des Beckens erfasst würden.
Auch das kann schwere Verletzungen hervorrufen, etwa im Bereich der Bauchschlagader. Brust und Kopf aber prallten durch die tendenziell steilere Front von SUV seltener auf den steifen Bereich der hinteren Motorhaube oder gegen den Scheibenrahmen. Diesen Unfallmechanismus beobachten Fachleute öfter bei flacheren Fahrzeugen, die Fußgänger bei einer Kollision eher zuerst an den Beinen treffen, und die Personen in Richtung Frontscheibe schleudern.
Light Truck Vehicles sind nicht mit europäischen SUV gleichzusetzen
In der Studie waren allerdings elf der 23 SUV, deren Daten in diesen Teil der Analyse einflossen, noch mit sogenannten „Kuhfängern“ ausgestattet, also Schutzbügeln an der Front. Diese sind allerdings schon seit 2006 nicht mehr in der EU zugelassen. „Die Fahrzeugflotte ist inzwischen eine andere“, sagt Kühn, zumal Hersteller mittlerweile auch einiges dafür tun müssten, die Fahrzeugfronten so zu gestalten, dass sie bei Unfällen weniger gefährlich seien. Neuere Auswertungen liegen aber noch nicht vor.
Manchmal werden dieser Tage auch Studien aus den USA zitiert, wonach Unfälle mit sogenannten „Light Truck Vehicles“ (LTV) deutliche gefährlicher für Fußgänger seien als mit herkömmlichen PKW. „Das kann man nicht mit unseren SUV gleichsetzen“, sagt Henrik Liers, Leiter der Verkehrsunfallforschung an der TU Dresden GmbH.
Außer SUV zählen in diesen Studien auch Kleinbusse oder Transporter in die Kategorie LTV. „Die haben eine ganz andere Konstruktion, nämlich Leiterrahmen“, sagt Liers. Das heißt, dass besonders steife Längs- und Querstreben das ganze Gewicht von Achse, Motor und Getriebe tragen. Hiesige SUV hingegen werden schon lange mit einer selbsttragenden Karosserie gebaut: „Das sind einfach höher gelegte PKW“, sagt Liers. Schon aufgrund dieser Unterschiede verbiete sich ein Vergleich mit US-Verhältnissen.
Insgesamt spricht also derzeit nichts dafür, dass SUV für Fußgänger besonders gefährlich sind. Anders ist es, wenn kleinere PKW und SUV zusammenprallen. Bei solchen Zusammenstößen werden deutlich weniger SUV-Insassen getötet oder schwer verletzt als diejenigen, die in den PKW sitzen. Auch das ist ein Ergebnis der UDV-Auswertung. „Hier ist vor allem der Unterschied in der Masse und der Fahrzeugstruktur entscheidend“, sagt Kühn.
Besonders, wenn die SUV seitlich auf die kleineren Fahrzeuge treffen, sind die Folgen gravierend. Experten fordern deshalb schon lange, die Karosseriestruktur von Autos aneinander besser anzugleichen, um etwa Höhenunterschiede auszugleichen. Die Folge wäre, dass die Unfallpartner dann „besser kompatibel“ wären.
Mensch vor Automatik
Auch Notbremssysteme mit Fußgängererkennung sind längst in Entwicklung und in einigen Neuwagen schon eingebaut. Mit der General Safety Regulation sollen solche Systeme ab 2024 EU-weit für Neuwagen verpflichtend sein (PDF). Es gibt sogar Technik, die einen medizinischen Notfall beim Fahrer erkennt und das Auto kontrolliert zum Stehen bringen kann.
Allerdings gibt es ein Problem: Im Wiener Übereinkommen über den Straßenverkehr von 1968 wurde festgelegt, dass ein Fahrzeug immer nur das tut, was der Fahrer initiiert. Lenkt er etwa nach links, muss das Auto nach links fahren. „Tritt der Fahrer in einem medizinischen Notfall unbeabsichtigt voll aufs Gas, dann übersteuert er damit alle anderen Sicherheitssysteme und rast einfach weiter“, sagt Liers. Weil das System davon ausgehe, es sei der Wille des Fahrers, jetzt Gas zu geben. Diese Grauzonen müsse der Gesetzgeber nach und nach aufweichen, um das automatisierte Fahren auf rechtssichere Beine zu stellen.
Sollte sich bewahrheiten, dass der Fahrer des Unfallwagens in Berlin-Mitte einen epileptischen Anfall erlitt und aufgrund dessen voll aufs Gaspedal trat, hätte derzeit also wohl kein solches System den Unfall verhindern können. Auch ob er mit einer anderen Fahrzeugklasse oder einem kleineren Auto anstelle des Porsche Macan glimpflicher ausgegangen wäre, sei reine Spekulation, sagt Liers.
Trotzdem könne man sich natürlich fragen, ob man in der Stadt wirklich einen SUV fahren muss. Auch den Klimaaspekt könne man diskutieren. Die Fahrzeuge aber aus Sicherheitsgründen aus der Innenstadt zu verbannen, hält der Experte aufgrund der Datenlage für nicht angebracht.
Statt ideologisch oder politisch motiviertem Aktionismus sei es sinnvoller, zu einer sachlichen Debatte zurückzukehren. Etwa, welche technischen Lösungen entwickelt werden müssen oder ob mehr Tempo-30-Zonen in Innenstädten sinnvoll wären. Schließlich sei die Geschwindigkeit bei jedem Unfall einer der wichtigsten Faktoren. Liers sagt, man könne aus jedem Unfall etwas lernen. Aber damit das möglich ist, muss man manchmal etwas genauer hinschauen – und nach Vorliegen aller Erkenntnisse die richtigen Schlüsse ziehen.
Florian Schumann