Chance auf ein Comeback: Warum die Piraten wieder wichtig werden könnten
Das Internet ist in Gefahr. Die Partei, die sich dem Netz verschrieb, ist längst vergessen. Doch eine kleine Gruppe Berliner Piraten arbeitet unbeirrt weiter.
Das sei gerade echt eine gefährliche Zeit, sagt Simon Kowalewski und zeigt den Bildschirm seines Handys.
Mit einer Erkältung, die ihm das Wasser in die Augen treibt, steht er in einem engen Lagerraum im Büro der Piratenpartei in Berlin-Mitte, um ihn stapeln sich, in raumhohen Schwerlastregalen, alte Wahlkampfmaterialien der Partei: Flyer, Flaggen, Fleecedecken in Orange.
Auf dem Handy-Bildschirm ist ein Tweet zu sehen, den der deutsche Account des Europaparlaments am Vormittag abgesetzt hat. In einem kurzen Video erklärt Axel Voss, der für die CDU im Europaparlament sitzt, warum niemand Angst vor der EU-Urheberrechtsreform haben müsse.
„Die bewerben das, als wäre das schon beschlossene Sache“, regt sich Kowalewski auf. Außerdem sei der Tweet doch ganz klar Werbung für die CDU, da Gegenstimmen völlig fehlen würden.
Kowalewski, Berliner Piraten-Landesvorsitzender, klingt aufgeregt, enthusiastisch wie ein alter Boxer vor dem ersten Kampf nach einer viel zu langen Verletzungspause. Ein Gegner, endlich.
Der letzte große Kampf der Piraten liegt so weit zurück, dass es heute fast scheint, als habe er in einer anderen Realität stattgefunden. In den Jahren 2011 und 2012 zogen sie als junge Wilde in vier deutsche Landesparlamente ein. Bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus holten sie mit 8,9 Prozent und 15 Mandaten ihr bestes Ergebnis. Im Frühjahr 2012 sahen bundesweite Umfragen die Piraten bei 13 Prozent.
Die Politik hat das Internet nicht verstanden
Der inzwischen verstorbene Frank Schirrmacher, Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, bezeichnete die Entstehung der Partei 2009 als den „Übertritt einer anderen Intelligenzform in den Bereich der Politik“. Der allgemeine Tenor war damals ohrenbetäubend und klar: Das sei die neue Art, Politik zu machen. Die Partei war gekommen, um die digitale Revolution in die Politik zu tragen. Ihr Erfolg ließ sich auf die Formel bringen: Die Politik hat das Internet nicht verstanden.
Heute tauchen die Piraten in Umfragen nicht mehr auf. Sie sind aus sämtlichen Landesparlamenten geflogen. Lediglich eine Europaabgeordnete ist ihnen geblieben. Die Gegenwart hat aufgehört, sich für sie zu interessieren.
Haben die, die das Internet verstehen, die Politik nicht verstanden?
Wer heute – an diesem Sonnabend sind 916 Tage seit dem Ausscheiden aus dem Abgeordnetenhaus vergangen – nach den Berliner Piraten sucht, findet keine Politikleiche. Im Gegenteil: In einem Blog auf ihrer Webseite berichten sie regelmäßig über Themen, die ihnen wichtig sind. „Wie fair ist die ,faire Stadt Berlin’?“, fragen sie und kritisieren den von der Berliner Regierung geplanten Wohnungsrückkauf als „Mogelpackung“. Oder laden zur Cryptoparty ein, bei der interessierte Bürger sich „Hilfe zur digitalen Selbstverteidigung“ holen können.
Fernab der Öffentlichkeit machen Piraten wie Simon Kowalewski beharrlich weiter Politik. Aufmerksamkeit bekommen sie dafür kaum.
Vielleicht zu unrecht.
Eine Chance, zum greifen nah
Seit der Glanzzeit der Piraten hat sich einiges getan. Ihr Thema ist ganz oben in der Politik angekommen. Seit vergangenem Jahr hat Deutschland in der CSU-Politikerin Dorothee Bär eine „Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin und Beauftragte der Bundesregierung für Digitalisierung“, die sich auf ihrem Instagram-Profil digital-affin als „Instalover und Gamerin“ bezeichnet.
Doch die CDU-Bildungsministerin Anja Karliczek zog mit der Aussage, man brauche ein 5 G-Kommunikationsnetz nicht an jeder Milchkanne, viel Ärger auf sich. Die SPD geht mit einer Spitzenkandidatin Katarina Barley in die Europawahl, die als Bundesministerin für Justiz und Verbraucherschutz, also Mitglied der Bundesregierung, die EU-Urheberrechtsreform mitträgt, obwohl die Partei eigentlich dagegen ist. Unter dem Hashtag #axelsurft schließlich macht sich die Internetgemeinde über Wissenslücken jenes Axel Voss lustig, der mit Videos für die Urheberrechtsreform wirbt. In einem Interview verwies er jüngst auf eine Google-Rubrik, die es nicht gibt.
Der „Index für digitale Wirtschaft und Gesellschaft der Europäischen Kommission“, DESI, sieht Deutschland als wirtschaftsstärkstes Land der EU bei der Digitalisierung gerade mal auf Platz 14. Bei der Nutzung digitaler Behördendienste sogar nur auf Platz 24. Eine „Funkloch-App“ der Bundesnetzagentur verzeichnet im Jahr 2019 gut 600.000 Funklöcher.
Sieht so ein Land aus, in dem man das Internet verstanden hat?
Und jetzt bringt die geplante Urheberrechtsreform die Freiheit des Internets in Gefahr. In dem Bestreben, die Rechte von Künstlern und Urhebern besser zu schützen, sollen große Onlineplattformen für Urheberrechtsverletzungen haftbar gemacht werden können. Kritiker fürchten eine pauschale Zensur auch solcher Inhalte, deren Rechtslage unbedenklich ist.
"Die gewählte Nummer ist nicht vergeben"
Die Freiheit des Internets – auf einmal ist da ein Thema, das zum Gründungsmythos der Piratenpartei gehört. Eines von greifbarer Relevanz. Eine Chance, zum greifen nah, sich, vielleicht, nach Jahren wieder aus der Bedeutungslosigkeit zu stemmen.
Der Widerstand gegen Artikel 13, der bei seiner Anwendung zu den so genannten Uploadfiltern führen würde, schwillt an – besonders unter jüngeren Menschen.
Anruf bei der Nummer für Pressekontakte des Berliner Piraten-Landesverbands. „Die gewählte Nummer ist nicht vergeben“, heißt es am anderen Ende der Leitung.
Simon Kowalewski, sagen sie einem im Landesbüro der Piraten, habe seine Nummer eigentlich längst updaten sollen. „Am besten eine E-Mail schreiben.“ Tage vergehen, ohne dass man Simon Kowalewski ans Telefon bekommt. Ein wenig wirkt es so, als seien die einstigen Überraschungsstars überrascht, dass sich noch jemand für sie interessiert.
Also Spontanbesuch im Landesbüro in der Pflugstraße 9 a in Mitte, das sie parteiintern nur P9a nennen, zu einem der Termine, die im Kalender auf der Webseite des Landesverbands zu finden sind.
An einem Montag im Februar hat die Partei zum zum Europagespräch eingeladen. Die öffentliche Veranstaltungsreihe findet regelmäßig in den Räumen des Piratenbüros statt, diesmal soll es um das Thema Immigration gehen. Fünf Menschen sind an diesem Abend gekommen, diskutieren am großen Konferenztisch über Grundsätzliches wie sichere Drittstaaten, die Genfer Flüchtlingskonvention und Reisefreiheit. Sie alle sind Piraten.
Das P9a ist seit dem Ende der Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus, abgesehen von einem Bezirksbüro in Reinickendorf, das noch übrig ist, der letzte verbliebene Veranstaltungsort der Piraten in Berlin. Fast alle Events finden im Vorraum der im Erdgeschoss gelegenen Räumlichkeiten statt, die sich der Landesverband mit der Bundespartei teilt.
Die Mehrheit der Mitglieder hat kein Stimmrecht
In ihrer besten Zeit hatte die Partei in der Hauptstadt fast 3.800 Mitglieder. Heute gibt es in Berlin noch 408 Piraten, von denen jedoch nur 114 stimmberechtigt sind – weil die anderen zum Beispiel keine Mitgliedsbeiträge zahlen.
Man habe sich „gesundgeschrumpft“, ist eine Erklärung, die man immer wieder hört. Es scheint, dass die Partei sich in der Versenkung nicht nur unwohl fühlt.
Einer, der die Parteiaustritte prominenter Piraten wie zum Beispiel Christopher Lauer und Martin Delius hautnah miterlebt hat, ist Alexander Spies, der auf dem fünften Listenplatz für das Europaparlament kandidiert. Im Herbst 2011 wurde der heute 63-jährige Softwareentwickler, der gern Schiebermütze und Hosenträger trägt, ins Abgeordnetenhaus gewählt. Nach den Parteiaustritten seiner Fraktionskollegen gefragt, grinst er. „Wenn ich mal den ein oder anderen Namen nenne, der die Partei verlassen hat, und die Frage stelle, ob man die Person denn wiederhaben wolle, kommt sofort ein schallendes Nein“, sagt er. Bei manchen Namen bekomme man außerdem zu hören, dass die betreffenden Personen ja eh nie richtige Piraten gewesen seien.
Aber was ist ein richtiger Pirat? Frank Schirrmacher prognostizierte im Jahr 2009, dass sich im Laufe der Zeit und mit steigendem Erfolg der Nerd-Anteil in der Partei verringern würde. Wer sich bei den Versammlungen im Berliner Büro umschaut, hat das Gefühl, dass das Gegenteil der Fall ist.
Das kann man Prinzipientreue nennen. Oder Veränderungsresistenz.
Redner, Flyer, Plakate. Das volle Programm
Für Wieland Wilkniss war es genau diese Resistenz, die ihn 2015 dazu brachte, in die Piratenpartei einzutreten. Früher war er Grünen-Wähler, erzählt er. „Aber irgendwann fingen die an, mir auf den Keks zu gehen.“ Die Grünen, findet Wilkniss, seien über die Jahre zu glatt geworden. „Aus meiner Sicht ist da einiges verkauft worden. Wenn man nur in der Tagespolitik versucht, an irgendwelchen kleinen Schräubchen zu drehen, dann wird da nichts mehr draus. Ich will mehr.“
In der Piratenpartei herrsche eine andere, wirklich basisdemokratische Kultur, sagt er. „Aber wir können es uns im Moment halt, sagen wir mal, auch leisten“, fügt er lachend hinzu.
Wenige Tage nach dem Europagespräch treffen sich die Piraten wieder im P9a. Diesmal sind alle Stühle am Konferenztisch besetzt. Es ist Landesvorstandssitzung – und die Situation ist angespannt. Der bundespolitische Geschäftsführer der Piraten, Daniel Mönch, ist per Lautsprecher zugeschaltet und redet den Berliner Piraten ins Gewissen. Es geht um die große Demonstration gegen die geplante EU-Urheberrechtsreform, die am heutigen Sonnabend in Berlin stattfinden soll und zu der Mönch 20.000 bis 30.000 Menschen erwartet.
Mönch macht sich Sorgen um die Aufmerksamkeitsökonomie. Die Demo wurde von Bruno Kramm angemeldet, der zwar Pirat ist und 2016 auch die Liste zur Wahl des Abgeordnetenhauses anführte, aber in der Öffentlichkeit heute eher in seiner Rolle als Künstler und Musiker bekannt ist.
Er wolle nicht, dass die Demo „die Bruno-Kramm-Show“ werde, erklärt Mönch. An diesem Tag seien die Augen der Welt auf Berlin gerichtet – und die Piraten müssten da Präsenz zeigen. Redner, Flyer, Plakate, Interviews. Das volle Programm. Repräsentanz.
Es geht darum, gesehen zu werden
„Das ist das, was uns entweder ins Europaparlament katapultiert, oder eben nicht“, beschwört er die Berliner.
Die Landesvorstände reagieren zögerlich. Man müsse einfach dafür sorgen, dass im Demonstrationszug genug Fahnen seien, sagt einer. Alexander Spies betont, dass es wichtiger sei, zu zeigen, dass man als Partei bündnisfähig sei. „Dann bekommen wir Stimmen – und nicht weil wir da irgendwo vor Kameras rumhampeln.“
Mönch erinnert daran, dass damals, in der vergangenen Realität, nach jedem Interview von Christopher Lauer oder Marina Weisband die Umfragewerte gestiegen seien. Es gehe in einer Mediendemokratie darum, gesehen zu werden, sagt er. Man solle doch beispielsweise die Presse zu Vorbereitungsarbeiten für die Demo einladen, schlägt er vor.
Nach einer Weile unterbricht Wieland Wilkniss den bundespolitischen Geschäftsführer: „Das geht mir jetzt zu lang“, sagt er. „Ich denke, wir haben jetzt die wesentlichen Sachen geklärt und wir brauchen das jetzt nicht zu verfasern.“
Dann versichern die Berliner ihrem politischen Geschäftsführer, dass „das läuft“.
„Vielen Dank, dass du dich zugeschaltet hast und wir hören voneinander“, verabschiedet sich Simon Kowalewski, sichtlich um Schlichtung bemüht.
„Okay …“, antwortet Daniel Mönch.
Dann legen die Berliner auf.
In der anschließenden Raucherpause feixen die Piraten über die aus ihrer Sicht abwegige Idee, die Presse zum Plakate-Basteln einzuladen.
Sie wollen etwas. Die Frage ist: wie sehr?
Nach der Unterbrechung berichtet jemand, dass sie erneut Mitglieder verloren hätten. Seit Ende 2018 sei der Landesverband nochmal um zehn Prozent geschrumpft. Warum das so sei, fragt einer. Eine Antwort hat keiner im Raum. Einer hofft, dass solche „Schweinejahre“ vielleicht einfach dazu gehören.
Es gibt Situationen, in denen es ein wenig so wirkt, als wachse die Parteiarbeit den Übriggeblieben über den Kopf. Auf der Startseite des Berliner Landesverbands im Piratenwiki, jenem Hort der absoluten Teilhabe und Transparenz, mit dem die Partei in der anderen Realität die Politik zu revolutionieren schien, steht als Datum für das nächste Kennenlerntreffen der 24. Oktober 2017. Gleich darunter wird die Landesmitgliederversammlung vom Dezember 2018 beworben.
Beim Kennenlerntreffen in einer halbdunklen Bar in Neukölln, von dem man im Kalender auf ihrer Webseite erfährt, wartet eine kleine Gruppe von Piraten. Zum Kennenlernen sind an diesem Abend nur ein junger Radiojournalist und ein älterer Mann gekommen, der in der Nachbarschaft wohnt.
Der Radioreporter befragt die Piraten zur Urheberrechtsreform, zu Artikel 13. Mit Nachdruck erklären sie, was sie daran schlecht finden. Man merkt ihnen das Feuer an, mit dem sie sich für dieses Thema einsetzen. Dass ihnen politischer Wille fehlen würde, kann ihnen an diesem Abend niemand unterstellen. Die Piraten wollen etwas. Die Frage ist: Wie sehr?
Gefragt, ob sie als Partei zur Realisierung ihrer Vorstellungen nicht Macht benötigten, fällt ihre Antwort entschieden aus: „nicht um jeden Preis“. Ideale, das zeigt sich auch an diesem Abend wieder, sind hier offenbar wichtiger als Realpolitik.
Aufgestellt ohne Ansehen der Eignung
Auf der Webseite, die die deutschen Kandidaten für das Europaparlament vorstellt, steht Ende Februar noch ein Einleitungstext, der heute nur noch zur Hälfte in der Google-Vorschau der Seite angezeigt wird: „Ein Team mit 18 184 Fäusten. Diese 8 sind unsere Spitzenkandidaten“, steht da – und dahinter: „Nicht, weil sie besser sind als andere Piraten.“
Es ist ein Satz, wie ihn wahrscheinlich keine andere Partei über ihre Kandidatenliste schreiben würde. Andernorts wird die Aufstellung mit Exzellenz gleichgesetzt. Hier hingegen klingt der Satz wie ein an die Basis gerichtetes Versprechen, dass man immer noch ein Sturmgeschütz der Basisdemokratie sei, dass alle teilhaben dürfen. Dass niemand wichtiger ist als irgendjemand anders.
Für Außenstehende, für Wähler, könnte es hingegen so wirken, als habe man einfach die genommen, die sich als erste gemeldet hätten, ohne Ansehen der Eignung.
Wollen die, die das Internet verstanden haben, die Politik überhaupt verstehen?
Marlene Cieschinger ist, wie etwas nach außen wirkt, nicht so wichtig. Für sie zählt, was jemand tatsächlich tut. Die kleine 59-Jährige mit den lilagefärbten Haaren hat einen leicht österreichischen Akzent. Sie sei seit 2016 bei den Piraten, erzählt sie an einem Nachmittag Ende Februar, am großen Tisch im P9a. Davor war sie sieben Jahre bei der Linken, saß vier Jahre als Bezirksverordnete in der BVV Charlottenburg-Willmersdorf. Sie verließ die Partei, weil das, was sie vor dem Eintritt an ihr fasziniert hatte, nicht mit dem übereinstimmte, was sie anschließend im Inneren vorfand.
Alles nur Fassade.
Vereinzelt wehen Piratenflaggen
Bei den Piraten gibt es keine Fassade. Der Blick in den Maschinenraum der Bewegung ist zu keinem Zeitpunkt verstellt. Das ist großartig, wenn es gut läuft, hat aber den Nachteil, dass man, wenn es weniger gut läuft, den Rost schneller sieht. Und nach mehr als 900 Tagen politischer Einsamkeit gibt es jede Menge davon.
An einem späten Nachmittag im frühen März kommt ein Anruf aus dem P9a: Gleich sei Demo am Konrad-Adenauer-Haus, der Parteizentrale der CDU, gegen den Versuch der Christdemokraten, die Abstimmung zur Urheberrechtsreform im Europaparlament vorzuverlegen und so die Großdemo am 23. März ins Leere laufen zu lassen. Da könne man mal vorbei kommen. Es ist die zweite Demo innerhalb weniger Tage, auf der die Berliner Piraten sich gegen Artikel 13 stellen.
Wenige Stunden nach dem Anruf ist der Bürgersteig gegenüber dem CDU-Hauptquartier zum Bersten voll. 24 Stunden zuvor war die Demo angemeldet worden, jetzt drängen sich mehr als 2000 Menschen unter den nassgrauen Abendhimmel. Immer neue Gruppen meist jungen Menschen kommen über die Straße. „Kein Artikel 13“ steht auf ihren Schildern, „Für ein Neuland, in dem wir gut und gerne leben“, und immer wieder: „Nie mehr CDU“.
Dazwischen wehen, vereinzelt, orangefarbene Piratenflaggen. Alexander Spies ist gekommen, mit Schiebermütze und Anorak steht er in der Menge, hält die Flagge mit dem Parteilogo hoch und sieht ihr beim Wehen zu. Marlene Cieschinger hat sich eine Fahne wie ein Superheldencape um die Schultern gelegt und ganz vorne, hinter der Metallkiste, auf die immer neue Aktivisten, Influencer und Internetexperten treten, um den Widerstand der Menge anzuheizen, steht Simon Kowalewski und zieht an seiner E-Zigarette. „Nie mehr CDU!“ rufen die Menschen über die Straße zum Konrad-Adenauer-Haus, gefolgt von „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Freiheit klaut!“ und „Wir sind keine Bots!“
Schnell ankommen mit dem Zug? Er fährt lieber Tesla
Als der Großteil der Reden geschwungen ist und der Menschenauflauf auf dem Bürgersteig seinen Höhepunkt erreicht hat, steigt schließlich Kowalewski auf die Rednerbox. „Es ist eine geile Perspektive hier! Hallo Internet!“, ruft er ins Mikrofon. Dann hält er, aus dem Stegreif, eine Rede, in der er noch einmal erklärt, warum die Urheberrechtsreform eine Gefahr für das Internet ist. Immer wieder überschlägt sich seine Stimme. Den Zuhörern ist das egal. Sie jubeln, wenn er lobt, buhen laut, wenn er etwas kritisiert. Als er von der Box steigt, sieht er glücklich aus, als wollte er in diesem Moment nirgendwo anders sein. Ein Gegner, endlich.
Die Piratenpartei erwähnt er in seiner Rede nicht.
Am 16. Februar steigt er um vier Uhr nachts in sein Auto, um nach Nürnberg zu fahren. Dort beginnt sechs Stunden später der erste Piraten-Bundesparteitag des Jahres.
Die Parteimitglieder werden dort ihr Wahlprogramm für die Europawahl absegnen. Außerdem werden sie ihre Sitzung am Mittag des ersten Tages für eineinhalb Stunden unterbrechen, um bei einer Demo mit mehr als 2000 Menschen gegen Artikel 13 zu demonstrieren. Sie werden, anders als zuvor so oft, maximal sichtbar sein – mit Rednern, Flyern, Plakaten, Interviews. Das volle Programm, Repräsentanz.
Kowalewski könnte mit dem ICE-Sprinter in weniger als drei Stunden nach Nürnberg kommen. Stattdessen fahren er und drei Berliner Piratinnen mit seinem Tesla. Das ist günstiger, er hat eine Flatrate an den Tesla-Ladestationen, Geschenk der Elektroautofirma für Early Adopter.
Kowalewski muss Zeit einplanen. Sein Tesla hat bei nicht ganz vollem Akku eine Reichweite von rund 250 Kilometern. Das Navigationssystem berechnet deshalb eine Route von Ladestation zu Ladestation. Dreimal fährt er auf seinem Weg nach Bayern rechts ran, stöpselt das Auto an und wartet. Rund zwanzig Minuten dauert es jedes Mal, bis der Akku wieder genug Ladung für den nächsten Streckenabschnitt hat. Kowalewski überbrückt die Zeit, spielt Tetris auf einem kleinen Bildschirm, den er sich selbst an die Frontscheibe montiert hat. Er hat keine Eile.
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Talkshowgesicht, BER-Aufklärer, Demonstrantin – kaum einer der einst prominentesten Piraten ist heute noch Parteimitglied. Engagiert sind sie weiterhin.
Christopher Lauer war der wahrscheinlich bekannteste unter den Berliner Piraten. Von 2011 bis 2016 Mitglied des Abgeordnetenhauses, fiel der heute 34-Jährige in dieser Zeit unter anderem dadurch auf, dass er den damaligen Innensenator Frank Henkel im Innenausschuss rhetorisch vor sich hertrieb. Im September 2014 verließ Lauer die Piratenpartei, die er später als „undankbaren Scheißhaufen“ bezeichnen sollte und trat, fast genau zwei Jahre später, in die SPD ein. Im Februar 2018 verkündete Lauer auf seinem Blog das vorläufige Ende seiner Laufbahn als Politiker. Daraufhin schrieb er seine Bachelorarbeit zum deutschen Raketenforscher Wernher von Braun und betreibt heute einen eigenen Politik-Podcast. Auf Twitter, wo er – wenn man durchschnittlich 140 Zeichen pro Tweet rechnet – Text mit dem viereinhalbfachen Volumen von Marcel Prousts Epos „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ veröffentlicht hat, steht trotzdem noch: „Become Chancellor or Die Tryin’“.
Martin Delius, 2009 in die Piratenpartei eingetreten, wurde – anders als Lauer – schon mal „der seriöse Pirat“ genannt. Er war Vorsitzender des BER-Untersuchungsausschusses im Abgeordnetenhaus. Wie Lauer verließ der 34-jährige Physiker die Piratenpartei während seiner Zeit im Parlament im Dezember 2015. Im Januar 2016 verkündete er mit 36 anderen ehemaligen Piratenpolitikern, „die Linke in Berlin im Jahr 2016 und darüber hinaus kritisch und solidarisch unterstützen“ zu wollen. Im September desselben Jahres holte er sich auch deren Parteibuch. Seit 2017 ist Delius für die Linken im Referat Regierungsplanung bei Senatskanzlei tätig.
Anne Helm ist die einzige Ex-Piratin, die heute noch im Berliner Abgeordnetenhaus vertreten ist – und das sogar auf Regierungsseite, für die Linkspartei. Die ehemalige Synchronsprecherin war Bezirksverordnete in Neukölln, außerdem war sie die Bundessprecherin für Asyl- und Migrationspolitik der Partei. 2014 verursachte sie einen Skandal, der in den Medien zum Teil als „Bombergate“ bezeichnet wurde und zur Zerreißprobe für die damals schon angeschlagene Partei wurde: Bei einer Demonstration in Dresden hatte sie sich „Thanks Bomber Harris“ auf die bloße Brust geschrieben, ein Dank an den maßgeblich für die Bombardierung der Stadt am Ende des Zweiten Weltkrieges verantwortlichen britischen Luftwaffenbefehlshaber. Ein wenig mehr als ein halbes Jahr später verließ sie die Partei, seit 2016 ist sie Mitglied bei der Linken. Im Abgeordnetenhaus arbeitet sie als Sprecherin „für Medien und Strategien gegen rechts“. Seit dem 1. September 2018 ist sie mit dem ehemaligen Piraten Oliver Höfinghoff verheiratet. Auf Twitter heißt sie bis heute „@SeeroiberJenny“.
Marina Weisband, Diplompsychologin, studierte in Münster, als sie 2009 in die Partei eintrat. Von 2011 bis 2012 war sie politische Geschäftsführerin und appellierte 2012 öffentlich an ihre Parteikollegen, sich schärfer gegen antisemitische und rassistische Mitglieder zu stellen. „Unsere Ideen versinken in lauter Müll und Dreck“, schrieb sie in einem Blogpost. 2015 trat sie aus der Piratenpartei aus, „ganz still“, weil sie, wie sie sagte, keine Schlagzeilen verursachen wollte, die die Partei weiter beschädigen könnten. Gleichzeitig bezeichnete sie das „Label Piraten“ als „verbrannt“. 2014 rief sie das in Berlin basierte Projekt „Aula“ ins Leben, das Jugendlichen per Online-Plattform ermöglichen soll, „in einem festen, vorher vereinbarten Rahmen eigene Ideen für die Gestaltung ihres Schulumfelds zu entwickeln, Mehrheiten dafür zu finden und die Umsetzung zu beschließen“.
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