Polizisten erschießen Flüchtling in Berlin: Wann der Taser eine Lösung ist - und wann nicht
Nachdem Beamte einen Flüchtling erschossen haben, wird wieder diskutiert, welche Alternativen zum Waffeneinsatz es gibt. Der Elektroschocker bleibt umstritten. Und noch mehr Punkte sind in der Diskussion.
Fest steht: Was sich in der Nacht zum Dienstag in der Moabiter Kruppstraße ereignete, ist eine Tragödie. Drei Kinder haben keinen Vater mehr. Eins der Kinder ist zuvor mutmaßlich sexuell missbraucht worden. Der Vater des Mädchens wurde, als er mit dem Messer auf den Tatverdächtigen losgehen wollte, von der Polizei erschossen. Gegen den Mann, der des Missbrauchs verdächtigt wird, wurde Haftbefehl erlassen.
Sonst aber sind viele Fragen offen: Was ist genau passiert? Warum schossen gleich mehrere Polizisten? Und warum erschossen sie den Angreifer, statt ihn bloß anzuschießen? Während am Mittwoch der Tathergang aufgearbeitet wurde, tauchten bekannte Fragen wieder auf – zum Beispiel auch jene nach Alternativen zum Schusswaffengebrauch.
DISKUSSION UM TASER
Ob ein Taser die Tötung hätte verhindern können, dazu wollte sich am Mittwoch niemand äußern, da über den konkreten Fall noch zu wenig bekannt sei. Generell sei der Taser eine gute Alternative zum Schusswaffengebrauch, findet der CDU- Verfassungsschutzpolitiker Stephan Lenz. Das SEK habe ja bereits Erfahrungen mit der Elektroschockpistole. Der Taser richte weniger Schaden an als die Schusswaffe und sei daher das mildere Mittel.
Wie berichtet, sollen Taser in Kürze in zwei Polizeiabschnitten in Neukölln und Mitte auf ihre Praxistauglichkeit im Streifendienst getestet werden. Die Elektropistolen schießen Pfeile ab, die mittels Drähten mit einer Batterie in der Pistole verbunden sind und beim Auftreffen starke Muskelkontraktionen und Schmerzen verursachen.
Nach Einschätzung der Gewerkschaft der Polizei (GdP) sind Taser aber bei einem blitzschnellen Angriff wie in Moabit keine Lösung. Die GdP warnt „vor der Illusion“, Taser seien ein Allheilmittel. Das zeigten die Erfahrungen des SEK, das die Elektropistolen seit 15 Jahren im Waffenarsenal hat und in dieser Zeit nur 22 mal einsetzte. Taser seien beispielsweise geeignet, einen Suizid zu verhindern. Das habe ein SEK-Einsatz Anfang September am Alexanderplatz gezeigt, wo ein Mann in einen Brunnen stieg und drohte, er werde sich gleich etwas antun. Er wurde mit Hilfe des Elektroschockers überwältigt.
„Wenn es ganz schnell gehen muss, um Menschenleben zu schützen, hat der Taser aber etliche Nachteile“, sagt GdP-Sprecher Benjamin Jendro. „Er wirkt nur effektiv auf eine Reichweite von maximal sechs Metern und man kann nur zweimal hintereinander ohne Nachladen schießen.“ Der Schock setze den Getroffenen auch nur rund fünf Sekunden außer Gefecht. Danach sei dieser wieder handlungsfähig.
Polizeisprecher Winfried Wenzel widersprach am Donnerstag im rbb-Inforadio dem Berliner Landesvorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft, Bodo Pfalzgraf, der Einsatz wäre mit Elektroschock-Waffen glimpflicher ausgegangen. Dies sei eine "virtuelle Fragestellung" angesichts einer derartigen Situation, in der es um Sekunden gehe. "Ich teile nicht die Auffassung, dass der Taser das Allheilmittel ist", sagte Wenzel.
Laut einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey im Auftrag des Tagesspiegels, die vor dem Zwischenfall in Moabit durchgeführt wurde, sprechen sich 57,1 Prozent für die Ausstattung der Polizei mit diesen Geräten aus. Ein Drittel ist dagegen.
NUR IM NOTFALL
Der Schusswaffengebrauch von Polizisten ist im Berliner „Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwangs“ streng geregelt. Auf Menschen darf nur geschossen werden, um diese „angriffs- oder fluchtunfähig“ zu machen. Der Schuss muss angedroht werden. Gestattet ist der Einsatz von Schusswaffen zudem, um eine Straftat zu verhindern, und aus Notwehr.
WENN POLIZISTEN SCHIESSEN
Insgesamt schießt die Polizei sehr selten. Wird ein Mensch durch einen Schuss der Polizei getötet, ermittelt automatisch die Mordkommission gegen den Schützen. Auch für die Beamten ist das eine psychische Belastung, da sie einerseits nie sicher sein können, dass ihr Handeln gerechtfertigt ist, und es ihnen andererseits zu schaffen macht, einen Menschen getötet zu haben. In jüngerer Zeit gab es mehrere Festnahmen, bei denen Polizisten zur Schusswaffe griffen.
Ende August 2016 schoss beispielsweise eine Beamtin in Hellersdorf einem Mann in den Oberkörper, nachdem dieser erst mehrere Passanten und dann die alarmierten Polizisten bedroht hatte. Im Juni 2013 erschoss ein Beamter einen geistig verwirrten Mann im Neptunbrunnen. Er hatte zuvor nackt im Brunnen mit einem Messer herumgefuchtelt, war dann laut Polizei mit der Waffe auf die anrückenden Beamten losgegangen.
Im Oktober 2013 war ein 50-Jähriger mit Axt und Messern durch Wedding gelaufen. Als er Polizisten attackierte, wurde er niedergeschossen, später starb er im Krankenhaus.
Eine psychisch kranke Frau, Anfang 50, war 2011 in ihrer Wohnung von einem Polizisten erschossen worden.
VERALTETE SCHIESSSTÄNDE
Die Schießausbildung der Polizei gilt als mangelhaft, die Schießstände sind wegen giftiger Dämpfe und krebserregender Stoffe großteils unbrauchbar, die Waffentypen veraltet. Seit gut einem Jahr können viele Beamte nicht zum Schießtraining. Kritiker fordern, Berlins Polizisten müssten so gut ausgebildet und ausgerüstet sein, dass sie einen Angreifer mit gezielten Schüssen auch stoppen könnten, ohne ihn gleich zu töten.
Erst kürzlich wurde bekannt, dass die Berliner Polizei der Landespolizei von Schleswig-Holstein 1139 dort ausgemusterte Pistolen zum Stückpreis von einem Euro abgekauft hat. Mit den Pistolen sollen verschlissene und irreparable Pistolen ersetzt werden. Das Waffenarsenal der Berliner Polizei – rund 20 000 Dienstwaffen gibt es – ist zum Teil 15 bis 20 Jahre alt. Die Beamten nutzen ein Fabrikat, das nicht mehr hergestellt wird: Die P6 der Firma Sig Sauer.
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