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Update

Berlin-Alexanderplatz: Nach Angriff mit Messer: Polizist erschießt Nackten im Neptunbrunnen

Morgens am Alexanderplatz, mitten in der Hauptstadt, überall Touristen, Berufspendler, Passanten: Und dann fuchtelt plötzlich ein Nackter mit einem Messer herum. Die Polizei eilt herbei, ein Schuss fällt, der Mann stirbt. Hätte er nicht anders gestoppt werden können?

Sie sind erst seit ein paar Stunden in der Stadt. Die Koffer haben sie schnell im Hostel abgestellt, sind losgezogen, rüber zum Alex, Fernsehturm, das ganze Programm. Kelcey Armstrong und Isabella Caumanns, Anfang 20, beide aus Kanada, arbeiten als Au Pairs in Amsterdam. An diesem Freitag wollten sie endlich das hippe Berlin besuchen. Und plötzlich spielt sich hier vor ihren, vor all den Augen der vielen Touristen und Berufspendler ein Drama ab. Ein junger, nackter Mann steht im Neptunbrunnen, fuchtelt mit einem Messer herum, Polizisten eilen herbei, Schreie, ein Schuss fällt. Am Ende ist der Mann tot.

„Zwei Polizeiautos und ein Krankenwagen fuhren vor“, erzählt Kelcey Armstrong, die Touristin aus Kanada. Sie steht hier noch immer am Neptunbrunnen, wo sich die Tragödie kurz vor 10 Uhr abgespielt hat. „Sieben Polizisten stiegen aus und gingen mit gezogenen Waffen auf den Brunnen zu“, erzählt sie. Sie zeigt ihr Handy. Auf dem verschwommenen Foto, das auf ihrem Bildschirm zu sehen ist, stehen Polizisten mit der Hand an ihren Pistolenholstern, die Beamten beugen sich an den Figuren der Nymphen am Brunnenrand vorbei über das Wasser. „Den Mann selbst konnte man nicht sehen“, erzählt Kelcey. „Er lag zu diesem Zeitpunkt noch im Brunnen.“ Ihre Freundin Isabella ergreift das Wort: „Dann stand der Mann auf. Er hatte Schnittwunden am Rücken. Er sah sich kurz um und ging mit einem Messer auf den Polizisten im Brunnen zu. Der Polizist brüllte. Dann hörten wir den Schuss und der Mann ging zu Boden.“

Weil es einer der zentralsten Plätze der Stadt ist, existieren noch viel mehr Fotos, die nun die Runde machen, auch Handyvideos, die prompt im Fernsehen zu sehen sind. Wie in solchen Fällen üblich, ermittelt eine Mordkommission, die Staatsanwaltschaft ist eingeschaltet. Sie werten die Bilder derzeit aus.

Hätte der verwirrte Mann nicht anders gestoppt werden können?

Nach vorläufigen Erkenntnissen der Polizei soll sich der Vorfall wie folgt abgespielt haben: Der Mann saß nackt im Neptunbrunnen und hantierte mit einem etwa 20 Zentimeter langem Sägemesser. Dabei verletzte er sich selbst am Hals und den Armen, er blutete stark. Eine Passantin, die den Mann beobachtet hatte, lief zum Wachschutz, der vor dem Roten Rathaus steht, der rief Polizei. Anrückende Beamte versuchten, den Mann zu beruhigen. Einer der Polizisten stieg zu ihm in den Brunnen. Daraufhin soll der Mann mit dem Messer auf den Beamten zugegangen sein. Die Polizisten schrien: „Messer weg!“ – was auch auf dem Handyvideo zu hören ist. Der Nackte ging weiter auf den im Brunnen stehenden Beamten zu, der rücklings an die Mauer stieß. Als der Mann immer noch nicht reagierte und „unmittelbar vor dem im Wasser stehenden Polizisten war“, so das Polizeipräsidium, schoss ihm dieser Beamte in den Oberkörper. Noch im Notarztwagen verstarb der Mann.

Bei dem Getöteten soll es sich um einen 31 Jahre alten Berliner handeln. Umgehend ist eine Obduktion angeordnet worden. Der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Martin Steltner, erklärte am Nachmittag: Der Mann sei sehr wahrscheinlich an dem Schuss gestorben, die Kugel hatte seine Lunge durchschlagen. Die von ihm selbst zugefügten Stichwunden an Hals und Armen waren demnach nicht tödlich.

„Wir prüfen nun die genauen Umstände“, sagte Steltner. „Erste Hinweise sprechen für eine Notwehrsituation.“ Zum Alter und dem Dienstgrad des Schützen gab es keine Auskunft. Bis zum Nachmittag war der Neptunbrunnen abgesperrt, anfangs lagen noch die Kleidungsstücke daneben, die der Mann zuvor ausgezogen hatte. Nach dem Einsatz wurde das Wasser abgelassen.

Nach dem Vorfall versammelte sich eine Hochzeitsgesellschaft neben dem Brunnen. Das Brautpaar und deren Gäste hatten von dem tödlichen Schuss offenbar nichts mitbekommen, waren aber vor dem Roten Rathaus verabredet. Traditionell treffen sich Hochzeitsgesellschaften dort, vor allem wenn sie im Rathaus getraut worden sind.

Nur ein paar Meter weiter befindet sich der Ort, an dem Jonny K. vergangenen Oktober zu Tode geprügelt worden ist. Blumen, Kerzen und Briefe liegen noch da. Die grausame Tat einer Gruppe aggressiver Jugendlicher wird derzeit vor Gericht verhandelt – und hatte eine Debatte über Gewalt ausgelöst, vor allem hier, am Platz. Die Polizeipräsenz am Alex wurde erhöht, der Platz hat ein Imageproblem. „Ich traue mich nachts bestimmt nicht hierher, der Platz hat seinen Namen weg“, sagt ausgerechnet eine Stadtführerin, die ihre Touren am Alexanderplatz beginnt.

Während der Alexanderplatz zuletzt häufig schlechte Schlagzeilen bekommen hat, sind tödliche Schüsse von Polizisten in der Stadt selten. Im Training werden Polizisten auf Messerangriffe vorbereitet, meist sind sie bei Einsätzen wie am Freitag in der Überzahl.

Für die Ermittlungen entscheidend ist folglich: Hätte der Verwirrte vom Neptunbrunnen nicht lebend überwältigt werden können?

„Es handelt sich für alle um eine Ausnahmesituation“, sagte der Innenexperte der Berliner Grünen im Abgeordnetenhaus, Benedikt Lux. Dennoch müsse geklärt werden, warum der Mann nicht bloß flucht- und kampfunfähig gemacht worden sei, sagte Lux, der selbst Jurist und Dozent für Polizeirecht ist. Dazu könne man etwa in die Beine schießen oder Pfefferspray einsetzen. Ein Polizist, der am Freitag seinen Wachposten am Roten Rathaus bezogen hat, sagte: „Wenn man von so einem Messer auch nur in den Schenkel geschnitten wird, verblutet man ganz schnell.“

Der Schusswaffeneinsatz in Berlin ist im „Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwangs“ geregelt: Darin heißt es, ein Beamter kann seine Waffe gebrauchen, um jemanden angriffs- oder fluchtunfähig zu machen. Schüsse müssen angedroht werden. Anders sieht es aus, wenn eine Notwehr- oder Nothilfesituation vorliegt. Dann muss zur „Abwehr eines gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffs“ das mildeste Mittel gewählt werden – das kann eine Schusswaffe sein, wenn der Angriff in gebotener Kürze nicht anders abzuwehren ist.

Vergangenes Jahr haben Polizisten in Berlin in 91 Fällen geschossen, darunter waren Schüsse auf Tiere und zur Warnung. Drei Mal wurde auf Menschen gezielt, einmal war der Einsatz tödlich – und dieser Fall hatte Debatten unter Juristen und Innenpolitikern ausgelöst: Im Oktober war ein 50-Jähriger mit Axt und Messern durch Wedding gelaufen. Als er Polizisten attackierte, wurde er niedergeschossen, später starb er im Krankenhaus. Auch von diesem Fall existiert ein Handyvideo. Darauf ist zu sehen, dass die Beamten dem verwirrten, auf dem Boden liegenden Mann ins Bein schießen, mit Pfefferspray besprühen, in den Nacken treten und einen Diensthund auf ihn loslassen. Eine psychisch kranke Frau, Anfang 50, war 2011 in ihrer Wohnung von einem Polizisten erschossen worden.

Kelcey und Isabella, die beiden Au Pairs aus Kanada, wollten den Freitag noch zum Sightseeing nutzen, inklusive Stadtrundfahrt im Doppeldeckerbus. Zum Alexanderplatz werden sie zurückkehren. In der Nähe des Bahnhofes befindet sich ihr Hostel.

Hannes Heine

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