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1981. Der Tagesspiegel präsentiert sich 1981 mit seinem Videotext-Angebot auf der Internationalen Funkausstellung Berlin. Die Nachrichten erscheinen auf der gemeinsamen Plattform von ARD und ZDF
© Heinrich von der Becke

70 Jahre Tagesspiegel: Von Bahr bis Karasek - prominente Autoren von früher

Ob Klaus Bölling, Jobst Siedler oder Günther Rühle – sie alle waren Teil der Redaktion. Die Geschichte des Tagesspiegels ist auch eine seiner großen Autoren, die weit darüber hinaus wirkten.

Eine lebende Legende“ nannte Sigmar Gabriel seinen Parteigenossen Egon Bahr auf der Trauerfeier in der vergangenen Woche und würdigte dessen politische Verdienste. Die hat er unbestritten, doch mit Egon Bahr starb vor einem Monat auch der letzte noch lebende Tagesspiegel-Reporter aus den 1940er Jahren. Bahr war gerade mal 26, als er 1948 hier anfing. Sein Auftrag: die Bindung an den Westen erhalten. In Hamburg soll er eine norddeutsche Redaktion aufbauen. Nicht einfach während der Blockade, als ebendiese Bindung endgültig zu zerreißen droht.

Mit dem ersten Bus, der die Grenze wieder passieren darf, macht er sich am 12. Mai 1949 auf in die isolierte Halbstadt West-Berlin, unterwegs sind die Straßen leer gefegt, „verfallen lehnen sich die Häuser aneinander“. Mittendrin stoppen Volkspolizisten den Bus, behaupten auf Sächsisch, die Strecke sei zur Einreise nach Berlin noch nicht freigegeben: „Diesmal war ein Päckchen Zigaretten nötig.“ Um 20 Uhr erst ist Bahr in Berlin, am nächsten Tag steht seine Reportage trotzdem auf der Seite drei.

Egon Bahr: über den Rias zu Willy Brandt

Keine Frage, er war ein schneller Schreiber. Trotzdem wurde das Hamburger Experiment abgebrochen, Bahr als Korrespondent nach Bonn geschickt. Bis zum September 1950, da erschien im Tagesspiegel die Meldung: „Der bisherige Leiter, Egon Bahr, wird künftig in unserer Berliner Redaktion tätig sein.“ Das stimmte leider nicht, Bahr verließ das Haus, wechselte zum Rias, wurde unter Bürgermeister Willy Brandt Senatssprecher.

Seinem Auftrag blieb er trotzdem treu: Die deutsche Ostpolitik blieb sein Thema. Zur gleichen Zeit wie Egon Bahr war übrigens noch ein anderer für den Tagesspiegel tätig, der später große Politik verkünden sollte: Klaus Bölling wurde Regierungssprecher während Helmut Schmidts Kanzlerschaft. Da hatte er bereits eine Karriere als USA-Chefkorrespondent der ARD und Intendant von Radio Bremen hinter sich. Angefangen hatte Bölling aber 1947 als 19-Jähriger beim Tagesspiegel. Er soll sogar der erste Volontär überhaupt gewesen sein, 1953 schied er als Redakteur aus. Bahr und vor allem Bölling kamen am Anfang ihrer Karriere zum Tagesspiegel, bevor sie ihn als Sprungbrett nutzten.

Andere hatten bereits einen Namen, als sie hier anfingen – und plötzlich im Zimmer nebenan saßen. Hellmuth Karasek kam als Professor und war durch das „Literarische Quartett“ an der Seite Marcel Reich-Ranickis längst eine Fernsehgröße, da stieg er 1997 beim Tagesspiegel als Mitherausgeber ein. Kraft seiner Vita als Dramatiker und verantwortlicher Kulturjournalist in „Spiegel“ und „Zeit“ konnte er einen beeindrucken. Vor allem aber tat er es dadurch, dass er Woche für Woche in der Sonntagsausgabe unfassbar charmant aus seinem Leben erzählte.

So plauderte er über Hitler, Marilyn Monroe – er schlief in ihrem Bett, sie war leider nicht da –, Billy Wilder, Erich Mielke, denen er allen auf die eine oder andere Art einmal nahegekommen war. Und abends kam er in die Sportsbar mit – wenn Bayern München spielte. Ein einziges Privileg nahm er dort für sich in Anspruch, kein Bier, er blieb lieber beim Champagner. 2004 wechselte Karasek als Autor zu Springers Zeitungen „Welt“ und „Hamburger Abendblatt“. Ein Karrieresprung?

Rühle war Feuilleton-Chef der „FAZ“ und Intendant des Frankfurter Schauspiels

Er wollte wohl einfach mal wieder etwas anderes machen. Hellmuth Karasek war aber nicht der einzige Prominente, der sich um die Kultur des Tagesspiegels verdient machte. Vor ihm kam Günther Rühle und nahm zwischen Bücherstapeln und Manuskriptbergen Platz. Rühle war als Feuilleton-Chef der „FAZ“ nicht nur einer der führenden deutschen Theaterkritiker, als Intendant des Frankfurter Schauspiels machte er gleich selbst Theater. Und so einer wechselt 1991 zum Tagesspiegel, da war klar, Berlin ist im Wandel, rückt vom Rand wieder ins Zentrum.

Als er 1995 mit inzwischen 71 wieder ausschied, tat er das nicht, um in Rente zu gehen. Er holte erst richtig aus, zum Mammutwerk, dem zweibändigen „Theater in Deutschland“, Band zwei brachte er mit fast 90 heraus. Und immer noch ist er aktiv als Präsident der Alfred-Kerr-Stiftung. Auch Walther Stützle eilte ein Ruf voraus, als er 1991 als Stellvertretender Chefredakteur zum Tagesspiegel kam: der eines Direktors des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri, das er fünf Jahre lang geleitet hatte.

Nicht so gut unterrichtete Kollegen erwarteten einen Pazifisten, was Stützles Aufgabe – er ist übrigens Offizier der Reserve – in Stockholm nicht wirklich gerecht wurde. Tatsächlich hatte Sipri als Forschungsinstitut während der Abrüstungsverhandlungen zwischen den Blöcken eine wichtige Rolle gespielt, indem es die Rüstungsstärke der beteiligten Nationen objektiv feststellte, Raketen, Panzer und Soldaten zählte.

Der Autor dieser Zeilen muss einräumen, mit seinem neuen Chefredakteur einmal heftig aneinandergeraten zu sein. Es ging um das Manuskript eines DDR-Bürgerrechtlers, das Stützle gern im Blatt gesehen hätte. Er fragte: „Was halten Sie davon?“ – „Mir ist der Ton ein wenig zu pastoral.“ Stützle wurde laut. Warum er denn überhaupt nach einer anderen Meinung frage, wenn doch seine schon feststehe?

Es ist eine Sache, Kriege zu kommentieren, eine andere, sie mitmachen zu müssen

Da hielt er inne, es wurde ein konstruktives Gespräch. Stützle verließ 1998 den Tagesspiegel. Es ist eine Sache, Kriege zu kommentieren, eine andere, ungleich belastendere, sie mitmachen zu müssen. Als beamteter Staatssekretär im Verteidigungsministerium unter Rudolf Scharping war er im Kosovokrieg mit Jugoslawien mitverantwortlich für den ersten deutschen Kampfeinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg. Jahre später, im Dezember 2014, war Stützle einer der Initiatoren des Appells „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen“, in dem die Bundesregierung zu stärkeren Anstrengungen für eine neue Entspannungspolitik aufgerufen wird. Wieder anders war die Situation bei Lutz Hachmeister. Als der 1987 beim Tagesspiegel anfing, war er gerade mal 28, hatte aber bereits promoviert, was damals eher ungewöhnlich war.

1987 war eine Zeit der deutlichen Hierarchien. Dass ein nicht einmal Dreißigjähriger antrat, ein Ressort praktisch neu zu erfinden, war irgendwie nicht vorgesehen. Denn Hachmeister nahm sich vor, die Fernsehseite, die sich bis dahin im Abdruck des täglichen TV-Programms und zweier knapper Rezensionen von Sendungen des Vorabends erschöpfte, zur Medienseite umzugestalten. Er rannte keine offenen Türen ein, was ihm aber egal zu sein schien. Zum Glück. Er verringerte in seinem Ressort den Abstand zu den großen Konkurrenten in West-Deutschland.

Zwei Jahre später war West-Berlin keine Insel mehr und West-Deutschland plötzlich viel näher. Mit 30 ging Hachmeister wieder, wurde Leiter des Grimme-Instituts. Er habilitierte sich, war Gründungsdirektor des Berliner „Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik“, machte Filme, gewann schließlich auch den Grimme-Preis. Die Hierarchien, die Hachmeister beim Tagesspiegel 1987 vorfand, können nicht immer so steil gewesen sein. Denn auch Wolf Jobst Siedler war 28 Jahre alt, als er 1955 beim Tagesspiegel anfing – als Feuilletonchef.

Neun Jahre blieb er und hinterließ einen ungeheuren Eindruck. In einer Umfrage nach den bekanntesten Tagesspiegel-Namen lag er noch in den 90er Jahren ganz vorn. Der junge Siedler definierte den Kulturteil neu, indem er die großen Namen seiner Zeit ins Blatt brachte: Arthur Koestler, Hannah Arendt, Saul Bellow. Und er stieß Debatten an: Literatur, Kunst, Geschichte, Architektur – Siedler ließ nichts aus.

Alles vor dem Hintergrund der Stadt Berlin und in ihrem Schicksal. Die Eröffnung der Internationalen Bauausstellung 1957 war ein Versuch, im Trümmerfeld des Zweiten Weltkriegs neue städtebauliche Akzente zu setzen. Siedler zeigte sich unbeeindruckt: Das Hansaviertel, gerade fertiggestellt, biete nichts Revolutionäres. Die Prominenz, die an seinem Wiederaufbau beteiligt war, habe an anderer Stelle Gleiches oder Ähnliches gebaut.

Günter Prinz war Polizeireporter, später Chefredakteur der "Bild"

Der Verdienst bestehe allein darin, „dass hierzulande endlich auch einmal alte Erkenntnisse angewandt werden“. Siedler, der den Bildhauer Schadow, Schöpfer der Quadriga auf dem Brandenburger Tor, zu seinen Vorfahren zählte, litt unter dem hemdsärmeligen Pragmatismus des Wiederaufbaus, vor allem als der im Gewand der Kahlschlagsanierung abräumte, was der Krieg übrig gelassen hatte.

Seine Essays gipfelten in dem Buch „Die gemordete Stadt“, das 1964 erschien, da war er schon nicht mehr beim Tagesspiegel. Siedler wurde eine der bedeutendsten Verlegerpersönlichkeiten Nachkriegs-Berlins. Von Bildung und Herkunft dem Vorkriegs-Berlin verbunden, endete mit seinem Tod 2013 eine Epoche, schrieb der langjährige Tagesspiegel-Herausgeber Hermann Rudolph im Nachruf. Zurück zu Egon Bahr.

Nach dessen Tod dürfte der heute 86-jährige Günter Prinz einer der letzten lebenden Reporter der frühen Tagesspiegel-Jahre sein: Von 1950 bis 1952 war er dort Polizeireporter. Ein sehr unterhaltsamer, wie Arbeitsproben belegen. Einen Bericht über die Polizeistatistik – so was kann schnell alltagsgrau werden – schrieb er zur bunten Milieuschilderung aus der Friesenstraße hoch: „Mord hämmern die Typen des Fernschreibers in der Nachrichtenzentrale des Polizeipräsidiums auf einen schmalen Papierstreifen. Wenige Minuten später klettert die rote Kurve mit der Überschrift Mord im Zimmer des Polizeistatistikers ein Stück weiter über das blassblaue Millimeterpapier.“

In den 70er Jahren trieb Günter Prinz dann als Chefredakteur die Auflage der „Bild“ auf fünf Millionen. Da hatte er bereits die Zeitschrift „Eltern“ quasi miterfunden, eine Karriere bei der „Quick“ hinter sich, den Vorstandssitz bei Springer und bei Burda erst noch vor sich.

Dieser Text erscheint zum 70-jährigen Bestehen des Tagesspiegels. Lesen Sie weitere Beiträge zum Geburtstag auf unserer Themenseite.

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