Persönliche Erinnerung an Egon Bahr: Der widerborstige Patriot
Ein Mal erlaubt sich der alte Mann einen Anflug von Wehmut. Da wirkt Egon Bahr unendlich müde - und die Lebensjahre lasten auf seinen Schultern.
Ein einziges Mal während des Mittagessens im sommerlich leichtfüßigen Berlin erlaubt sich der alte Mann einen Anflug von Wehmut, nur ein einziges Mal. Da verläuft sich ein halber Satz irgendwo am Seeufer und geht dort im Schilf unter. Da wirkt er unendlich müde, und die Lebensjahre lasten sichtbar auf seinen Schultern. Da scheint er am Ende des Regenbogens angelangt, aber auch am Ende seiner Kraft, die nicht mehr reicht, um den Schatz auszugraben. Da lässt er die Kartoffeln kalt werden, das Fleisch, die Erbsen. Da verflüchtigt sich im Dunst der Zigarette die Erinnerung, weil er glaubt, alles schon mal gesagt zu haben.
Zuvor hat er so jung von seiner längst vergangenen Zeit gesprochen, als könne sie ihm entrinnen, als müsse er umgehend zu Verhandlungen über irgendeinen Gewaltverzichtsvertrag nach Moskau fliegen, als warte auf ihn an der nächste Ecke bereits ein Geheimkurier in einem schwarzen Volvo mit getönten Scheiben, als habe ihm die Geschichte nur eine kurze Pause von zwanzig Jahren gegönnt. Typisch allerdings für Egon Bahr, dass er sich von privater Sentimentalität, diesem Anflug von Wehmut, nicht beeindrucken lässt. Um gar nicht erst in Versuchung zu geraten, über Einstzeit und Jetztzeit zu philosophieren, erhebt er mit einer lakonischen Pointe die Stimmung wieder ins faktenreiche Leben, verteilt wedelnd den Zigarettenrauch vor seinen Augen und verkündet, zunächst werde er die Geschichte seines vierten Tages danach erzählen und dann erst von anderen drei Tagen berichten, die vor diesem vierten passiert und sehr viel politischer gewesen sind.
Die Bahrsche Anti-Chaos-Theorie
Was ein typisches Verhalten ist für Egon Bahr, denn grundsätzlich neigt er dazu, während eines Gesprächs, egal worüber und egal vor welchem Forum, erstens und zweitens und drittens zu sagen, bevor er loslegt, um eine Ordnung ins Chaos zu bringen. So wie er es zeitlebens bei Verhandlungen gehalten hat, egal auf welcher Ebene, egal wo, egal mit wem. Ob mit Henry Kissinger oder mit Andrej Gromyko, ob mit Michael Kohl oder mit Herbert Wehner. Diese Art, punktuell vorzugehen, war für ihn wie ein diplomatisches Korsett. Wer Punkt für Punkt abgearbeitet hatte, konnte das Wörtchen "abgehakt" einfügen und dadurch sicher sein, am Ende nichts vergessen zu haben. Das war die Bahrsche Anti-Chaos-Theorie.
Diese Theorie hat er einst bei seinen Missionen im Namen des damals noch geteilten Vaterlandes stets in die Praxis umgesetzt und deshalb nie etwas Wesentliches vergessen. Heute allerdings kommt es vor, dass er Punkt vier auf seiner imaginären Agenda nie erreicht, weil die Geschichten, die hinter den ersten drei Punkten verborgen sind, von ihm entweder so gut erzählt werden, dass man Punkt vier vergisst oder weil die Sendezeit vorher abgelaufen ist.
Wie Macht schmeckt, was sie kostet
Er schiebt seinen Teller achtlos zur Seite und konzentriert sich auf eine unendliche Geschichte, auf die Macht und wie sie schmeckt und was sie kostet. Ob er eigentlich schon mal erzählt habe von einem ähnlich wie heute sonnigen Mittag, als er mit Rainer Barzel in dessen Haus am Fuß der Zugspitze saß und die beiden Kämpen über ihre frühen Leidenschaften redeten und so viele Weißwürste aßen, wie sie schaffen konnten? Er übrigens schaffte sieben. Nein, hat er nicht erzählt, aber das gehört eigentlich auch nicht hierher. Ein intelligenter Mann, der Barzel, nicht so verbohrt wie viele andere aus seiner Partei sei der gewesen, sagt Egon Bahr, und was für ein Schicksal habe der zu ertragen gehabt und...
Aber gut, zurück zum ersten Tag danach, den er bei sich einordnet als den vierten. Das war einer viele Jahre nach der Wiedervereinigung, zu deren Gelingen auch Egon Bahr in zähen Verhandlungen beigetragen hat. Zumindest könnte man das so sehen, auch wenn es im Wortsinne keine Wiedervereinigung war, was unter dem Rubrum Wiedervereinigung gehandelt wird, aber von gewissen Verhandlungen wird Bahr selbst viel besser erzählen am Beispiel von zwei ganz bestimmten Tagen, zweitens, drittens, viertens.
Jetzt bleiben wir bitte erstens, zweitens, drittens mal beim Thema, also bei viertens, dem Tag danach, von dem er mir erzählen wollte. Egon Bahr ist an diesem Tag in seinen Geburtsort Treffurt in Thüringen gefahren. Die örtliche Feuerwehrkapelle spielt, und es werden Reden gehalten, und er ist der Ehrengast. Eine Straße soll nach ihm benannt werden. "Wer erlebt so etwas schon zu Lebzeiten?" Eine alte Frau sei auf ihn zugekommen und habe ihn gefragt, ob er denn wisse, wer ihn auf die Welt gebracht habe, in Treffurt an der Werra? Na, meine Mutter natürlich, hat Bahr geantwortet, wer denn sonst. "Eben nicht", habe daraufhin die alte Frau triumphierend erwidert, "es war meine Großmutter. Die war nämlich Hebamme hier."
Ein steiniger, kurviger, dornenreicher Weg
Um in einer Demokratie Politik zu betreiben für einen Mann wie Egon Bahr eine Leidenschaft wie für andere Männer die Eroberung einer Frau, wobei diese Leidenschaft sterblich ist, seine nicht, brauche es eine moralische Grundhaltung. Also einen Standpunkt, von dem aus die Welt nicht nur betrachtet wird, sondern gemessen werden muss. Brauche es landmarks, und er benutzt das englische Wort ganz bewusst, weil es mehr als die simple deutsche Übersetzung Grenzsteine beinhaltet, nämlich Wegzeichen, ja fast Leuchtfeuer.
Diese Orientierungen sind Wegweiser auf einem steinigen, kurvigen, dornenreichen Weg. Das Ziel als solches ist in der Theorie erkannt worden, aber es ist noch lange nicht erkennbar. Ab und zu muss man sich also im unwegsamen Gelände Politik an diesen Meilensteinen festhalten, um nicht in Morast, Sumpf, Abgründe zu rutschen, muss neuen Atem schöpfen, bevor man weitergeht. Machbar sei das alles auch ohne Moral, na klar. Aber falls machbar, doch bitte nicht. Es kann mitunter unerlässlich sein, über den Umweg der Sünde — und die Lüge ist nun mal eine Sünde, kein Zweifel —sich dem hehren Ziel zu nähern, was an sich unmoralisch sei, aber manche Mittel seien nun mal durch den Zweck geheiligt.
Insofern hätten doch, holt Egon Bahr noch einmal spöttisch aus, manche Politiker und manche Chefredakteure großer Blätter mehr Gemeinsamkeiten, als man sich das beim gemeinen Volk gemeinhin vorstellt. Ihre Gehälter allerdings seien doch recht unterschiedlich. Die einen verdienen das Doppelte von dem, was ein Kanzler verdient und das Vielfache der Minister, von den Diäten eines Abgeordneten mal zu schweigen, und erheben sich auf dieser finanziell gesicherten Basis zum Moralapostel, aber das sei wiederum ein anderes Thema.
Er riet Brandt, alles hinzuschmeißen
Ob er das schon mal erzählt habe?, fragt er und bestellt sich ein Kännchen Kaffee, als wäre er nur einer der vielen Berliner Rentner, deren Höhepunkt an jedem Tag, der ihnen noch bleibt, nach der Mahlzeit das Käffchen ist. Dass Willy Brandt am 6. Mai 1974 zurücktreten würde, wusste Egon Bahr, sein getreuer Freund, schon lange. Er hatte ihm sogar geraten, alles hinzuschmeißen, um sich nicht weiter durch die widerwärtige Affäre Guillaume beschädigen zu lassen. Willy, habe er ihm gesagt, lass es, es hat keinen Sinn mehr. Sie wollen dich fertig machen.
Dass man Brandt wie eine waidwunde Sau durchs Dorf jagen würde, schien ihm als Preis für den Erhalt der Macht zu hoch. Bahr ist immer noch überzeugt davon, dass es der richtige Rat zur richtigen Zeit gewesen ist. Brandt hätte Wehner rausschmeißen sollen, nachdem der gegen ihn stänkerte, aber weil er das nicht schaffte, habe es nur eine Konsequenz gegeben: "Gegen einen Fraktionschef kann ein Regierungschef nicht regieren. Der ist immer der Stärkere."
Es war plötzlich ein anderes Leben
Dieser Stärkere stand mit ihm bei Brandt im Zimmer an jenem Tag, und Willy teilte ihnen seinen Entschluss mit, der Bahr ja nicht mehr überraschte, bat dann beide Genossen, vorauszugehen in die SPD-Fraktion, er werde gleich folgen. Draußen packte ihn Wehner bei der Schulter, presste sie fest und knurrte, diesen Tag müsse man nun gemeinsam durchstehen, "Da wurde es mir fast schlecht", sagt Egon Bahr und drückt die Zigarette aus. Als in der Fraktionssitzung, jener berühmten, Herbert Wehner mit hochrotem Kopf und einer Art Kampfschrei brüllte: "Wir lieben ihn alle", da brach Pokerface Bahr endlich zusammen und zeigte sein Gesicht und weinte. Weinte weniger aus Trauer als aus ohnmächtiger Wut über so viel Heuchelei.
Das war sein dritter Tag danach, und es war einer wie keiner zuvor und keiner je danach. Danach ging das Leben zwar weiter, na klar, sagt Egon Bahr, aber es war doch ein ganz anderes. Er bricht ab und schickt dem Satz Gedanken hinterher, die sich im Rauch seiner Zigarette verlieren. Nur die drückt er aus.
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