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Ein Schuh war alles, was von Walter Linse zurückblieb, als er 1952 von der Stasi in Lichtenberg entführt wurde.
© Ullstein

Entführung von Trinh Xuan Thanh: Vier Fälle von Menschenraub in Berlin

Die Entführung eines Vietnamesen hat zu einer diplomatischen Krise geführt. Nicht zum ersten Mal verschwindet ein Mensch aus der Stadt. Ein Rückblick.

Der Fernsehauftritt verhieß nichts Gutes. Jedenfalls nicht für Trinh Xuan Thanh, den 51-jährigen Geschäftsmann, der so plötzlich aus Berlin verschwand. Zehn Tage später, am vorigen Donnerstag, tauchte er dann wieder auf: diesmal in den vietnamesischen Abendnachrichten. Das Publikum sah ihn im roten Polohemd und etwas derangiert. Der ehemalige Manager und Parteifunktionär zeigte Reue, vorgeworfen werden ihm Unterschlagung in dreistelliger Millionenhöhe. Das Ganze wirkt dennoch, als habe der Prozess gegen ihn schon begonnen. Und der wird dann wohl eher ein kurzer.

Es ist das Ende einer Flucht, die Thanh nach Berlin geführt hatte. Hier stellte er einen Antrag auf Asyl, hier hätte er sich mit juristischen Mitteln gegen ein Auslieferungsbegehren wehren können. Das dauerte den vietnamesischen Behörden offenbar zu lang. Augenzeugen gaben an, Thanh sei morgens um zehn im Tiergarten in ein Auto gezogen worden. Zurück am Straßenrand, blieb sein Handy. Ein ungewöhnliches Szenario für jemanden, der sich angeblich freiwillig auf Reisen begab.

Trinh Xuan Thanh
Trinh Xuan Thanh
© dpa

Sehr viel spricht also für eine Entführung, ein eklatanter Verstoß gegen das Völkerrecht. Die Bundesregierung reagierte entsprechend scharf, wies den hiesigen Statthalter des vietnamesischen Geheimdienstes aus. Kommentatoren wundern sich, über einen Rückfall in Machenschaften, wie man sie eigentlich mit dem Ende des Kalten Kriegs für überwunden hielt. Tatsächlich hat es in der Vergangenheit ähnliche Fälle gegeben. Und oft, aber keineswegs immer, waren diktatorische Regimes darin verwickelt, wie eine Rückschau belegt.

Der Fall Jeffrey Carney

Montag, 22. August 1991. In Friedrichshain verlässt der 27 Jahre alte Jens Karney am Morgen sein Haus in der Pintschstraße 12. Er bemerkt, dass er verfolgt wird. Die drei Männer hinter ihm gehören zum OSI, Office of Special Investigations, dem Abschirmdienst der US-Luftwaffe. Sie kennen den Berliner BVG-Mitarbeiter Jens Karney als Jeffrey Carney, geboren 1963 in Cincinnati im US-Bundesstaat Ohio.

Tatsächlich ist Carney bereits mit 17 in die US-Luftwaffe eingetreten, die ihn zum Abhörspezialisten schult und nach Berlin schickt. 1982 liegt sein Arbeitsplatz in Marienfelde. Auf einem ehemaligen Trümmerberg betreiben die US-Streitkräfte dort eine Abhörstation, die mit ihren weißen Kuppeln ganz ähnlich aussieht wie die bekanntere Anlage auf dem Teufelsberg. Carney lauscht dem Funkverkehr der DDR-Piloten.

Der Fehler seines Lebens ist, sein Wissen mit der Ost-Berliner Staatssicherheit zu teilen. Zwei Jahre lang liefert er amerikanische Militärgeheimnisse aus Berlin, ein weiteres Jahr auch aus seinem neuen Einsatzort Texas. Carney gibt später an, als Homosexueller von den Kameraden verachtet, von den Vorgesetzten drangsaliert worden zu sein, seine Motive waren also eher persönlich, kaum politisch.

1983 flieht Carney aus Texas und sucht Zuflucht in Mexiko, in der dortigen Botschaft der DDR. Über Kuba wird er zurück nach Berlin transportiert, wo Carney eine deutsche Identität erhält und für 49,30 Mark Monatsmiete in der Pintschstraße einzieht.

Jeffrey Carney
Jeffrey Carney
© Kai-Uwe Heinrich

Carney, dessen DDR-Papiere ihn nun als Jens Karney ausweisen, bleibt, was er war, ein Abhörspezialist. Jetzt belauscht er die Kollegen von einst. Dann kommt die Wende. Karney schult zum U-Bahn-Fahrer um. Aber der US-Geheimdienst hat ihn schnell auf dem Schirm; unklar ist, ob ihn ehemalige Stasi-Leute verraten haben.

Kai-Uwe Heinrich, heute Tagesspiegel-Fotograf und 1991 in gleicher Funktion für die Amerikaner auf deren Luftwaffen-Basis in Tempelhof beschäftigt, erinnert sich an die zweimotorige Maschine, die auf dem Tempelhofer Flugfeld wartet. Limousinen fahren vor, ein Mann wird in die Maschine verfrachtet. Am 23. August fliegt Karney über Frankfurt in die USA. Heinrich bekommt die Aufgabe, ein paar Filme zu entwickeln. Sie stammen aus Karneys Wohnung, zeigen seinen Betriebsausweis als Mitarbeiter der Berliner Verkehrsbetriebe und eine Urkunde „Held der Arbeit“.

In den USA wird Carney in einem nichtöffentlichen Prozess zu 38 Jahren Haft verurteilt, von denen er bis zu seiner vorzeitigen Entlassung elf Jahre und sieben Monate im Militärgefängnis in Fort Leavenworth absitzt.

Zum Zeitpunkt seines Ergreifens war die Bundesrepublik Deutschland ein souveräner Staat, denn das seit Kriegsende geltende Besatzungsstatut endete mit dem Inkrafttreten der Zwei-plus-Vier-Verträge am 15. März 1991. Die Bundesregierung protestiert denn auch gegen die „gewaltsame Rückführung“ Carneys, dem eigentlich in Deutschland der Prozess hätte gemacht werden müssen. Der Protest erfolgt allerdings erst, nachdem die öffentliche Berichterstattung einigen Wirbel auslöst. Als Carney 2003 entlassen wird, erkennt die Bundesrepublik seine deutsche Staatsangehörigkeit nicht an. Er lebt heute in Ohio.

Vor der Carney-Affäre war man in der Öffentlichkeit davon ausgegangen, dass vor allem die DDR zum Mittel der Entführung griff, wenn es darum ging, politische Gegner aus dem Verkehr zu ziehen. Tatsächlich war der ostdeutsche Staat in dieser Hinsicht außerordentlich aktiv.

Die Historikerin Susanne Mühle hat in ihrem Buch „Auftrag: Menschenraub“ rund 400 Fälle gesammelt, in denen West-Berliner oder Bundesbürger in die DDR verschleppt wurden. Oft in enger Abstimmung mit ihrem sowjetischen Verbündeten, wie der folgende Fall zeigt, in dem es einen Mitarbeiter des Tagesspiegel traf.

Der Fall Wolfgang Hansske

6. September 1948, im Neuen Stadthaus in der Parochialstraße ist die Sitzung der Stadtverordnetenversammlung von Berlin angesetzt. Mit Tumulten muss gerechnet werden. Denn die Stimmung in der mittlerweile geteilten Stadt ist angespannt, seit sowjetische Truppen am 24. Juni damit begonnen haben, die Zufahrtswege in den Berliner Westen zu blockieren. Die Alliierten kontern, indem sie ihre Stadthälfte aus der Luft versorgen.

Für den Tagesspiegel soll Wolfgang Hansske von der Sitzung berichten. Doch die kann nicht mehr ordnungsgemäß durchgeführt werden, nachdem Demonstranten den „Bärensaal“ stürmen. Geschützt werden sie von der Ost-Berliner Polizei, deren Präsidenten Paul Markgraf zwar die Sowjets eingesetzt haben, Bürgermeister Ferdinand Friedensburg aber entlassen hat. Glasscheiben splittern, Journalisten und Abgeordnete werden attackiert, suchen Schutz bei anwesenden westalliierten Verbindungsoffizieren. Ein französischer Hauptmann zieht seine Pistole, kann willkürliche Verhaftungen aber nicht verhindern.

Die Abgeordneten aus den Westbezirken flüchten in den britischen Sektor, setzen ihre Tagung im Audimax der Technischen Universität fort. Die Ost-Berliner bleiben im Stadthaus, damit ist die Spaltung der Stadt auch formal vollzogen.

Wolfgang Hansske taucht an diesem Tag nicht mehr im Tagesspiegel auf, der damals in West-Berlin im Tempelhofer Ullsteinhaus produziert wird. Er kommt auch nicht am nächsten oder am übernächsten Tag. Stattdessen verurteilt ihn ein sowjetisches Militärgericht wegen Spionage, antisowjetischer Propaganda und Gründung einer antisowjetischen Vereinigung zu dreimal 25 Jahren Lagerhaft. Erst nach sieben Jahren kommt er heim, vorzeitig entlassen aber an Leib und Seele zerrüttet. Außentermine nimmt er keine mehr wahr, er ist fortan ein sehr stiller Mann, wie sich ältere Kollegen erinnern.

Der Fall Walter Linse

Trifft es Hansske in Ost-Berlin, ereignet sich die wohl brutalste Entführung im Westteil der Stadt. Dort engagiert sich Walter Linse nach seiner Flucht aus der sowjetisch besetzten Zone, wie es 1949 noch heißt, im „Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen“. Dessen Ziel: Menschenrechtsverletzungen in der DDR benennen. Dabei wird der Ausschuss von der CIA finanziert und unterstützt, was Linse in der DDR zum Staatsfeind macht.

Als er am 8. Juli 1952 sein Haus in der Lichterfelder Gerichtsstraße 12 – die heute Walter-Linse-Straße heißt – verlässt, wartet dort ein vermeintliches Taxi auf ihn. Tatsächlich ist die echte Taxe gestohlen worden, dieser Wagen hier ist eine von der Stasi eigens beschaffte und präparierte Doublette. Der Fahrer bittet Linse erst um Feuer und als der in seiner Aktentasche nach einem Feuerzeug sucht, versuchen der vermeintliche Chauffeur und drei bereitstehende Komplizen Linse in das Taxi zu zerren.

Walter Linse
Walter Linse
© picture-alliance/ dpa

Der wehrt sich, einer der Entführer schießt ihm ins Bein, als Linse sich gegen die Tür stemmt. Auf der Flucht versuchen erst ein Lieferwagen, dessen Fahrer die Tat beobachtet hat, und dann eine Polizeistreife das Taxi zu stoppen. Doch der Wagen entkommt nach Teltow. Die Entführer werden von der DDR-Führung mit einer Reise nach Heringsdorf belohnt.

Linse wird von einem sowjetischen Militärgericht zum Tode verurteilt und auf einem Moskauer Gefängnishof erschossen. 40 Jahre nach seinem Tod wird Linse 1992 durch den Moskauer Generalstaatsanwalt rehabilitiert. Weitere zehn Jahre später entbrennt eine Kontroverse darüber, inwieweit Linse als sogenannter Arisierer die Enteignung jüdischen Firmenbesitzes betrieb und damit an den Untaten des NS-Regimes beteiligt war.

Der Fall Yun I-Sang

Ein anderes Ende nahm 1967 der Fall des Koreaners Yun I-Sang. Dabei begann der kaum weniger dramatisch. Yun hatte sich in seiner Heimat bereits einen Namen als Komponist gemacht, als er 1957 nach West-Berlin übersiedelte, um hier mit 40 Jahren seine Studien insbesondere der Zwölftontechnik fortzusetzen. In Europa kritisierte er das in Südkorea regierende Militärregime, folgte 1963 als Anhänger der Wiedervereinigung sogar einer Einladung nach Nordkorea. Das reichte, um ihn ins Visier des südkoreanischen Geheimdienstes zu rücken.

Am 17. Juni erhielt Yun in seiner Kladower Wohnung einen sehr frühen Anruf. Zwei Koreaner wollten seinen musikalischen Rat, lehnten aber die Fahrt nach Spandau ab. Stattdessen schlugen sie einen Treffpunkt im Stadtzentrum vor. Angeblich von dort rief Yun seine Frau an, erzählte von einer plötzlichen Reise, die ihn sofort nach Bonn und Paris führen würde.

Fünf Tage später wurde auch seine Frau nach Bonn gerufen. Sie verabschiedete sich von ihren Kindern, 13 und 17 Jahre alt, und tat wie geheißen. Die nächste Nachricht von beiden kam aus einem Gefängnis in Seoul. Yun sollte wegen verbotener Beziehungen zu Nordkorea der Prozess gemacht werden, im schlimmsten Fall drohte ihm die Todesstrafe.

Die beiden waren Teil einer Entführungswelle, die mehrere in der Bundesrepublik lebende Koreaner damals traf – wobei die koreanische Seite behauptete, die Ausreise sei freiwillig erfolgt; allerdings nicht in allen Fällen, wie es einschränkend hieß. Freiwillig hieß auch, dass die Ausreise durch Druck auf in Korea lebende Angehörige erpresst wurde.

Yun-I-Sang.
Yun-I-Sang.
© imago/ZUMA/Keystone

Yun wurde in einem Schauprozess zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch die internationalen Proteste wurden nicht leiser. Und nicht nur das Auswärtige Amt engagierte sich, sondern vor allem auch die internationale Musikszene, darunter Igor Strawinski, Herbert von Karajan und Karlheinz Stockhausen. Nach zwei Jahren wurde Yun freigelassen, er kehrte nach Berlin zurück und setzte seine Arbeit als vielfach ausgezeichneter Komponist fort.

Im Fall des Vietnamesen Thrin Xuan Thanhs steht noch aus, welches Schicksal ihn erwartet. Ebenso unklar ist, ob und welche Schuld er auf sich geladen hat. So wie sich im Fall Walter Linse erst nach 50 Jahren offenbarte, der Mann machte sich möglicherweise schwerer Verbrechen schuldig, Die standen freilich nicht einmal zur Debatte, als Linse wegen „Spionage, antisowjetischer Propaganda und Bildung einer antisowjetischen Organisation“ vor Gericht stand.

Und so gilt für Linse ebenso wie für alle anderen Entführungsopfer der Grundsatz, dass kein Unrecht mit einem anderen vergolten werden darf.

Andreas Austilat

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