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Korea-Konflikt: Schuld ohne Sühne

Vor dreißig Jahren glaubte Oh Kil-nam, das bessere Korea im Norden zu finden. Ein Irrtum. Er floh. Doch Frau und Kinder ließ er zurück. Seitdem hat er sie nicht wieder gesehen.

Im Oktober 2011 konnte Oh Kil-nam noch einmal zurückreisen in die heile Welt der Vergangenheit. Für einen Tag fuhr er nach Kronshagen bei Kiel, schaute sich das Wohnhaus von damals in der Bertha-von-Suttner-Straße an, besuchte den Kindergarten und den Spielplatz, auf dem er einst so viel Zeit mit seinen zwei Töchtern verbracht hatte. Die Erinnerungen überwältigten Oh. „Kronshagen ist die ewige Heimat meiner Kinder“, sagt er, blickt auf den Boden seines Wohnzimmers und murmelt etwas. Es klingt wie „bereuen . . . zu spät“.

Oh Kil-nam wohnt in einer Plattenbausiedlung im Norden der südkoreanischen Hauptstadt Seoul, sein kleines Apartment befindet sich im 15. Stock. Neben dem Computer liegt ein Mousepad, das den Kölner Dom zeigt, Heidelberg, Lübeck und Dresden. Im Bücherregal im Schlafzimmer stehen Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ neben Goethes „Faust“. Andenken an die beste Zeit seines Lebens.

Deutschland wird für Oh immer das Paradies bleiben. Als er es aus freien Stücken verließ und seine Familie mitnahm in „diese verdammte Hölle“, wie er sagt, war er 43 Jahre alt. Heute ist er 70 – ein Mann mit kugelrundem Bauch und traurigen Augen, der Karo-Hemd, weite Hosen und eine große Brille trägt. Sein Deutsch ist noch gut, je länger er spricht, desto besser wird es. Einer von Ohs ersten Sätzen lautet: „Mit dem Alkohol habe ich aufgehört, aber ich bin seelisch und physisch zerstört.“ Er wirkt fahrig, seine Geschichte beginnt er irgendwo in der Mitte, springt dann Jahre zurück und von dort in die Gegenwart. Als Zuhörer muss man die einzelnen Teile zusammensetzen wie ein Puzzle.

1985 wanderte Oh Kil-nam, gebürtiger Südkoreaner und seit 1970 in Deutschland lebend, mit seiner Frau und den kleinen Töchtern nach Nordkorea aus. Doch von der Hoffnung, die ihn dorthin geführt hatte, blieb bald nichts mehr, für Oh war das Land ein Albtraum. Er hielt es nicht aus, ließ die Familie sitzen und kehrte auf einer abenteuerlichen Flucht zurück. Frau und Kinder kamen deshalb für viele Jahre ins Arbeitslager – in Nordkorea gilt Sippenhaft. Oh hat die drei seitdem nicht wiedergesehen. Laut den Behörden in Pjöngjang ist seine Frau 2008 gestorben. „Und meine Töchter wollen angeblich nichts mehr von ihrem Papa wissen“, sagt er.

Der Fall sorgt bis heute immer wieder für Schlagzeilen in Südkorea. Als die auf Ausgleich mit dem Norden bedachte Linke an der Macht war, schien Oh fast vergessen. Für viele Vertreter der derzeit regierenden Rechten beweist seine Geschichte dagegen, dass man Pjöngjang mit unnachgiebiger Härte begegnen müsse. Auf der koreanischen Halbinsel herrscht noch Kalter Krieg, und wie einst West-Deutschland so streitet Südkorea über den richtigen Umgang mit dem kommunistischen Nachbarn – wenn man das abgeschottete Reich der Familie Kim denn kommunistisch nennen kann.

Heute mag der Konflikt zwischen Süd- und Nordkorea wie einer zwischen Gut und Böse erscheinen. Als Oh Kil-nam Ende der 60er Jahre in Seoul Germanistik studiert, ist die Sache weniger klar. Beide Staaten haben damals mit den verheerenden Folgen des Koreakriegs (1950 – 1953) zu kämpfen. Doch dem Norden unter Diktator Kim Il Sung ist es schneller gelungen, sich zu erholen und zu entwickeln, er liegt wirtschaftlich vorn. Im ärmeren Südkorea herrscht seit dem Putsch von 1961 der amerikatreue, antikommunistische General Park Chung-hee. Park will das Land mit militärischer Härte nach vorne bringen. Systematisch wird die Industrie aufgebaut, Opposition und Gewerkschaften werden unterdrückt.

Als Dolmetscher kommt Oh damals in Kontakt mit dem örtlichen Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung und mit deutschen Gewerkschaftern. 1970 darf er nach Tübingen, wo er ein Volkswirtschaftsstudium beginnt. „Ich wollte die Idee der Sozialpolitik nach Korea bringen“, sagt er heute. Zur gleichen Zeit begegnet er das erste Mal seiner künftigen Frau, beide sind zu Gast auf einer Hochzeitsfeier. Shin Suk-ja ist, wie viele Südkoreanerinnen zu dieser Zeit, als Krankenschwester nach Deutschland gekommen. Bei der Feier hilft sie in der Küche. „Das mochte ich so an ihr: Sie hat sich gerne um andere gekümmert.“

Die beiden verlieben sich, 1972 heiraten sie. Im selben Jahr wechselt Oh an die Uni Kiel, wo er sein Studium vier Jahre später erfolgreich abschließt. Anschließend beginnt er mit seiner Doktorarbeit. Er selbst, sagt Oh, sei immer ein Bücherwurm gewesen, seine Frau dagegen eine Praktikerin, die wegen ihrer vielen Kontakte bald besser Deutsch sprach als er. Die erste Tochter, Hae-won, kommt 1976 auf die Welt, die zweite, Kyu-won, 1978. Zu dieser Zeit wohnt die Familie schon längst in Kronshagen.

Zurück ins Seoul der Gegenwart. Oh Kil-nam holt eine CD aus einer Schublade und legt sie in den Computer ein. Abgesehen von seinen Erinnerungen sind die gut ein Dutzend darauf gespeicherten Fotos beinahe das Einzige, was ihm von seiner Familie geblieben ist. Das Bild eines Babys ist auf dem Bildschirm zu sehen. „Das ist meine erste Tochter“, sagt Oh und drückt auf die Mousetaste. Das nächste Foto zeigt die Töchter gemeinsam, sie müssen um die fünf Jahre alt sein: Die ältere legt ihren Arm um die Schulter der jüngeren, beide lächeln in die Kamera, sie sehen aus wie glückliche Kinder. Auf wieder einem anderen Bild spielen die Schwestern Geige. „Meine zweite ist sehr gut darin“, sagt Oh. Es klingt, als hätte er Kyu-won gestern das letzte Mal spielen gehört und nicht vor 26 Jahren.

Besonders in den 60er und 70er Jahren versuchen Nord- und Südkorea Einfluss auf die koreanische Gemeinde in West-Deutschland zu nehmen. So sollen Agenten des Nordens, als Professoren getarnt, junge Südkoreaner für das Regime in Pjöngjang gewinnen. Sie haben relativ leichtes Spiel: Der Hauptfeind ist damals für südkoreanische Intellektuelle und Studenten die rechte Militärdiktatur in ihrer Heimat. Deren Antikommunismus lässt linke Ideen, wie sie gerade überall auf der Welt en vogue sind, nur noch attraktiver erscheinen. Auch die nordkoreanische Ideologie („Juche“ oder auch „Chuch’e“) wirkt auf manche anziehend, denn sie betont Unabhängigkeit und Autarkie des Landes: Offiziell eine Weiterentwicklung des Marxismus-Leninismus, ist sie in Wirklichkeit eher eine krasse Form von koreanischem Nationalismus. Die eigene Führung dagegen ist in den Augen vieler südkoreanischer Dissidenten amerikahörig. Sie finden: Die Koreaner sollten nicht gegeneinander kämpfen, sondern gemeinsam eine Lösung des Konflikts suchen – ohne fremde Einmischung.

1980 schlägt die südkoreanische Regierung einen Aufstand in der Stadt Gwangju brutal nieder, die USA kommen der Demokratiebewegung nicht zu Hilfe. Oh Kil-nam ist da längst Gegner des Regimes in Seoul, auf Demonstrationen in Deutschland protestiert er gegen die Militärregierung. Zu seinem Bekanntenkreis zählen namhafte linke Exilanten aus Südkorea, etwa der Komponist Yun I-sang. 1967 hatten südkoreanische Agenten Yun und eine Reihe weiterer Landsleute in West-Deutschland entführt und zurück in die Heimat gebracht. Weil sie im Verdacht standen, Spione des Nordens zu sein, wurden sie verhört und gefoltert, manche sogar umgebracht. Die Regierung in Bonn erwog damals den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Seoul. 1969 kam Yun frei und durfte in die Bundesrepublik zurückkehren. Jahre später versuchen er und ein paar andere Aktivisten Oh davon zu überzeugen, nach Pjöngjang zu gehen und dort „bei der Wiedervereinigung zu helfen“ – so behauptet es Oh, Yun hat dieser Darstellung 1992 widersprochen. Die Nordkoreaner stellen Oh damals einen guten Posten als Ökonom in Aussicht, seiner an Hepatitis erkrankten Frau versprechen sie eine kostenlose Behandlung und ein ruhiges Leben.

Suk-ja ist von Anfang an gegen die Idee. Oh redet auf seine Frau ein, erklärt ihr, er werde im Norden als eine Art Entwicklungshelfer gebraucht. „Das sind auch Koreaner“, sagt er, „so schlimm können sie nicht sein.“ Er setzt sich durch, und im November 1985 bricht das Ehepaar mit den beiden Töchtern nach Ost-Berlin auf. Von dort geht es nach Moskau und weiter nach Nordkorea. Auf dem Flughafen von Pjöngjang warten Mädchen in Tracht auf sie, mit Blumen in der Hand. „Schau, was für dünne Kleidung sie trotz der Kälte tragen, und nicht mal Socken haben sie an!“, sagt Suk-ja zu ihrem Mann. „Wohin hast du uns nur gebracht?“ Die vier werden zu einem geheimen Militärstützpunkt in den Bergen gefahren: Dort zeigt man ihnen Propagandafilme, schwört sie wochenlang auf die Juche-Ideologie ein. Anschließend bezieht die Familie eine Hochhauswohnung im Zentrum von Pjöngjang. Oh Kil-nam erfährt, dass es nichts werden wird mit dem Job als Ökonom. Stattdessen soll er bei einem Propagandakanal arbeiten.

Dieser Radiosender, der erst 2004 eingestellt wird, heißt „Stimme der nationalen Rettung“ und richtet sich an die Südkoreaner. Die Macher des Programms geben vor, in Südkorea als Oppositionelle im Untergrund zu leben. Oh verliest unter einem Decknamen Texte, die andere geschrieben haben. Darin preist er den großen Führer Kim Il Sung und ruft zum Sturz des „amerikanischen Marionetten-Regimes“ in Seoul auf. Zu seinen Kollegen gehören Südkoreaner, die nicht übergelaufen sind, sondern entführt wurden – eigens, um als Propagandisten eingesetzt zu werden.

Ohs Frau verweigert mit dem Verweis auf ihre Gesundheit die Arbeit im Sender und zieht sich zurück. Selbst mit den Töchtern Geige üben möchte sie nicht mehr: „Sie hat gesagt, alles sei sinnlos. Auch die Musik war ja zu nichts anderem gut, als den Kims zu huldigen.“ Bei den Kindern, die nur das Leben in Deutschland kannten, löst die neue Heimat anfangs einen großen Schock aus, auch die Sprache müssen sie erst richtig lernen. In Nordkorea herrscht schon damals Mangelwirtschaft. „Meine ältere Tochter hat das verstanden, sie wollte Mama und Papa nicht quälen und verhielt sich still. Aber die kleine fragte immer nach Schokolade oder Cola, und das gab es natürlich nicht“, sagt Oh. „Es war furchtbar.“ Spätestens im Sommer 1986 hat er alle Illusionen über Nordkorea verloren: „Das System dort erwies sich als primitiv und barbarisch.“

War Oh tatsächlich bloß naiv? Der Nordkorea-Experte Andrei Lankov schreibt, dass in den 70er Jahren kaum mehr ein Südkoreaner die Seiten wechselte. Allein schon, weil der Süden mittlerweile einen großen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte. Und in den 80ern „konnten es nur noch blauäugige linke Ideologen, blind gegenüber dem Offensichtlichen, in Betracht ziehen, in den Norden überzulaufen“. Oh selbst kann seine Entscheidung von einst kaum erklären. Er nimmt sich eine Zigarette, trabt auf seinen Balkon, blickt in den Innenhof und auf die Berge am Horizont. „Ich habe Marx hoch geschätzt, aber ich war kein Kommunist“, sagt er, zündet die Zigarette an und beginnt zu rauchen. Plötzlich fährt er fort: „Natürlich waren wir damals ein bissle an der Seite Nordkoreas. Das war falsch.“ Wieder eine Pause, und dann: „Ich habe meine Frau und meine Töchter unglücklich gemacht. Ich bin schuldig.“

Im Herbst 1986 bekommt Oh den Auftrag, selbst den Lockvogel zu spielen und zwei junge Südkoreaner in Europa zu jener Entscheidung zu drängen, die er selbst so sehr bereut: Sie sollen in den Norden überlaufen. Seine Frau habe ihm damals gesagt, er dürfe sich an der Aktion auf keinen Fall beteiligen, stattdessen solle er diese zur Flucht nutzen – so erzählt es Oh jedenfalls heute. Diese Version ist schwer zu glauben, nachprüfen lässt sie sich nicht. „Meine Frau meinte: Die Kinder werden zurechtkommen, sie sind anpassungsfähig, im Gegensatz zu dir.“ Am Morgen des 13. November 1986 nimmt er Abschied – von Suk-ja und von den Kindern, acht und zehn Jahre alt, die nicht eingeweiht sind in die Pläne. „Sie lagen erkältet im Bett, als ich ging“, erinnert sich Oh. „Die Große habe ich noch mal Huckepack genommen.“

Ohs Delegation reist nach Kopenhagen. Auf dem Flughafen dort muss jeder einzeln seinen Pass vorzeigen. Oh hat in seinem zwei Zettel versteckt. Darauf steht, auf Englisch und Deutsch: „Bitte bringen Sie mich in Kontakt mit der deutschen Botschaft.“ Von da an gibt es für ihn kein Zurück mehr. In München verhört ihn die CIA, später fährt er nach Dortmund, wo er in einem Pfarrhaus unterkommt, in Hannover landet er in der Bahnhofsmission. Jahre vergehen, in denen Ohs Leben ziellos wirkt. Er versucht, seine Familie nachzuholen. Es ist aussichtslos. Er selbst ist gerettet, aber diese Rettung fühlt sich wie eine Strafe an.

Hat er das Richtige getan, weil er die zwei Studenten nicht in die Falle gehen ließ? Wäre es seine Pflicht gewesen, zuallererst seine Familie zu schützen? War er schwach? Oder bloß sehr egoistisch? Die Schuldgefühle verlassen Oh Kil-nam nie wieder, nicht am Tage und nicht in der Nacht.

Anfang der 90er schöpft er noch einmal Hoffnung. Ein kommunistisches Regime nach dem anderen bricht zusammen, und Deutschland feiert Wiedervereinigung. Oh Kil-nam rechnet fest damit, dass das gleiche bald in Korea passieren wird. Er weiß, dass man seine Frau und die Kinder wegen ihm ins Arbeitslager geworfen hat. 1991 erreichen ihn Fotos der Familie und ein Tonband, auf dem die zwei Töchter zu hören sind: „Papa, wir möchten dich wiedersehen“, sagen sie. Er vermutet eine Falle, zu einem Treffen kommt es nicht. Aber immerhin: Den Kleinen scheint es gut zu gehen. 1992 kehrt Oh zurück nach Seoul.

20 Jahre später hat sich viel verändert. Südkorea ist längst eine stabile Demokratie, der Norden erscheint spätestens seit der großen Hungersnot in den 90er Jahren fast niemandem mehr als Alternative. Aber das Regime der Kims gibt es immer noch, mittlerweile in der dritten Generation. Ob der neue Führer Kim Jong Un wirklich Reformen einleiten wird, politische zumal, ist zweifelhaft. „Das System ist erstaunlich zählebig“, sagt Oh. Er hat ein Buch über seine Geschichte veröffentlicht, mit Reisen und Vorträgen versucht er, international Unterstützung zu gewinnen und Druck auf Pjöngjang auszuüben.

Suk-ja, glaubt er, starb an Hepatitis, weil man sie schlecht behandelt hat, und seine Töchter, mittlerweile 34 und 36 Jahre alt, sind womöglich immer noch im Lager. Oh kämpft für ihre Befreiung, möchte sie unbedingt wiedersehen. Und zwar nicht nur für ein paar Stunden. „Meine Frau konnte ihnen wahrscheinlich nicht in Ruhe erklären, was damals wirklich passiert ist“, sagt er. Vieles ist denkbar: Dass den Töchtern Lügen erzählt wurden, dass sie eine Gehirnwäsche durchlaufen haben, dass sie das Regime hassen. Aber eben auch: Dass sie dem Vater nie werden verzeihen können.

Björn Rosen

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