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Auslegungssache. Nicht jede Vorschrift wird in Berlin ernst genommen.
© Sebastian Kahnert/dpa

Großstadt mit eigenen Regeln: "Verbote sind noch keine Politik!"

Vorschriften, neue Gesetze – in Berlin sind sie bloß eine Simulation von Ordnung, weil niemand sie durchsetzen kann. Ein Kommentar.

Zack, so schnell kann das gehen: Keine drei Jahre nach dem Hundegesetz von 2016 kommt auch schon die Hundeanleinpflicht. Die war zwar bereits vorgesehen in dem Gesetz, das Hundehaltern die revolutionäre Kackbeutelmitführpflicht auferlegte. Doch erst jetzt, im neuen Jahr, ist die Verordnung in Kraft getreten, die dem Gesetz Wirkungsmacht verleihen soll.

Oder, berlinisch gesagt: sollte. „Soll“ – das hätte etwas Zwingendes; „sollte“ – das ist eher ein Vorschlag. Wie die Kackbeutelmitführpflicht das Berliner Hundekotbesudelungsproblem nicht gelöst, sondern nur verkleinert hat, fehlt auch der Vorschrift zum Hunde-an-die-Leine-Nehmen das, was eine Pflicht verpflichtend macht: die sichere Sanktion bei Pflichtverstoß und Vorschriftenignoranz.

Der Normalbürger hat gelernt, Gesetze als Anregungen aufzufassen

Wir sind in Berlin, und mit Verordnungen und Gesetzen ist das so eine Sache. Das Berliner Personalproblem ist von so ziemlich allen Behörden und Einrichtungen bis hin zu den Senatsverwaltungen derart oft zu Erklärung mangelhafter Leistungen angeführt worden, dass der Normalbürger gelernt hat, im Gegenzug Normen, Vorschriften und Gesetze eher als Anregungen zu einem bestimmten Verhalten aufzufassen. Anders gesagt: Wer dagegen verstößt, kann bestraft werden – muss aber nicht.

Das Phänomen gehört seit vielen Jahren zur Berliner Politik. So war es beim Streit um die Ferienwohnungsvermietung. Als die Berliner Politik den Zusammenhang zwischen Wohnungsmangel und dem Boom bei den Ferienwohnungen erkannte, beschloss sie das Zweckentfremdungsverbotsgesetz. Das Problem: Die Bezirke hatten viel zu wenig Leute, um Ferienwohnungen zu identifizieren, dem Mieter nachzuweisen, dass er gegen das Zweckentfremdungsverbotsgesetz verstieß und seinen Gewinn nicht mal versteuerte.

Lebensgefährlich - aber ohne Bußgeld-Risiko

Andere Beispiele? Wer ohne Licht mit dem Rad durch den Winter rast, riskiert sein Leben, aber kein Bußgeld. Es sei denn, er geriete in eine der (im Winter sehr unwahrscheinlichen) polizeilichen Schwerpunktkontrollen oder rammte einen Streifenwagen. Rotlichtverstöße? Es war vor elf, zwölf Jahren, zu der Zeit von Dieter Glietsch, dem Vorvorgänger der amtierenden Polizeipräsidentin Barbara Slowik, dass es Mode wurde, rote Ampeln zu ignorieren. Jetzt werden dagegen neue Blitzerkameras aufgestellt.

Dieselfahrverbote? Wer sollte die kontrollieren? Elektroroller und Elektro- Longboards, die 40 km/h schnell werden: Wer sollte verhindern, dass freie Berliner und touristische Liebhaber der hiesigen Lebensart damit über Rad- und Fußwege rasen? Die überforderten Leute vom Ordnungsamt, die sich gerade den Hundehalter vorgenommen haben, der noch nichts von der Leinenpflicht gehört haben will?

Dass die Stadt trotzdem einigermaßen funktioniert, hat nichts mit den Absichten der Politiker zu tun. Deren Vorschriftenkataloge sind bloß eine Simulation von Politik. Doch zum Glück lebt in den Berlinern eine gewisse Restvernunft. Die führt dazu, dass sie sich in der Mehrheit an das halten, was sie als den Willen des Gesetzgebers erahnen. Ist besser so.

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