Berlin-Neuköllns neuer Bürgermeister: Unterwegs mit Martin Hikel
Die Möbel stammen noch von Vor-Vorgänger Buschkowsky, doch nun ist der neue Bürgermeister da: Martin Hikel. Ein Spaziergang mit dem Nachfolger Franziska Giffeys in Neukölln.
Es ist sein erster Auftritt als Bürgermeister von Neukölln, und Martin Hikel wirkt völlig entspannt. Der Termin: Eröffnung des Engagementzentrums in der Hertzbergstraße 22, einer Initiative des Bezirks zur Stärkung der Ehrenamtsstrukturen, um 16 Uhr am Donnerstag, Hikels erstem Tag im neuen Amt.
Es spielen die „Brasstastix“, eine Posaunencombo der Musikschule Neukölln. In der Menschentraube vor der Tür steht auch Norbert Kleemann, der zu den Organisatoren des Rixdorfer Strohballenrollens gehört. Er will Hikel als Schirmherrn gewinnen. Weitere Bürger sind mit ihren Anliegen da, die meisten sind aber einfach gespannt auf den Neuen.
Um 16:30 Uhr soll Hikel reden, es sind rund 200 Menschen gekommen, auf dem Plakat ist noch Vorgängerin Franziska Giffey angekündigt. Die ist jetzt Bundesfamilienministerin, und ihren Nachfolger, den erst 31 Jahre alten Mathe- und Politiklehrer Hikel, kennt bisher niemand, auch wenn dieser seit Jahren fleißig mit den Jusos Wahlkampf macht und bisher der SPD-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung vorsaß.
Mit Neuköllner Wappen am Revers
Sein privater Facebook-Auftritt liest sich lustig und selbstironisch, er feiert demnach gern, verträgt mehr als ein Bier und kommt längere Zeit ohne Schlaf aus. Doch das war gestern. Hier und jetzt steht er geradezu staatsmännisch da: im schmalen dunkelblauen Anzug mit Handkante, weißem Hemd mit Haifischkragen, das, wenn dieser Text auf Englisch wäre, jetzt „crisp“ genannt würde, Manschettenknöpfen, den Schlips zum doppelten Windsorknoten gebunden, schlichte Uhr mit goldener Fassung, weißem Blatt, Indizes und Lederband, und, um es abzurunden, dem Wappen von Neukölln am Revers. Eigentlich fehlen nur noch Budapester, dann wäre der „Old School“-Look des Jusos perfekt. Wollte man von dem Outfit auf den Mann schließen, so könnte der Schluss lauten: Hier hat einer, erstens, seine Aufgabe angenommen, und er ist, zweitens, nicht der Typ. der dann auf halber Strecke stehen bleibt.
In diesem Aufzug steht er nun im Ladenlokal in Rixdorf, umgeben von Ehrenamtlern, die ihn neugierig beäugen. Seine Vorgängerin war beliebt, ihr Weggang wird durchweg als Verlust empfunden. Hikel lässt sich ansprechen, wendet sich zu, er beugt sich entweder leicht herunter oder geht ein wenig in die Knie, er ist wirklich sehr groß.
Als kurz nach 17 Uhr das Büfett mit duftenden Backwaren eröffnet wird, muss er los – der nächste Termin wartet, und es steht ja noch der Spaziergang an. Der führt über den Richardplatz und durchs Böhmische Dorf, ein Kleinod mitten in Neukölln.
Ein aufsteigender Kiez in Rixdorf
Auf dem Richardplatz steht ein zauberhaftes kleines Haus mit Sprossenfenstern. „Das ist die Frauenschmiede“, sagt Hikel, „die wird auch vom Bezirksamt gefördert. Das ist ein geschützter Raum, ein Ort, in den Frauen gehen können, um Dinge zu besprechen, bei denen man keine Männer dabeihaben will.“
Aus Kapitalistensicht ist dies eine tolle Immobilie, mit der Geld zu machen wäre. Stattdessen lässt der Bezirk sie sich was kosten. Auch der hiesige Weihnachtsmarkt ist anders: weniger Kommerz und Fressbuden, mehr handwerkliche Erzeugnisse, viel Ehrenamt.
In der Richardstraße zeigt sich der Wandel aber schon. An der Ecke das Traditionslokal Louis mit seinen riesigen Wiener Schnitzeln und rustikaler Einrichtung, nur wenige Meter weiter an der Ecke zur Kirchgasse das Paulinski Palme, ein cooles Lokal der neuen Generation, das gehobene Hausmannskost bester Qualität bietet.
An einigen Hausfassaden stehen Parolen gegen Mieterhöhungen, klar, dieser Kiez ist erkennbar im Aufstieg. „Gentrifizierung ist auch hier ein Thema“, sagt Hikel. „Wir widmen uns dem mit Milieuschutzgebieten.“ Es geht nach rechts in die Kirchgasse, deren Schild noch den tschechischen Namen trägt: Mala Ulicka, also „Enge Gasse“.
"Es gibt in Neukölln immer noch zu viele Menschen ohne Schulabschluss"
Vor der früheren Schule, die jetzt schmuck saniert und bewohnt ist, steht Friedrich Wilhelm I. mit ordentlich Grünspan auf dem Sockel. „Er hat die Böhmen nach Berlin geholt, das waren ja Glaubensflüchtlinge“, sagt Hikel. „Migration hat eine große Tradition in Neukölln, eigentlich in ganz Berlin.“
Beim Laufen fällt auf, wie viele verschiedene Kirchengemeinden es hier gibt. Die Herrnhuter Brüdergemeine geht noch auf die böhmischen Flüchtlinge zurück, auch viele andere evangelische Freikirchen sind hier. Das Böhmische Dorf wirkt ländlich, zudem wie eine Enklave, das laute Multikulti-Berlin mit seinen BMW-röhrenden Migrantenjünglingen und den von Kindern umzingelten kopftuchtragenden Müttern ist hier nicht – als gäbe es eine unsichtbare Grenze.
Wir betreten es kurz darauf wieder. Aber erst einmal geht es die Richardstraße hoch. An der Rückseite der Neuköllner Oper sagt Hikel: „Wir haben hier alles, eine eigene Oper, aber auch eine eigene Staatsanwaltschaft.“ Die Staatsanwaltschaft war eine Erfindung auch seiner Vorgängerin, die in ihrer pragmatischen Art Wege suchte, die Jugendkriminalität in Neukölln effektiver zu bekämpfen.
„Ich habe morgen früh einen Termin bei der Staatsanwaltschaft vor Ort“, sagt Hikel, aha, das heißt ja offenbar, dass das Thema Kriminalitätsbekämpfung ganz oben auf der Agenda steht? „Richtig. Wir haben in Neukölln diese kriminellen Strukturen, die können wir nicht hinnehmen. Bei der Organisierten Kriminalität sind das ja immer Leute, die die Perspektivlosigkeit anderer ausnutzen. Es ist auch ein Bildungsthema. Es gibt in Neukölln immer noch zu viele Menschen ohne Schulabschluss.“
Die Dinge zum Besseren ändern
Dass es schwierig werden dürfte, die Clanstrukturen und die Mechanismen der Kriminalität effektiv zu bekämpfen, ist Hikel bewusst, doch er will es trotzdem tun: „Wir werden sehr lange ein sehr dickes Brett bohren müssen.“ Andererseits brauche man auch keine Politik mehr, wenn alles tipptopp sei. Es gehe ja gerade darum, die Dinge zum Besseren zu verändern.
Über den 2014 neu gestalteten und umbenannten Alfred-Scholz-Platz (früher Platz der Stadt Hof), benannt nach dem ersten Neuköllner Bürgermeister, geht es wieder auf die Karl-Marx-Straße. Hikel ist begehrt, es drängt die Zeit, also geht es nun ziemlich direkt zum Rathaus, wo bereits der nächste Termin ansteht. Das Amtszimmer sieht noch aus wie unter Buschkowsky, wuchtiges Mobiliar in dunkelbraun, nur die großformatigen Fotos mit Blicken über Neukölln, die stammen von Giffey. Hikel will sie behalten, allein schon, weil darauf der Himmel so schön blau ist, draußen war es eben regnerisch, kalt und grau. A propos Schirme: Was ist mit der Schirmherrschaft?
„Klar, das mache ich!“, sagt Hikel. „Ich habe das Strohballenrennen selbst mitgemacht, das ist eine Sau-Arbeit, das denkt man gar nicht!“ Lachend erinnert er sich an den Wahlkampf 2009, als die Jusos gegen die Junge Union antraten, und während die Jusos im Schweiße ihres Angesichts selbst rollten, hatte die Junge Union ein paar Muskelmänner mitgebracht, die den körperlich anstrengenden Teil erledigen sollten.
Ein herrliches Sinnbild eigentlich – die Arbeiterpartei schuftet selbst, das Kapital lässt rollen. Die Jusos haben trotzdem gewonnen.
Fatina Keilani