Kriminelle Clans in Neukölln: Knast macht Männer - auf der Spur der Münzdiebe
Die arabische Großfamilie R. ist der Berliner Polizei seit Jahren bekannt - durch Drogenhandel, Gewalttaten und Hehlerei. Auch der Diebstahl der "Big Maple Leaf" geht offenbar auf ihr Konto.
Die Ermittlerin lächelt, als sie aus dem Eingang zu den Hausnummern 27 und 29 in der Thomasstraße in Neukölln tritt. In der Hand hält die Beamtin ein schweres, anderthalb Meter langes Brecheisen. Um das Metallstück nicht zu beschmutzen, hat sie einen braunen Briefumschlag wie einen Handschuh über ihre Finger gezogen und legt die Stange auf den Rücksitz eines VW-Kombi der Berliner Polizei.
„Das haben wir gerade im Keller gefunden", ruft sie ihren Kollegen zu. Ein Triumph? Ein Brecheisen, ausgerechnet, als mögliches Beweismittel für den spektakulären Diebstahl der 100 Kilo schweren, 3,75 Millionen Euro teuren kanadischen Goldmünze, der „Big Maple Leaf", die im März aus dem Bode-Museum verschwand. Kein Krimiautor würde einem Verdächtigen ein Brecheisen in den Keller schreiben, so abgegriffen ist das Bild. An diesem Mittwoch in Neukölln ist es eine wahre Szene – drei Männer zwischen 18 und 20 Jahren werden am Morgen verhaftet, ein vierter am Mittag. Drei gehören zur berüchtigten Familie R., die einst aus dem Libanon kam und von Ermittlern seit Wochen beobachtet wird. Und das nicht zum ersten Mal.
Auf dem Spielplatz nebenan schreien Kinder um die Wette, junge Hipster in Muskelshirts joggen, alte Damen mit Kopftüchern und jüngere Frauen in engen Jeans kreuzen die Gehwege. Im „Bierbaum I" sitzen Herren, trinken schon vor Mittag Bier aus großen Gläsern und rauchen. Alles wie immer – abgesehen von den vermummten Einsatzhundertschaften mit ihren Sturmhauben und Schnellfeuerwaffen, den Kripo-Männern mit Funksteckern im Ohr und Gummihandschuhen, den brummenden Dieselmotoren der Mannschaftswagen.
Nicht nur in der Thomasstraße stürmen Spezialkräfte um 6 Uhr morgens Wohnungen, stundenlang ist das Haus abgesperrt. Insgesamt durchsuchen die Polizisten 20 Wohnungen und Gewerberäume in Berlin und im Umland. Dabei finden sie neben Einbruchwerkzeug vier Schusswaffen. Die Ermittler interessiert auch ein Juwelierladen in der Neuköllner Sonnenallee: Dort hoffen sie, eine Spur zur Goldmünze zu finden. Der Betreiber könnte, so der Verdacht, geholfen haben, die Münze verschwinden zu lassen.
Der Chefermittler hofft auf etwas "Goldabrieb"
Ein paar Stunden nach der Razzia laden Landeskriminalamt und Staatsanwaltschaft ins Polizeipräsidium ein. Dort sitzen Oberstaatsanwältin Martina Lamb und Chefermittler Carsten Pfohl. Beide sind leicht angespannt, konzentriert – Pfohl ist für „qualifizierte Eigentumsdelikte" zuständig, für Diebstähle durch Profis sozusagen. Doch die Münze, das erklärt er besser sofort, bleibt verschwunden: „Wir gehen davon aus, dass sie in Teilen oder ganz veräußert wurde." Er habe wenig Hoffnung, dass sie noch gefunden werde. Aber an Kleidung oder in Autos der Verdächtigen lasse sich vielleicht „Goldabrieb" nachweisen.
Die Tat gehe auf eine „organisierte Bandenstruktur" zurück, sagt Oberstaatsanwältin Lamb, man gehe davon aus, dass die Täter zu einem „arabischen Clan" gehören. Jedenfalls werde noch gegen neun weitere Männer ermittelt, auch sie sollen Mitglieder der Familie R. sein.
Nicht weit von den Wohnungen in der Thomasstraße befindet sich eines der anderen Häuser, das die Spezialkräfte stürmen. Was diese beiden Adressen miteinander verbindet, zeigt ein Blick auf die Klingelschilder. Sowohl hier, im heruntergekommenen Hinterhof im Mittelweg, als auch im schickeren Bau in der Thomasstraße wohnen Angehörige der Familie R.
„Die wohnen seit fünf Jahren hier", sagt ein Händler aus dem Kiez. „Das ist ziemlich unruhig, immer wieder kommt die Polizei. Vor einer Weile habe ich eine Messerstecherei beobachtet." Mit den R.’s wolle er nichts zu tun haben, Ärger mit einem Clan will sich in Neukölln niemand einhandeln. Über die R.’s sagt der Nachbar noch: „Die sind nicht wie du und ich, die leben in einer anderen Welt."
Mittlerweile ist es Mittag. Seit Stunden schon stehen die Beamten in der Thomasstraße, da rückt nochmal ein Spezialeinsatzkommando an. Raus aus dem Auto, hoch die Treppe, den Rammbock durch die Tür – Zugriff. Sie bringen den vierten Verdächtigen aus dem Haus. Der junge Mann trägt eine rote Sporthose, ein weißes T-Shirt. Er sieht mitgenommen aus. Den Vormittag über muss er in seiner Wohnung gesessen und darauf gewartet haben, dass die Beamten ihn holen.
„Ich habe den Knall gehört, als die Tür aufgebrochen wurde, dann gab es Geschrei, schwere Schritte im Hausflur", erzählt ein Anwohner. „Ich kenne alle Nachbarn, wir grillen oft im Hof." Nur der Mann in der Sporthose nicht, den habe er heute erstmals gesehen.
Ein Flyer aus dem Bode-Museum war die entscheidende Spur
Zur Klärung des Falls haben Observationen beigetragen und DNS-Spuren – und vor allem einer der vier Verdächtigen selbst, unfreiwillig: Am 8. März war der junge Mann, Dennis W., in einem Auto mit gestohlenen Kennzeichen nach einem Tankbetrug kontrolliert worden. Im Wagen lag Einbruchwerkzeug. Als drei Wochen später die Münze verschwand, erinnerten sich die Beamten – was hatte der Mann neben dem Werkzeug noch alles im Auto gehabt? Auch einen Flyer aus dem Bode-Museum. Diese Beobachtung meldeten sie den Kollegen vom Kommissariat für Kunstdiebstahl.
Schnell stellte sich heraus, dass jener Verdächtige seit März in dem Museum arbeitete. Als Aufsicht, er sollte Besucher ermahnen, sich den Kunstobjekten nicht zu sehr zu nähern. Dass er bewusst in das Museum eingeschleust wurde, schließen die Ermittler aus. Es sei wohl Zufall. Jedenfalls soll er seinen Kumpels aus der Familie R. von der Millionenmünze erzählt haben: Ahmed, Abdul, Wissam.
Die Familie R. wiederum ist nicht nur Drogenfahndern und Kiezpolizisten seit Jahren bekannt, auch Kunstermittler kennen den Namen. Mitglieder des Clans sollen einst in den Diebstahl wertvoller KPM-Vasen verwickelt gewesen sein.
Sofort nach der Tat hatte die Polizei alle deutschen Goldverarbeiter um Hinweise gebeten – ohne eine einzige Rückmeldung. Entweder sei die Münze sofort ins Ausland gebracht oder in sehr kleine Teile zertrennt worden. Ein handelsüblicher Schneidbrenner reicht dafür.
Bereits beim Coup wurde sie beschädigt. In der Nacht zum 27. März kamen drei vermummte Männer von den S-Bahn-Gleisen am Hackeschen Markt, die direkt am Bode-Museum vorbeiführen. Zwischen 3.20 Uhr und 3.50 Uhr sollen sie in das Gebäude eingebrochen sein, „Big Maple Leaf" aus einer Vitrine gehievt und mit einem Rollbrett, einer Schubkarre und einem Seil zu einem im nahen Monbijou-Park wartenden Fluchtauto transportiert haben. Dabei prallte sie, wie die Ermittler rekonstruierten, mehrfach auf den Boden.
"Knast macht Männer", sagt eine Mutter des Clans
Werden die vier jungen Männer, eigentlich sind es erst Heranwachsende, des schweren Einbruchdiebstahls, vielleicht auch der Hehlerei überführt, droht ihnen– auch den Jüngeren – Haft. Aus ihnen würden so richtige Männer werden. So jedenfalls könnte das bei den R.’s gesehen werden. Eine Mutter, die einst in den Clan einheiratete und 15 Kinder bekam, hat das im Gespräch mit einem Mitarbeiter des Bezirksamtes einmal so zusammengefasst: „Knast macht Männer." Auch die verstorbene Richterin Kirsten Heisig hat diese Ansicht in ihrem Buch „Das Ende der Geduld" beschrieben.
Sie führen sich auf wie verzogene Prinzen
Im Milieu überraschten die Razzien kaum jemanden. Familie R. ist seit Anfang der 90er Jahre bekannt – Söhnen, Onkeln, Cousins aus dem verzweigten Clan werden immer wieder Taten vorgeworfen, die zum Coup im Museum passen: Denn neben schweren Gewalttaten und Drogenhandel sind Mitglieder auch immer wieder wegen Hehlerei und Bandendiebstahl verurteilt worden. Manchmal ging es um Schmuck, manchmal um gestohlenes Buntmetall, abmontiert auf Friedhöfen, in Parks, von Verkehrsanlagen. Es muss also Kontakte geben oder Knowhow, um Metall zu zerteilen, zu schmelzen, zu verkaufen. Inwiefern das Juweliergeschäft, das am Morgen durchsucht wurde, dabei eine Rolle spielt, wird sich zeigen.
Wenn Oberstaatsanwältin Martina Lamb von „arabischen Clans" und „organisierter Kriminalität" spricht, meint sie ein Milieu, das seit fast drei Jahrzehnten in Berlin existiert. In der Stadt leben zehn einschlägig bekannte Großfamilien. Einige sagen, 1000 Menschen müssten zu ihnen gerechnet werden. Andere behaupten, es dürften inzwischen fast 10.000 sein.
Fest steht: Bei weitem nicht alle Männer dieser Familien sind Täter – manche haben sich gelöst, zogen weg, studierten. Viele aber sitzen immer mal wieder in Haft, leben in den Zeiten zwischen den Strafen von Sozialleistungen, Einbrüchen, Mutterliebe. Verzogene Prinzen hat die Söhne der R.’s ein Ermittler mal genannt. Herrische, eitle Ganoven. Einer der R.’s hat ein Rentnerpaar einst mit Müll beworfen, berichtet ein Anwalt, weil sich die Senioren über Lärm oder das Spucken im Treppenhaus beschwert haben sollen.
Die Clan-Älteren kamen in den 80ern während des libanesischen Bürgerkrieges vor allem nach Bremen, Essen und Berlin. Sie zogen in die günstigen Viertel, viele nach Neukölln. Einige lebten schon in Beirut als Flüchtlinge, weil sie als arabische Minderheit aus der Türkei oder als Palästinenser aus Israel flohen. Die Clans bestimmten bald die Regeln in Berliner Mietshäusern, manchmal für ganze Blöcke, und schließlich – was auch mit Arbeitsverboten für die anfangs nur geduldeten Libanesen zu tun hat – auch große Teile der Kiezkriminalität.
Die Innenminister der Länder führen eine Liste, auf der die Namen derjenigen Serientäter stehen, die man in den Libanon auszuweisen beabsichtigt. Das ist schwierig, weil viele von ihnen ja schon dort als staatenlos galten. Oder ihre Papiere vernichteten. Zehn R.’s aus Berlin stehen auch auf der Liste.
Auch ein Verbrechen in Britz soll auf das Clan-Konto gehen
Der Begriff „Clan" wird von der Justiz offiziell nicht verwendet. Außerdem ist oft unklar, wer mit wem verwandt ist, weil in den Ämtern eine einheitliche Transkription aus dem Arabischen fehlt: Etwa „Mohammed" konnte als „Mohamed", „Muhamed", „Muhammed" notiert werden – allein den Nachnamen der R.’s gibt es jedenfalls in drei Schreibweisen. Nicht immer sprechen sich Brüder, Onkel, Cousins ab, und nicht jeder Coup wird von der ganzen Familie begangen.
Zur Familie R. gehören auch die Verdächtigen aus einem anderen, nicht minder spektakulärem Verfahren: Vor einigen Wochen wurde an einem sonnigen Morgen in Britz ein 43 Jahre alter Mann von zwei Maskierten zu Tode geprügelt. Das Opfer stammt ebenfalls aus dem Libanon, ist aber weder einschlägig bekannt noch vorbestraft. Es hat sich offenbar, sagen Ermittler, mit den Falschen eingelassen.
So soll das spätere Opfer zusammen mit einem Mann eine Immobilie gekauft haben. Dieser Geschäftspartner ist Libanese und trägt den Nachnamen R. Auch dieser R. ist aktenkundig. Vor vier Wochen stürmten Spezialkräfte der Polizei sein Anwesen in Alt-Buckow. Issa R. selbst war zur Tatzeit nicht in Britz. Ob zwei seiner zahlreichen Verwandten die Tat begangen haben – und er sie vielleicht beauftragt hat –, versuchen die Ermittler herauszubekommen.
Die Familie ersetzt ihnen die Welt
Das ist erfahrungsgemäß schwer, denn Zeugen sind rar. Die Clans bleiben gern unter sich, aussagewillige Angehörige sind selten. Die Familie – mit all ihren Nebensträngen – ersetzt ihnen die Welt. Verwandte betreiben Ramschläden, Shisha- Cafés und eben auch Juwelierläden. Viel Zeit verbrachten auch Angehörige der R.’s in einem familieneigenen Shisha-Café im Neuköllner Norden.
In der Sonnenallee herrscht ein paar Stunden nach der Razzia wieder Alltag. Das Juweliergeschäft, das am Morgen noch Beamte stürmten, ist geöffnet. Drei Männer stehen hinter dem Tresen und beraten Kunden. In der Auslage: viel Gold, Ringe, Ketten, Broschen. Preisschilder sieht man keine, alles Verhandlungssache. Als die Verkäufer mal ein paar Minuten allein sind, zeigen sie sich gegenseitig Bilder und Nachrichten auf ihren Telefonen. Es wird herzlich gelacht.
Entschuldigung, eine Frage zum heutigen Vormittag ...? Die Mienen verfinstern sich. „Wir können keine Fragen beantworten. Guten Tag noch!" Die nächsten Kunden betreten den Laden. Das Geschäft geht weiter.
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