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Torsten Winterhak ist Straßenbegeher in Berlin-Reinickendorf.
© Kitty Kleist-Heinrich

Unterwegs mit einem Straßenbegeher in Berlin: Und läuft und läuft und läuft

Torsten Winterhak legt jeden Tag zwölf Kilometer zurück – im Auftrag des Bezirks. Er prüft Wege, meldet Schlaglöcher, lange Äste und Rattentunnel. Wir sind mitspaziert.

Die scheiß Mieten sind zu hoch“, steht auf dem Plakat der Piraten, das zu niedrig ist: Höchstens auf einsdreißig hängt es am Laternenmast Eichborndamm 92. Vorgeschrieben sind 2,20 Meter Mindesthöhe. Damit niemand von einem herumhängenden Politiker auf Augenhöhe vor den Kopf gestoßen wird. „Unser Frank“ auf dem Plakat darüber – besser bekannt als Bezirksbürgermeister Balzer von der CDU – hängt korrekt. Martin Lambert, ebenfalls von der CDU, lächelt zufrieden, während neben ihm Torsten Winterhak sich eine Notiz macht.

Lambert, Stadtrat in Reinickendorf unter anderem für Ordnung, hat zu dieser Tour eingeladen, die für ihn selbst eine Premiere ist: Mit Ordnungsamt und Gewerbeaufsicht sei er schon unterwegs gewesen, aber mit einem Straßenbegeher noch nicht. Torsten Winterhak ist einer von dreien im Bezirk, ein vierter kommt demnächst hinzu. Winterhak – Turnschuhe, Rucksack, Multitaschenweste – prüft Straßen von der Hauskante bis zur Fahrbahnmitte auf Schäden, Stolperfallen, Müll, Wildwuchs und Vandalismus. Also auf alles, was nach Verlotterung aussieht oder Unfallgefahren birgt samt dem Risiko, dass jemand klagt. So etwas gibt es in allen Bezirken. Hier in Reinickendorf sei man sehr konsequent hinterher, sagt Lambert, der Wanderschuhe zum Anzug trägt.

Zwölf Kilometer pro Schicht, bei jedem Wetter

Das Plakat wird also ein Fall fürs Ordnungsamt, in dessen Keller laut Lambert schon gut 100 einkassierte Plakate liegen. „Jedes kostet fünf Euro“; die Parteien mussten zum Wahlkampfstart Bürgschaften hinterlegen. Winterhak steigt über eine Pfütze. Die notiert er nicht, denn „da kann keiner stolpern“. Auch die lose Gehwegplatte vor der Nummer 88 lässt er gerade noch durchgehen. Er ist ja in 14 Tagen wieder hier: Hauptstraßen werden im Zweiwochenrhythmus begangen, Nebenstraßen alle zwei Monate.

Zwölf Kilometer pro Schicht, bei jedem Wetter. Also 60 in der Woche. Knapp 3000 im Jahr. 120000 bis zur Rente, also Reinickendorf – Australien und zurück und noch mal hin. Wobei Winterhak das nicht mehr schaffen wird, weil er schon 47 ist und bis vor wenigen Jahren selbst als Straßenbauer gearbeitet hat. Nur ist das kein Job, den man bis zur Rente durchhält. Jetzt schaut er also nach der Arbeit seiner Ex-Kollegen und verschafft ihnen neue.

Winterhak stoppt vor der Nummer 80, wo ein indisches Restaurant eröffnet hat. Mit Tischen auf dem Gehweg und einem roten Teppich, der unter anderem einen Kanaldeckel zudeckt. Soll sich das Ordnungsamt mal anschauen, sagt Winterhak und notiert. Für die Standardfälle hat er einen Formularblock mit zwei Durchschlägen, die er nach seiner Tour verteilt. Für Straßenschäden ist eine per Ausschreibung ermittelte Firma zuständig, Müll meldet er der BSR, Wildwuchs dem Gartenbauamt, überhängende Äste aus Privatgärten bekommt V63. V63? „Das ist eine Frau aus unserem Amt, die sich darum kümmert.“

Wenn er "Eilt" ankreuzt, wird die Sache am selben Tag erledigt

Der laute Eichborndamm mit seinen Nachkriegsblöcken ist keine Überhängende-Äste-Gegend, sondern eine mit Quartiersmanagement und Straßenbäumen, die unter Hundehaufen ächzen und nach dem Sommerregen ihre Wurzeln gegen die Gehwegplatten stemmen, sodass dort Kanten entstehen. Wie vor der Nummer 57 und der 93. Wenn Winterhak auf seinem Block „EILT!“ ankreuzt, wird die Sache noch am selben Tag erledigt, sonst binnen 72 Stunden. Bei Gefahr im Verzug kann er auch Sperrungen veranlassen. Für so ein paar Platten brauche die Baufirma nur eine Viertelstunde, sagt er als alter Profi. Wobei nicht die hochstehende Platte versenkt, sondern die Nachbarn angehoben werden müssen, damit die Baumwurzel heil bleibt.

Blick auf den Block. Winterhak kreuzt Schadenart und Dringlichkeit an.
Blick auf den Block. Winterhak kreuzt Schadenart und Dringlichkeit an.
© Kitty Kleist-Heinrich

Vor der Nummer 76 steht ein Einkaufswagen kopf, vor der 24 ragt ein Schachtdeckel hoch. „Querfugen sind janz jefährlich“, sagt Winterhak und notiert. Vor der 18 ist ein Verkehrsschild beschmiert, vor der 16 muss das Gartenbauamt neue Erde in die ausgewaschene Baumscheibe füllen, vor der 14 ist ein Loch im Kleinpflaster, vor der 12 noch eins, ebenso vor der 2 an der Ecke Scharnweberstraße. Alle sind kleiner als ein Schuh. Aber sie wachsen schnell, sagt Winterhak, und deshalb müssen sie auch schnell repariert werden. Bei dem Loch unter der Baubake vor Nummer 29 ist die Sache anders, denn das hatte sich dreimal nacheinander aufgetan: ein Rattengang. Die Bekämpfung läuft, die Ratte hoffentlich nicht mehr. Dann wird repariert. Vor der 34 hängt wieder ein Pirat zu tief, vor der 15 die SPD. „Berlin bleibt schlau“. Dumm gelaufen, in diesem Fall. Zumal darüber noch ein SPD-Plakat hängt, und zwei von derselben Partei am selben Mast sind nicht erlaubt, sagt Lambert. Die Info hätten die Parteien mit der Plakatiergenehmigung bekommen. Auch Verkehrsschildermasten seien tabu.

Einmal im Monat wird er für einen Einbrecher gehalten

Winterhak erzählt im Weiterlaufen, gestern habe er die Aroser Allee wegen der Plakate als Ganzes aufgeschrieben, weil sein Block sonst nicht gereicht hätte. Von den Hauptstraßen bringe er etwa 25 Meldungen mit, von den seltener begangenen Nebenstraßen 50 bis 60, je nach Gegend. In Heiligensee, Hermsdorf und Frohnau mache sich die sozial besser intakte Bewohnerschaft bemerkbar: Weniger Müll, aber mehr Polizeieinsätze, wenn Winterhak mit seinem dicken Rucksack durch die Straßen läuft und Notizen macht. Mindestens einmal im Monat werde er für einen Einbrecher gehalten und von alarmierten Beamten umstellt, erzählt er. Inzwischen kennt man sich und winkt sich zu.

Er muss jetzt noch an der Edeka-Baustelle schauen, ob der von 40-Tonnern zerfahrene Gehweg schon repariert worden ist. Darum hat ihn ein Ingenieur aus dem Amt gebeten, dem diese Hilfe wertvolle Zeit spart, in der er beispielsweise Ausschreibungen bearbeiten kann. Rund 1,6 der 2,3 Millionen Euro aus dem Straßenunterhaltungsbudget würden für Sicherungsmaßnahmen ausgegeben, sagt Stadtrat Lambert; der Rest gehe überwiegend in Sanierungen. Hinzu kämen 2,3 Millionen aus dem Schlaglochprogramm des Senats. Das sei gut, sagt Lambert, aber besser wäre ein von vornherein höherer Ansatz im Haushalt, damit die Arbeiten vernünftig geplant werden könnten. Und gegen die schon chronische Unterfinanzierung helfen auch Sonderprogramme nur bedingt, wie die stetige Vermehrung der Warnschilder wegen Straßenschäden in der ganzen Stadt zeigt.

Den erzwungenen Verschleiß beklagt auch Lamberts Amtskollege Jens-Holger Kirchner (Grüne) aus dem Nachbarbezirk Pankow. Dort wird zum September ein fünfter Begeher eingestellt. Schadensersatzklagen nach Stürzen und Unfällen gebe es „immer mal wieder“; etwa ein Dutzend im Jahr. In zehn Jahren habe der Bezirk nur zwei verloren. Lambert schätzt für Reinickendorf etwa eine Handvoll Klagen im Jahr. Erfolg gehabt habe in letzter Zeit kein Kläger.

Rattentunnel und "wachsende Steine"

Auch Kirchner weiß von Rattentunneln zu berichten, die Gehwege absacken lassen. Und vom „Phänomen der wachsenden Steine“, die womöglich von Käfern im Boden angehoben würden, aber so genau wisse das bis heute niemand. Jedenfalls helfe dann nur Einbetonieren.

Der Gehweg am Edeka ist notdürftig geflickt. Demnächst wird eine provisorische Überfahrt gebaut. Die müssen in Reinickendorf neuerdings ebenerdig sein, damit nicht Kinderwagen, Rollatoren und Radfahrer daran hängen bleiben wie bisher und anderswo noch immer.

Torsten Winterhak läuft auf der anderen Straßenseite zurück zum Rathaus. Auf der Fahrbahn hatte er gar nichts zu beanstanden; Schlaglöcher sind Saisonware im Winter. Er war vor Kurzem im Warmen: Türkei. „Hier würde ich aus dem Schreiben gar nicht mehr rauskommen“, hat er zu seiner Frau gesagt. „Guck doch auch mal nach oben!“, hat sie geantwortet.

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