Die Pandemie und die Folgen: „Der Präsenzunterricht als oberstes Ziel bleibt richtig“
Die Kreidezeit an Berlins Schulen ist unwiderruflich vorbei, aber das Unterrichtsgespräch bleibt von zentraler Bedeutung. Ein Gastbeitrag.
Robert Rauh unterrichtet Deutsch und Geschichte, bildet Lehramtsanwärter:innen aus und wurde im Jahr 2013 als Lehrer des Jahres ausgezeichnet.
Vor zwei Jahren war die Schulwelt auch nicht in Ordnung. Aber es herrschte Normalität. Und man freute sich über Kleinigkeiten, die den Schulalltag erleichterten. Stolz zeigte mir eine ältere Kollegin ihr Geheimfach: voller Kreide, auch farbige.
Bis zur Pensionierung diesen Sommer werde der Vorrat reichen und sie müsse nirgendwo mehr betteln, um ihre Zahlen und Formeln an die Tafel zu schreiben.
Das Ziel, unsere Schulen kreidefrei zu machen, fand sie gut. Sie sah die Vorteile. Gerade für ihre Fächer. Sie fand es gut, solange sie es selbst nicht betraf. Dann kam Corona. Der Rest ist noch nicht Geschichte. Die Pensionierung ist erst in zwei Monaten. Bis dahin möchte sie noch zwei Tools mit ihrer 10. Klasse ausprobieren.
Aber kein Tool dieser Welt ersetzt, was nicht nur gefühlt der entscheidende Faktor für Lernerfolg ist: die Lehrerinnen und Lehrer. Als sie nach dem ersten Lockdown ihre Klasse wiedergesehen hat, haben ihr die Jugendlichen spontan applaudiert.
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Ja, die Pandemie hat nicht nur die Schulen kalt erwischt, aber dort war der Schock besonders groß. Es war eine Erschütterung mit Ansage. Denn es ist nicht neu, dass Deutschland bei digitaler Bildung ein Entwicklungsland ist. Weil Länder und Kommunen finanziell und personell nicht in der Lage waren, die Schulen für das digitale Zeitalter fit zu machen, beschloss der Bund den Digitalpakt. Aber Corona war schneller und führte uns vor, was wir verschlafen haben.
Dabei es hatte es nicht an Mahnungen gemangelt, den Breitbandausbau voranzutreiben und alle Klassenräume mit interaktiven Whiteboards auszustatten. Das allein reicht aber nicht.
Breitband und Whiteboards allein reichen nicht
Voraussetzung für das Gelingen einer nachhaltigen Digitalisierung sind Weiterbildungsangebote für Lehrkräfte sowie die Bereitstellung einer zeitgemäßen Infrastruktur, die von einem fest angestellten IT-Beauftragten in jeder Schule betreut wird oder von professionellen Administratoren.
Eine digitale Lernplattform richtet es jedenfalls nicht auf Dauer. Erst recht nicht, wenn sie bei starkem Ansturm zusammenbricht.
Aber wir sollten die Kirche auch im Dorf lassen und uns eingestehen, dass die Digitalisierung keine Bildungsrevolution auslösen wird – auch nicht, wenn der Turbo eingelegt wird. Es bedarf keiner Revolution für eine „andere Art von Bildung“. Wie sollte die auch aussehen?
Kein noch so aufgepepptes Tool ersetzt das Unterrichtsgespräch
Digitale Konzepte werden nur eine Ergänzung zur bisherigen Pädagogik sein. Der Präsenzunterricht ist - auch wenn das manche anders sehen - einfach nicht ersetzbar, vor allem in den ersten Schuljahren und bei Kindern aus bildungsfernen Familien. Wer regelmäßig Videokonferenzen mit ganzen oder halbierten Klassen durchgeführt hat, weiß, dass kein noch so aufgepepptes Tool das Unterrichtsgespräch ersetzt. Bildung ist nicht nur die Vermittlung und Anwendung von Wissen, sondern auch immer Beziehungsarbeit – und die leistet die Lehrkraft vis-à-vis im Klassenzimmer.
Allerdings werden die Schulen nach den Sommerferien nicht in die vorpandemische Normalität zurückkehren und die alten Tafeln aus dem Keller holen. Denn das Kreidezeitalter ist unwiderruflich vorbei. Dafür war der Schub zu heftig und nachhaltig. Auch wenn er ziemlich holprig war und besonders die Eltern zur Verzweiflung trieb, weil einige Lehrkräfte anfangs meinten, sie hätten ihren Beitrag zum Homeschooling erfüllt, wenn sie Arbeitsblätter per E-Mail verschickten.
Zwei Drittel wollen die neuen Methoden beibehalten
Inzwischen wird in den Schulen ausprobiert, was die Digitalisierungslabore zu bieten haben. In Befragungen geben zwei Drittel der Lehrkräfte an, pandemiebedingt neue Methoden, Instrumente und Ansätze erprobt zu haben, die sie auch in Zukunft anwenden werden.
Nie war der Austausch in den Kollegien, aber auch zwischen Lehrenden und Lernenden größer. Wie man eine PowerPoint für die Videokonferenz erstellt, hat meiner Kollegin kein Fortbildungsinstitut, sondern Samim erklärt. Er ist kein IT-Spezialist, sondern Flüchtling aus Afghanistan. Ganz nebenbei verändert sich auch die gesamte Schulorganisation – vom elektronischen Klassenbuch bis zum digitalen Prüfungsplaner. Erleichterungen, von denen alle ja auch künftig profitieren werden.
Corona hat die Schulen digitalisiert. Aber die Digitalisierung ist nicht die Lösung. Nicht die Lösung für fehlende Lehrer und schlechte Rahmenbedingungen, für die nach wie vor die Politik verantwortlich ist. Und auch nicht die Lösung für guten und modernen Unterricht. Unsere Jugendlichen sollen nicht ewig vor den Bildschirmen sitzen. Oberstes Ziel muss (wieder) Präsenzunterricht sein.
Robert Rauh