Zehn Jahre Ethik-Unterricht in Berlin: Das Thema "Ehrenmord" steht nicht im Lehrplan
Das Fach Ethik wurde nach dem Mord an Hatun Sürücü eingeführt. Noch immer gibt es Streit um die Inhalte und Frust wegen fehlender Lehrer.
Mathe, Englisch, Deutsch: Seit Pisa kreisen alle Vergleichsarbeiten und Bildungsstudien um diese drei Fächer. Da kann es dann schon mal passieren, dass ein sogenanntes Nebenfach wie Ethik mitsamt seinen Problemen aus dem Blickfeld gerät. Der Fachverband Ethik will nun gegensteuern und lädt an diesem Mittwoch zu einer Diskussion, die kontrovers zu werden verspricht.
Denn es gibt nicht nur inhaltliche Differenzen über die Ausrichtung des Fachs, sondern auch eine allgemeine Unzufriedenheit der Lehrer: „Der wunde Punkt ist das mangelnde Engagement für das Fach auf allen Ebenen der Schulverwaltung“, lautet die Fundamentalkritik von Margret Iversen, der langjährigen Vorsitzenden des Fachverbands Ethik und Lehrerin an der Schöneberger Sophie-Scholl-Schule.
Zwei von drei Ethik-Stunden werden nicht von Fachlehrern erteilt
Diese Einschätzung hat gerade neue Nahrung bekommen: Lehrer berichten, dass gerade erst einige frisch ausgebildete und dringend benötigte Ethiklehrer an die personell massiv unterversorgten Grundschulen geschickt worden sein sollen, wo es Ethik gar nicht gibt – sie müssen dort andere Fächer unterrichten. Die Bildungsverwaltung konnte das noch nicht bestätigen, aber die Empörung ist groß, da die Sekundarschulen zu wenig Ethiklehrer haben: Aktuell werden 68 Prozent des Ethikunterrichts von Lehrern übernommen, die das Fach weder studiert haben noch darin fortgebildet wurden (Gymnasien 25 %). Oftmals übernehmen die Klassenlehrer das Fach, um Probleme im Schulalltag, etwa Gewaltvorkommnisse, besprechen zu können.
"Der Ethik-Unterricht wird nicht ernstgenommen"
Der hohe Anteil des fachfremden Unterrichts tut dem Ruf des Faches nicht gut. „Der Ethikunterricht wird nicht ernst genommen“, beobachtet Cynthia Segner, Leiterin des Gymnasiums Tiergarten. Angesichts der Anwerbeversuche durch Salafisten hatte sie im Frühjahr empfohlen, über die Einführung des Fachs Islamkunde zu diskutieren, um fundiertere Antworten auf die Fragen der Schüler zu finden.
Mit dieser Empfehlung befindet sich Segner mitten in der Kontroverse um die Frage, was der Ethikunterricht überhaupt sein soll. Geht man von der Entstehungsgeschichte des Faches aus, ist die Antwort klar: Nach der Ermordung der Berlinerin Hatun Sürücü durch ihre Brüder im Februar 2005 hatte sich die SPD unter Handlungsdruck gesehen, denn viele Lehrer berichteten damals, ihre Schüler hätten den „Ehrenmord“ gerechtfertigt oder sogar beklatscht. Gängige Meinung: Wenn sich ein Mädchen nicht an die Verhaltensnormen wie Häuslichkeit und Keuschheit halte, seien die Brüder oder andere Verwandte förmlich gezwungen, zu handeln, wie Sürücüs Brüder es getan hätten.
Danach ging alles ganz schnell: Schon zwei Monate nach Sürücüs Beerdigung beschloss der SPD-Parteitag ein Pflichtfach zur Werteerziehung, damit die Schüler im Klassenverband über ihre unterschiedlichen Begriffe von Moral und Ehre und über die Wege zu einem Leben in einer freien Gesellschaft ins Gespräch kommen sollten – mit einem Lehrer, der einen solchen Dialog fachkundig begleiten sollte.
Welches Gewicht sollen die Religionen erhalten?
In den Folgejahren trat diese Gründungsgeschichte allerdings in den Hintergrund: Anstatt die Lehrer in der Ausbildung konkret auf Diskussionen über Zwangsheirat, Gehorsam und Fundamentalismus vorzubereiten, gewann der philosophische Ansatz die Oberhand. „Das Thema ’Ehrenmord’ steht nicht im Lehrplan. Es geht im Ethikunterricht um die Vermittlung von Reflexionskompetenz und Dialogfähigkeit: um das Aushalten anderer Anschauungen und darum, die Schüler sprechfähig zu machen“, erläutert Margret Iversen die Hauptlinie des Fachs, die sie auch für richtig hält. Eine Islamkunde könne nicht geleistet werden. Iversen wünscht sich aber, dass die Ethiklehrerausbildung Kultur- und Religionswissenschaften stärker „einbindet“.
Iversens Nachfolger im Vorsitz des Fachverbands Ethik, Dankfried Gabriel, würde noch weiter gehen. Um dem „religiösen Fundamentalismus“ und der Hinwendung der Jugendlichen zum Islamismus argumentativ begegnen zu können, brauche es Basiskenntnisse, „insbesondere auch über die historische Person des Propheten Mohammed und die Entstehung des Koran“, fordert er.
„Nur solche Grundlagenkenntnisse würden eine echte Urteilskompetenz ermöglichen“, findet der Spandauer Pädagoge und erinnert daran, dass die präventive Bildungsarbeit gegen eine Radikalisierung von Jugendlichen ein zentrales Anliegen auch derer gewesen sei, die den Volksentscheid Pro Reli 2009 abgelehnt hätten. Gabriel verweist auf Niedersachsen, wo in der entsprechenden Lehrerausbildung das Fach Religionswissenschaft neben der Philosophie gleichberechtigt stehe.
Wie stark der religionskundliche Aspekt in Berlin aus dem Blick geraten ist, sieht man aber nicht nur daran, dass Islam, Christentum und Judentum nur eine Nebenrolle spielen: Hinduismus und Buddhismus sind im Rahmenplan zu einer Randbemerkung geschrumpft. In den neuen Ethik-Schulbüchern kommen sie daher möglicherweise gar nicht mehr vor.
Über „10 Jahre Ethik-Unterricht in Berlin – Rückblick und Ausblick“ wird am Mittwoch um 19.30 Uhr im Haus der GEW, Ahornstraße 5, 10787 Berlin, diskutiert. Moderation: Margret Iversen. Auf dem Podium sitzen Vertreter der Universitäten (Fachdidaktik), der Bildungsverwaltung, eine Fachseminarleiterin, eine Lehrkraft, Vertreter der Evangelischen Kirche und der Sehitlik-Moschee.
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