Neuer "Ehrenmord"-Prozess: Blutsverwandte - der Fall Sürücü
Die Hinrichtung von Hatun Sürücü hat Deutschland 2005 erschüttert. Jetzt wird der Fall in Istanbul neu verhandelt. In der Türkei zählen „Ehrenmorde“ noch immer zum Alltag. Ein Schuldspruch könnte das Land verändern.
Es ist schon dunkel, als die Anwohner der Istanbuler Melek Sokak, der „Engelsgasse“, den Schuss hören. In der Melek Sokak geschieht so etwas nicht häufig, hier wohnen ganz normale Bürger, Familien mit Kindern. Deshalb dauert es nicht lange, bis jemand die Polizei alarmiert und die Beamten zur Wohnung der Familie Barlik ruft, wo eine Kugel eine Fensterscheibe durchschlagen hat. Im Haus finden die Polizisten die Leiche der 21-jährigen Zehra Barlik. Selbstmord, behaupten die Verwandten der jungen Frau. Doch ein blutverschmierter Koffer macht die Beamten stutzig. Und noch etwas: Die Tatwaffe fehlt.
Die Polizei durchsucht die Wohnung der Familie. Blutflecken gibt es in mehreren Zimmern. Gerichtsmediziner untersuchen die Leiche der jungen Frau. Und im Kohlenkeller finden die Polizisten dann die Tatwaffe. Eine Neun-Millimeter. Schnell ist klar, ein Selbstmord kann das nicht gewesen sein. Doch Zehra Barliks Verwandte bleiben bei ihrer Version. Die Waffe habe man versteckt, weil sie nicht angemeldet gewesen sei. Angst hätten sie gehabt. Die Polizei glaubt kein Wort. Schließlich sagt im Verhör doch eines der Familienmitglieder aus: Zehra Barliks älterer Bruder Ali habe sie erschossen, der Vater die Waffe verschwinden lassen.
Mehr als 300 Türkinnen sind im vergangenen Jahr Opfer ihrer eigenen Verwandten geworden, sie stammen aus Familien, in denen das Leben von Frauen wenig gilt. Die sogenannten Ehrenmorde, bei denen Frauen umgebracht werden, weil sie gegen ultra-konservative Wertvorstellungen ihrer Verwandten verstoßen haben, gehören noch immer zum Alltag in der Türkei. Die Statistik des vergangenen Jahres zeigt, dass jede Woche im Schnitt sechs Frauen von ihren Familien oder Ehemännern umgebracht werden.
Auch Zehra Barlik ist von ihrer Familie umgebracht worden, davon sind türkische Frauenrechtlerinnen überzeugt. Und die Ärztin Gülsüm Kav will, dass das Morden endlich aufhört. Seitdem Kav, 45, mit einigen Mitstreiterinnen vor sechs Jahren den Verband „Wir stoppen die Gewalt gegen Frauen“ gründete, hat sie Hunderte von Schicksalen dokumentiert und Prozessbeobachterinnen zu Dutzenden Strafverfahren gegen Frauenmörder geschickt. „Unser Ziel ist es eigentlich, unseren Verband überflüssig zu machen“, sagt Kav. „Aber die Zahl der Opfer steigt.“
Der Fall Hatun Sürücü
Am 26. Januar 2016 saßen Vertreterinnen von Kavs Verband wieder im Gerichtssaal. Da begann in Istanbul der Prozess gegen zwei Brüder der Deutsch-Türkin Hatun Sürücü. Sie war im Jahr 2005 in Berlin von ihrer Familie ermordet worden, weil diese ihren westlichen Lebensstil nicht akzeptieren wollte. Gleich am ersten Tag wurde das Verfahren auf Ende April vertagt.
Doch der Prozess, da ist Kav sich sicher „wird ein ganz wichtiges Verfahren“. Für den Berliner „Ehrenmord“ wurde bereits Hatun Sürücüs jüngster Bruder Ayhan in Deutschland als Täter verurteilt und nach neun Jahren Jugendhaft im Juli 2014 abgeschoben. Auch die Brüder, Mutlu und Alpaslan Sürücü waren bei diesem ersten Prozess mitangeklagt. Sie wurden aber aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Alle drei Brüder leben heute im Istanbuler Stadtteil Ümraniye.
Als der Bundesgerichtshof die Freisprüche gegen die älteren Brüder aufhob, weigerte sich die türkische Justiz zwar, Mutlu und Alpaslan Sürücü nach Deutschland auszuliefern, leitete aber später ein eigenes Verfahren ein. Die Brüder sind heute beide Mitte 30. In ihrer zehnseitigen Anklageschrift wirft die Istanbuler Staatsanwaltschaft Mutlu und Alpaslan vor, die Mordwaffe beschafft zu haben. Ferner sollen sie sich zur fraglichen Zeit in der Nähe des Tatortes aufgehalten und ihren Bruder Ayhan bei der Tat unterstützt haben. Die Anklage fordert lebenslange Haftstrafen.
Eine Zäsur in der deutschen Integrationsdebatte
Der Mord ist nun fast genau elf Jahre her. Am 7. Februar wurde die 23-Jährige von ihrem jüngsten Bruder erschossen. Der war damals 18 Jahre alt und nahm die Schuld auf sich. Dass er wirklich allein, ohne Unterstützung gemordet haben soll, hielt schon damals kaum jemand für wahrscheinlich. Hatun Sürücü jedenfalls misstraute ihrer Familie zutiefst. Nach der 8. Klasse hatte ihr Vater sie vom Gymnasium abgemeldet, als sie gerade 16 Jahre alt war, wurde sie in der Türkei mit ihrem Cousin Ismail verheiratet, von dem sie bald schwanger wurde. Nach der Trennung von ihrem Mann eskalierte Streit mit den Eltern. 1999 zog sie aus der Wohnung der Eltern am Kottbusser Tor aus, legte das Kopftuch ab und begann eine Ausbildung zur Elektroinstallateurin. Beim Jugendamt drängte sie darauf, dass ihr kleiner Sohn Can im Falle ihres Todes in eine Pflegefamilie gegeben werde. Auf keinen Fall solle er in ihrer eigenen aufwachsen.
Der Fall Sürücü war eine Zäsur in der bundesdeutschen Integrationsdebatte, die Angst vor Parallelgesellschaften selten so deutlich zu spüren wie damals. Die Frauenrechtlerinnen um Gülsüm Kav versprechen sich von dem Prozess in Istanbul nun ein ähnlich starkes Signal.
„Wir werden das beobachten“, sagt Kav und macht sich eine Notiz. Sie will die Rechtsanwältinnen ihres Verbandes noch einmal ausdrücklich an die Teilnahme erinnern. „Eine Verurteilung wäre die Botschaft: Ihr könnt euch nicht davonmachen“, sagt Kav.
Kav kämpft gegen die Beschönigung von Gewalt gegen Frauen
Gülsüm Kav selbst hat ein besonders scheußliches Verbrechen zur Frauenrechtlerin werden lassen. Das war im März 2009 in Istanbul. Die Schülerin Münevver Karabulut wurde wenige Tage vor ihrem 18. Geburtstag von ihrem Freund Cem Garipoglu erstochen, enthauptet, und zerstückelt. Die Leichenteile warf der Täter in den Müll. Es dauerte mehr als ein halbes Jahr, bis der Mörder, Sohn wohlhabender Eltern, sich der Polizei stellte. Unterdessen mussten sich die Eltern des getöteten Mädchens vom damaligen Polizeichef Celalettin Cerrah die Bemerkung anhören, sie hätten besser auf ihre Tochter aufpassen sollen. Cem Garipoglu wurde zu 24 Jahren Haft verurteilt; vor zwei Jahren erhängte er sich in seiner Zelle.
„Die Presse hat den Fall damals behandelt wie eine Promi-Geschichte“, sagt Kav und ihr Tonfall wird scharf. Die Geschichte geht ihr noch immer nah. Seitdem kämpft sie dafür, dass Gewalt gegen Frauen nicht mehr beschönigt oder mit Gerede vom Schutz traditioneller Werte entschuldigt wird. Zu den Fällen, die in jüngster Zeit von dem Verband dokumentiert wurden, gehört auch das Schicksal einer Studentin im westtürkischen Aydin, die von ihrem Verlobten von einem Balkon im vierten Stock geworfen wurde. Der Mann wurde zu 25 Jahren Haft verurteilt, bleibt aber bis zum Abschluss des Berufungsverfahrens in Freiheit.
Längst nicht alle Täter zeigen Reue. Auch Ayhan Sürücü nicht. Hatuns Mörder ist inzwischen fast 30 Jahre alt; er fühlt sich wohl und sicher in Istanbul. Am 4. Juli 2015, ein Jahr nach seiner Abschiebung, schrieb er auf Facebook: „Jahres-Jubiläum der FREIHEIT, am schönsten Ort der schönsten Stadt.“ Das Motto seiner Facebook-Seite lautet: „Der Türke-Kurde, der die Deutschen verrückt macht.“
Die Aufregung um ihn hat sich etwas gelegt, doch sein Fall ist noch auf der politischen Agenda. „Ich bin immer noch ein Thema im beschissenen Bundestag?“, fragte er im September auf Facebook und attackierte mit nicht ganz einwandfreier Rechtschreibung die Grünen. „Habt ihr keine anderen Themen ihr dreckigen Grünen … kümmert euch um die Pädophile Viecher in euren Reihen. Eure Lügen und illegalen Spielchen kenne ich … und ich scheiss auf diese Mörder-Kuppel.“
Die Täter sehen sich oft als die eigentlichen Opfer
Ein Gespräch mit dem Tagesspiegel lehnte Ayhan Sürücü ab: „Ich bezweifle (...) dass Ihre Agentur mich bezahlen kann für solch einen Interview“, antwortete er auf die Anfrage. „Zumahl Ihre Vorstellung von Inhalt auch eine Rolle spielen würde.“ Auf Facebook bekunden Freunde ihre Solidarität, die ihm den Mord an seiner Schwester nicht übel nehmen. So schrieb ein Nutzer namens ‚Muhammed Ali‘: „Ayhan hat mehr Leute die ihn lieben als hassen Leute die ihn kennen und Wissen was er ist PUNKT“.
Es ist ein bekanntes Muster: Die Täter sehen sich oft als die eigentlichen Opfer, denen Gerichte und Öffentlichkeit schweres Unrecht antun – nicht nur im Fall Sürücü. Aysen Ece Kavas, eine junge Soziologiestudentin aus Ankara, die ebenfalls zu den Mitbegründerinnen von Kavs Verband zählt, kümmerte sich zum Beispiel intensiv um den Fall der Zentralanatolierin Arzu Boztas, die von ihrem Mann Ahmet mit Schüssen aus einem Jagdgewehr so schwer verletzt wurde, dass ihr beide Beine amputiert werden mussten. Ahmet schoss auf seine Frau, weil sie nicht wollte, dass er sich nach 14 Jahren Ehe eine Zweitfrau zulegt. Ahmet Boztas wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt, wirft aber über seinen Anwalt dem Gericht vor, „emotionale und frauenrechtliche“ Überlegungen hätten zum Urteil geführt. Boztas müsse nur deshalb ins Gefängnis, weil er ein Mann sei, sagte Anwalt Tuncay Sener. Im Übrigen seien die Schüsse aus dem Jagdgewehr nicht so schlimm gewesen: „Es hat nie Lebensgefahr bestanden.“
Umdenken bei der Justiz
Inzwischen bemerkt Frauenrechtlerin Kav ein Umdenken bei der Justiz. Strafnachlässe für die Angeklagten wegen guter Führung oder weil die Opfer die Täter angeblich „provoziert“ hätten, seien inzwischen seltener. Nun will ihr Verband durchsetzen, dass die neue Strenge auch im Gesetz festgeschrieben wird.
Gleichzeitig kämpfen Kav und ihre Mitstreiterinnen gegen eine Mentalität im Land an, die es Männern erlaubt, Frauen herabzusetzen. Gesundheitsminister Mehmet Müezzinoglu etwa empfahl im vergangenen Jahr Türkinnen, keine andere Karriere als die der Mutter anzustreben. Und das staatliche Religionsamt, das für eine verbindliche Auslegung des Islam zuständig ist, wendet sich zwar gegen Zwangsehen, veröffentlichte aber kürzlich ein Gutachten, wonach es kein Problem darin sehe, wenn ein Vater seine eigene Tochter begehre. Nur solle das Kind älter als neun sein.
„Die Behörde macht alles nur noch schlimmer“, sagt Kav. Der Sürücü-Prozess stehe für alle Frauen, die unterdrückt werden. Kav fühlt sich Hatun Sürücü sehr nah, auch wenn sie die junge Frau nie persönlich kennengelernt hat. In Gedanken will sie heute bei ihr sein: „Für unsere Schwester tun wir, was wir können.“