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Reichsflaggen bei der Corona-Demo am 29. August in Berlin.
© imago
Update

Berliner Sicherheitsbehörden alarmiert: Rechtsextremisten steuern die Corona-Proteste zum Teil schon

Die Sicherheitsbehörden sind alarmiert: Die Corona-Proteste werden verfassungsfeindlicher, Extremisten stärker. Hunderte Demos sind bis Jahresende angemeldet.

Der Einfluss der rechtsextremistischen Szene auf die „Querdenken“-Bewegung und die Proteste gegen die staatlichen Anti-Corona-Maßnahmen wächst. Zudem entwickelt sich die Protestbewegung immer stärker selbst zu einem verfassungsfeindlichen Netzwerk neuer Art.

Die Berliner Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass die Proteste von Rechtsextremisten nicht nur unterstützt und instrumentalisiert werden – sondern vielmehr von Rechtsextremisten sogar initiiert werden. Das sagte ein Sprecher der Senatsinnenverwaltung dem Tagesspiegel.

Am Montag befasst sich der Innenausschuss des Abgeordnetenhauses mit den Protesten. Auf Antrag der Koalitionsfraktionen von SPD, Linken und Grünen geht es um „Straftaten und Gefahren durch Gegner von Corona-Maßnahmen“.

Zudem steht Berlin am Mittwoch, keine zwei Wochen nach den von Gewalt überschatteten Protesten der „Querdenken“-Bewegung in Leipzig, der nächste große Aufmarsch bevor: Bundesweit wird dazu mobilisiert, den Bundestag zu blockieren. Auch von einem erneuten Sturm auf den Reichstag ist die Rede.

Neben Impf-Gegnern, Verschwörungstheoretikern, Reichsbürgern und AfD-Mitgliedern mobilisieren auch rechtsextreme Organisationen wie NPD oder Identitäre Bewegung nach Berlin. Aufgerufen wird zu einer Blockade des Bundestages. Angemeldet ist eine Kundgebung unter dem Titel „Stoppt das Infektionsschutzgesetz“ auf dem Platz der Republik mit 500 Teilnehmern.

Insgesamt sind sechs Demonstrationen mit insgesamt 5000 Teilnehmern angemeldet worden, darunter auch Gegenproteste. Die Berliner Polizei bereitet die Einsatzplanung vor und arbeitet dabei eng mit der Bundespolizei und mit der Polizei des Bundestags zusammen.  

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Im Zusammenhang mit den Corona-Protesten laufen bei der Berliner Polizei bereits 775 Verfahren zu Straftaten und 40 zu Ordnungswidrigkeiten, sagte Innensenator Andreas Geisel (SPD) im Innenausschuss. Bereits im Mai sei beim Staatsschutz des Landeskriminalamtes (LKA) die Ermittlungsgruppe „Quer“ mit acht Beamten gegründet worden.

Die dem Tagesspiegel vorliegende Statistik der Polizei führte alle Straftaten auf, die in Zeit von den ersten sogenannten Hygiene-Demos im April und bis 4. November erfasst worden sind. Demnach sind unter den bei Versammlungen der Corona-Gegner registrierten Straftaten knapp 200 Widerstandsdelikte gegen Polizisten, fast 100 gewaltsame Angriffe auf Beamte, 34 Gewaltdelikte und 170 Verstöße gegen die Infektionsschutzverordnungen.

November 2020: Konfrontation der "Querdenker"-Demonstranten mit der Polizei.
November 2020: Konfrontation der "Querdenker"-Demonstranten mit der Polizei.
© Sebastian Kahnert/AFP

Hinzu kommen 45 Fälle von besonders schwerem und einfachem Landfriedensbruch, 20 Mal Gefangenbefreiung, zwei Straftaten gegen das Waffengesetz und zehn Mal Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.

22378 von der Polizei Berlin registrierte Straftaten, Ordnungswidrigkeiten und Einsätze stehen im Zusammenhang mit Corona-Maßnahmen. Für diese Fälle sind im Datensystem Poliks sogenannte „Corona-Marker" gesetzt, wie Polizeipräsidentin Barbara Slowik sagte. Auch Maßnahmen der Gefahrenabwehr gehörten dazu. „Das soll deutlich machen, dass wir da schon einen Blick drauf haben", sagte Slowik.

Polizei und Verfassungsschutz hätten Personen aus der Szene der Rechtsextremisten und Reichsbürger mit möglichen Verbindungen zu Demo-Veranstaltern und „Querdenken“ im Blick", sagte Geisel. Bis Jahresende seien bereits mehr als 100 weitere Versammlungen von Corona-Gegnern angemeldet worden.

Polizeipräsidentin Barbara Slowik sagte, bei den Corona-Demonstrationen sei ein breiter Querschnitt der Bevölkerung vertreten. „Wir haben oft bei Versammlungen Einzelne, die gegen Regeln verstoßen. Aber bei den Corona-Demonstrationen sind es Tausende Menschen, die die Regeln nicht einhalten. Das ist etwas, das wir nicht kennen, das ist die Besonderheit“, sagte Slowik.

Große Teile der Demonstranten wurden die Hygiene-Regeln nicht befolgen – „und man ist bereit zum Widerstand“, erklärte die Polizeipräsidentin. Für Maßnahmen der Polizei gebe es nur eine geringe Akzeptanz. Ein Teil der Demonstranten sei „höchst gewaltbereit“, diese würden „die Auseinandersetzungen mit der Polizei bewusst suchen“.

Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik.
Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik.
© imago images/Reiner Zensen

Die große Breite des prognostizierbaren Verhaltens der Demo-Teilnehmer mache es sehr schwierig für die Polizei. Ziel der Demonstranten sei es, ihre Meinung zu äußern, „Bilder zu produzieren“ wie beim Sturm auf die Reichstagstreppen und gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht zu suchen.

Zwar kündigte Slowik an, mit allen zulässigen Mittel bei Verstößen gegen die Corona-Regeln gegen Demonstrationen vorzugehen. Zugleich schränkte sie aber ein: Die Berliner Polizei bleibe dennoch bei ihrem Grundsatz der Deeskalation, sagte Slowik.

Die Polizeipräsidentin forderte, in der Pandemie bei Demonstrationen die Zahl der Teilnehmer auf 100 bis 500 zu begrenzen. Nur bei dieser geringen Obergrenze sei es der Polizei möglich, Demonstrationen und Versammlungen bei Verstößen gegen die Corona-Regeln schnellstmöglich aufzulösen.

Die Polizeipräsidentin machte deutlich, dass Großversammlungen auch bei massenhaften Verstößen gegen Abstandsregeln und Schutzmaskenpflicht nicht einfach aufgelöst werden könnten. „Wir sollten uns nichts vormachen. Zigtausend Menschen, die sich weigern, zu gehen und politische Maßnahmen nicht akzeptieren, werden nicht binnen kürzester Zeit auseinanderzubringen sein“, sagte Slowik. Es sei mit gewaltsamem Widerstand zu rechnen.

Der Grünen-Innenpolitiker Benedikt Lux zeigte sich unzufrieden mit den Äußerungen der Polizeipräsidentin zu den Vorbereitungen auf die Demonstrationen am Mittwoch. Lux kritisierte das Vorgehen der Polizei als zu zurückhaltend.

Vielmehr müsse geprüft werden, ob mithilfe der sogenannten Bannmeile rund um den Reichstag die Demonstrationen zwar weiterhin zugelassen, aber entzerrt und verkleinert werden können. Dann können die Polizei auch leichter einschreiten bei Verstößen und Straftaten.

Zahlreiche Rechtsextremisten bei den Corona-Protesten

Bereits bei früheren Protesten ist klar geworden, dass Rechtsextremisten die Demonstrationen für sich nutzen wollen. Ein Sprecher der Innenverwaltung sagte: „Nach einer Vielzahl entsprechender virtueller Kampagnen zeigte sich auf den Großdemonstrationen der ,Corona-Kritiker‘ am 1. und 29. August 2020 in Berlin auch ein nicht zu übersehender Anteil an Rechtsextremisten und „Reichsbürgern“ öffentlich auf diversen Veranstaltungen.“

Für den Verfassungsschutz sei bei der Bewertung der Geschehnisse von zentraler Bedeutung, „ob und in welcher Form die Beteiligung von Verfassungsfeinden an den Protesten zu deren Radikalisierung beiträgt“. Bereits im September hatte der Berliner Verfassungsschutz eine Prüfung angekündigt, ob die "Querdenken"-Bewegung beobachtet werden muss.

Bei den Demonstrationen am 1. als auch am 29. August 2020 sei zu beobachten gewesen, „dass es von Seiten der übrigen Demonstrierenden keinerlei Abgrenzungsbemühungen zu Rechtsextremisten und Reichsbürgern gab“, sagte der Sprecher der Innenverwaltung.

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Zudem hätten Demonstranten selbst Verschwörungstheorien propagiert. Daneben hätten sie „während der Veranstaltungen teilweise ein erhebliches, mindestens verbales, Gewaltpotenzial“ gezeigt und hätten „mitunter Polizisten“ angegriffen. Auch die Auflagen der Versammlungsbehörde seien ignoriert worden. „Solche Entwicklungen beobachten die Berliner Sicherheitsbehörden sehr genau“, sagte der Sprecher.

Bei der Großdemonstration gegen die Anti-Corona-Maßnahmen Ende August mit knapp 40.000 Teilnehmern waren nach Angaben des Berliner Verfassungsschutzes vom September bis zu 3000 Rechtsextremisten und Reichsbürger dabei. Hooligans und Rechtsextremisten hatten bei der Demonstration Polizisten angegriffen, Reichsbürger hatten die Treppen des Reichtstages erstürmt.

Corona-Proteste in Berlin: Demonstranten versuchen den Reichstag zu stürmen.
Corona-Proteste in Berlin: Demonstranten versuchen den Reichstag zu stürmen.
© Reuters/Christian Mang

Zugleich griffen im Spektrum der Anti-Corona-Initiative „Querdenken“ zunehmend „zentrale Narrative“ der rechtsextremistischen Szene und der Reichsbürger sowie „antisemitische Verschwörungsmythen“ um sich. Dazu zählten Forderungen nach einer neuen, gültigen Verfassung und der Abschaffung des Grundgesetzes. Rechtsextremisten und Reichsbürgern sei es gelungen, „ein nicht zu übersehender Teil der Protestbewegung zu sein“.

"Das Spektrum der Corona-Leugner besteht nicht nur aus Extremisten."

Dennoch weist die Innenverwaltung darauf hin, dass die Entwicklung in vielerlei Hinsicht nicht allein auf Verfassungsfeinde zu reduzieren ist. „Das Spektrum der Corona-Leugner besteht auch, aber nicht nur aus Extremisten“, sagte der Sprecher. „Die Zustimmung zu den Maßnahmen von Bund und Ländern liegt bundesweit bei derzeit 71 Prozent. Dies heißt mitnichten, dass die übrigen 29 Proztent Extremisten sind.“

Die vorhandenen Zweifel an den politischen Entscheidungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie könnten „nicht allein über Repression“ ausgeräumt werden. „Gesprächsangebote und Dialog muss es trotz aller zu beobachtenden Radikalisierung weiterhin geben“, sagte der Sprecher.

Dabei richten sich Gegner der Corona-Maßnahmen auch mit Gewalt gegen Institutionen. Nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden schrecken sie auch vor schweren Gewaltakten und Anschlägen nicht mehr zurück.

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Vor einer Corona-Demo Ende Oktober in Berlin hatten mehrere Personen einen Brandanschlag auf das Robert-Koch-Institut verübt. In der Invalidenstraße, Ecke Chausseestraße, zündete ein selbstgebastelter Sprengsatz, es blieb bei einem Knall und einer Stichflamme. Zu beiden Vorfällen gibt es Bekennerschreiben, die Echtheit wird noch geprüft. Daran gibt es Zweifel, weil in den Schreiben keinerlei Täterwissen enthalten ist. In den Schreiben werden ein Ende der Corona-Maßnahmen und der Rücktritt der Bundesregierung gefordert.

Ob es sich um radikalisierte Einzeltäter oder Personen aus dem Umfeld der Corona-Proteste handelt, ist bislang unklar. Innensenator Geisel sagte am Montag im Innenausschuss aber, dass die Täter dem Spektrum der Corona-Leugner zugeschrieben werden.

Radikale Corona-Proteste in Berlin und Deutschland

Explizit zur Organisation „Querdenken“ will sich der Berliner Verfassungsschutz vorerst aber nicht öffentlich äußern. Der Chef des Hamburger Verfassungsschutzes, Torsten Voß, dagegen erklärte dem „Spiegel“, es werde schwierig, „wenn vermeintliche Querdenker der Regierung unterstellen, sie habe das Virus erfunden, um die Bevölkerung zu unterdrücken“.

Wenn immer mehr Protestler mit ihren Verschwörungstheorien den Staat als solchen infrage stellten, sei der Verfassungsschutz „natürlich alarmiert“, sagte Voß. Die Behörde schaue sich sehr genau an, „ob hier eine eigene extremistische Bewegung entsteht, die nicht in die klassischen Schubladen passt“, sagt Voß. „Dafür spricht einiges.“

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hatte Ende vergangener Woche erklärt, dass er Teile der „Querdenken"-Bewegung als Fall für den Verfassungsschutz ansehe. Es handle sich um "ein wachsendes Konglomerat von Rechtsextremen, Reichsbürgern, Antisemiten und absurden Verschwörungstheoretikern", sagt der CSU-Chef. „Auch der Verfassungsschutz muss genau unter die Lupe nehmen, was sich da entwickelt. Denn viele dieser Gruppen wollen einen anderen Staat.“

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