Bibelsprüche, Trommeltanz und Faschisten: Zehntausende demonstrieren in Berlin gegen die Corona-Maßnahmen
Impfgegner und Neonazis, Trump-Fans und Hare-Krishna-Tänzer – gegen die Corona-Politik demonstrieren Menschen, die sonst wenig miteinander verbindet.
Der Rothaarige mit dem gestutzten Bart verteilt die „Deutsche Stimme“, das Parteiblatt der rechtsextremen NPD – unwidersprochen, lächelnd, vielleicht weil er endlich nicht allein ist, vielleicht auch nur wegen des Sonnenscheins. Nicht weit von ihm demonstriert Kader E., ebenfalls gut gelaunt, mit Kaffeebecher und Kopftuch, über die Straße des 17. Juni. Und dahinter tragen Damen und Herren mittleren Alters und gemütlicher Statur, die sich selbst als „Trumpisten“ bezeichnen, drei neue, fast knitterfreie US-Flaggen.
Berlin-Tiergarten, Samstag, 12.19 Uhr. Der Marsch sogenannter Corona-Skeptiker zeigt: Milieu- und altersübergreifend zieht die Mär von den Mächtigen, die das Volk via Infektionsschutz untertan machten. Männer und Frauen gleichermaßen aus Dörfern und Metropolen, aus organisierten Polit-Zirkeln und aus bislang unpolitischen Haushalten strömen ins Berliner Zentrum, weil sie die „Corona-Diktatur beenden“ wollen, weil sie glauben, US-Software-Unternehmer Bill Gates, die CSU oder die „Finanzlobby“ hätten das Virus erfunden, um sich Gehorsam und Profite zu sichern.
Und so demonstrieren Männer, deren T-Shirts mit „Grenzen schließen“ bedruckt sind, neben Frauen, die Bibelsprüche verteilen und „Refugees-Welcome“-Anstecker tragen. Es gibt Impfgegner und solche, die Impfen für richtig halten. Schwarz-weiß-rote Reichsfahnen sind zu sehen, ein paar Männer mit ausgeprägter Nackenmuskulatur geben sich als Fans eines Fußball-Regionalligisten zu erkennen – und als Gegner der „Judenrepublik“.
Familienväter mit Genießerbäuchen tragen neben bundesdeutschen, US-amerikanischen und russischen vor allem schwedische Staatsflaggen durch den Tiergarten. Mit Letzterer wollen diejenigen, die den Infektionsschutz hierzulande als zu hart kritisieren, die Politik Schwedens bewerben, die in der Pandemie auf die europaweit liberalste Linie setzte, sich aber für überproportional viele Covid-19-Tote kritisieren lassen muss.
Über allen kreist seit dem Morgen, als die ersten Reichsbürger am Brandenburger Tor auftauchten, ein Polizeihubschrauber. Beamte werden am Abend einräumen, sie hätten das Potenzial unterschätzt: Offenbar schließen sich insgesamt Zehntausende den Versammlungen zwischen Humboldt-Universität und Siegessäule an.
Warum einen sonnigen Samstag gemeinsam mit Neonazis verbringen? Kader E. dreht sich um, sie habe heute noch keine Neonazis gesehen. Und gegen die Maßnahmen, die als Infektionsschutz eingeführt worden seien, dürfe man ja wohl was haben. Wozu, fragt E., hätten so viele Firmen schließen müssen, seien Leute verarmt, durften Kinder nicht auf die Spielplätze? Doch wohl nicht wegen eines Virus, dessen Herkunft keiner genau erklären könne. In den vergangenen Wochen habe sie öfter Attila Hildmann zugehört.
Attila Hildmann will "Reichskanzler" werden
Da ist sie nicht die Einzige, Hildmann ist einer der Stars der Corona-Skeptiker. Er wurde als medienaffiner Koch und küchenaffine Fernsehfigur berühmt, macht inzwischen aber ausschließlich als „Corona-Rebell“ von sich reden. Seine Anhänger halten Sars-CoV-2 für eine Erfindung, Deutschland für von fremden Mächten besetzt, Angela Merkel für eine ausführende Diktatorin. Hildmann selbst erklärte vor der Demo am Samstag: Die Bundesregierung werde womöglich bald „Lebensmittel verknappen, Menschen hungern lassen, Ausgangssperren verordnen“, er befürchte „Konzentrationslager für Corona-Positive“ und dass die Mächtigen „Kinder wegnehmen und ihr Blut abzapfen“ könnten – er selbst werde bald „Reichskanzler“.
Das bleibt an diesem Tag aus, trotzdem: Viele Tausend, womöglich Zehntausende sind am Samstag nicht davon abzubringen, dass die Pandemie eine Verschwörung und Virologen Einflussagenten geheimer Mächte sind. Und so skandieren Jung und Alt: „Widerstand“, „Wir sind das Volk“. Einige tragen Schilder mit Fotos von Kanzlerin Angela Merkel, Charité-Topforscher Christian Drosten und Bayerns Regierungschef Markus Söder – alle in Häftlingskleidung, darüber als dickes Stempelsymbol: „schuldig“.
13.51 Uhr. Im Tiergarten ist kaum Polizei zu sehen, einzig der Hubschrauber dürfte dem Präsidium den nötigen Überblick liefern. Berlins Innensenator Andreas Geisel, SPD, hatte die Versammlungen zunächst verbieten lassen, weil die Anmelder der Stuttgarter Initiative „Querdenken 711“ schon bei der vorigen Veranstaltung am 1. August die Hygieneregeln – Abstandsgebot, Schutzmasken – bewusst missachtet hätten. Das Verwaltungsgericht kassierte das Verbot in Eilbeschlüssen, die vom Oberverwaltungsgericht in der Nacht zu Samstag bestätigt wurden.
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Auf der anderen Seite des Brandenburger Tors, im Altbezirk Mitte, beschließt die Polizeiführung am Samstag, eine der Demonstrationen – insgesamt gibt es an diesem Tag mehrere auf Corona bezogene Versammlungen – aufzulösen: Die Teilnehmer stünden ohne Masken, dicht gedrängt, dabei war das Tragen eines Mund-Nasen- Schutzes von den Behörden zur Auflage gemacht worden. Nicht alle räumen die Straße, von „Unmutsbekundungen“ und „Flaschenwürfen“ berichtet die Polizei.
15.35 Uhr, vor der russischen Botschaft. Agile Hooligans und rundlichere Männer mittleren Alters suchen das Gefecht. Insgesamt sind am Samstag 3000 Beamte im Einsatz, eine Sprecherin wird sagen: Bei den Protesten sei die rechte Szene dabei, insgesamt aber nicht in der Mehrheit. Am Abend will Innensenator Geisel vor einer nahen Polizeiwache sprechen.
Kennedys Rede und Hare-Krishna-Trommeln
Ab 16 Uhr. Im Tiergarten läuft die Versammlung weitgehend ungestört, die „Deutsche Stimme“ wechselt Hände, die Zettel mit den Bibelsprüchen auch. Ein paar Rechtsextreme versammeln sich vor dem nahen Reichstagsgebäude. Am Brandenburger Tor werden die Massen von einer Bühne beschallt. Es geht um Volkes Stimme, Macht, Willen.
Auch der Umweltschützer, Anwalt und Impfgegner Robert Francis Kennedy junior, Neffe des einstigen US-Präsidenten gleichen Nachnamens, ist dabei. Er warnt vor dem 5G-Mobilfunknetz und Microsoft-Gründer Gates. Unter Verweis auf den Berlin-Besuch seines Onkels 1963 sagt er: „Heute ist Berlin wieder die Front gegen Totalitarismus.“ Ein Dutzend lächelnder Hare-Krishna-Anhänger tanzt zu Trommelrhythmen.