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Die Staatsanwältin im Tumult um die Polizei-Absperrung bei der Corona-Demo in Berlin.
© Tsp
Exklusiv

„Wollt ihr den totalen Lockdown?“: Berliner Staatsanwältin demonstriert mit „Reichsbürgern“ und „Querdenkern“

Eine Berliner Staatsanwältin lief bei Corona-Protesten mit und rief zum Widerstand auf. Im Netz verbreitete sie Verschwörungstheorien. Die Justiz ist alarmiert.

Schon in den Mittagsstunden dieses warmen Samstags im August greifen die Polizisten zum ersten Mal zum Pfefferspray. Zehntausende Menschen aus ganz Deutschland sind in der Hauptstadt, um gegen die Pandemie-Maßnahmen zu protestieren.

Unter ihnen unbescholtene Bürger, Kritiker der Gesundheitspolitik, aber auch Verschwörungsgläubige, Reichsbürger und Rechtsextremisten. Die Polizisten drängen sie jetzt zurück, die Augen tränen.

In vorderster Reihe steht auch Renate H. (Name geändert). Beruflich ist sie Beamtin des Landes Berlin. Als Staatsanwältin ermittelt sie gegen jugendliche Kriminelle und Straftäter in der Polizeidirektion 2 im Westteil der Stadt.

Sie ist also in einem Kernbereich staatlicher Gewalt tätig – bei der Strafverfolgung. Jetzt prüft die Staatsanwaltschaft, ob H. gegen ihre Beamtenpflichten verstoßen hat.

Es ist der 29. August, der Tag, an dem Rechtsextreme und Hooligans vor der russischen Botschaft Polizisten angreifen und später hunderte Reichsbürger versuchen, die Treppen des Reichstags zu erstürmen. Stunden zuvor ist die Stimmung in der Friedrichstraße angespannt.

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Die Polizei hat die Demonstration der „Querdenker“ für aufgelöst erklärt. Tausende hatten sich nicht an die Auflagen wie das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes gehalten. An der Friedrichstraße, Ecke Rosmarinstraße wird der Demonstrationszug durch die Beamten geteilt.

In der ersten Reihe sind Ehepaare mit selbstgebastelten Schildern, Männer mit Strohhüten und einige, vorwiegend schwarz gekleidete Personen aus der rechten Szene. Auch Renate H. ist ganz vorne direkt vor der Polizeikette. Das belegen Videoaufnahmen, die dem Tagesspiegel vorliegen.

Ein Mann mit Reichsflagge bei einem Protest gegen die Corona-Maßnahmen vor der russischen Botschaft.
Ein Mann mit Reichsflagge bei einem Protest gegen die Corona-Maßnahmen vor der russischen Botschaft.
© Christoph Soeder/dpa

Renate H. hatte es nicht weit. Die Staatsanwältin arbeitet am Kriminalgericht Moabit und wohnt im Berliner Norden. Um ihren Hals hat sie sich eine Schnur mit einem selbstgebastelten Plakat gebunden.

Anhand der vorliegende Videoaufnahmen ist nur schwer zu erkennen, was auf dem Plakat steht. Es handelt sich aber nach Sichtung des Bildmaterials aller Wahrscheinlichkeit nach um den Spruch: „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zu Pflicht.“

Die Staatsanwältin an der Polizeiabsperrung. Der Spruch auf dem Plakat lässt sich erahnen.
Die Staatsanwältin an der Polizeiabsperrung. Der Spruch auf dem Plakat lässt sich erahnen.
© Tsp

Es ist ein Spruch, der besonders in der rechten Szene überaus beliebt ist, um den Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu legitimieren.

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Immer wieder fliegen aus den vorderen Reihen des gestoppten Protestzugs Flaschen auf die Einsatzkräfte. Gegen 14 Uhr versuchen mehrere Personen aus dem rechten Spektrum eine Polizeikette zu durchbrechen.

Auch Staatsanwältin H. ist beteiligt. Gemeinsam mit ihrem Sohn versucht sie durch die Kette der Einsatzkräfte zu gelangen. Es kommt zum Pfeffersprayeinsatz. H. bietet getroffenen Demonstranten eine Flasche Wasser an, um sich die Augen auszuwischen.

Reichsbürger-Ideologie auf dem Facebook-Profil

Nach Tagesspiegel-Recherchen besuchte sie auch die erste Corona-Großdemonstration der Initiative „Querdenken“ am 1. August in Berlin und die teilweise gewalttätigen Proteste in Leipzig am vergangenen Wochenende.

Auf ihrem privaten Facebook-Profil verbreitet die Juristin seit Monaten Verschwörungstheorien. Lange stand auf ihrem Profilbild der Slogan „Gib Gates keine Chance“.

Von der Staatsanwältin geteilter Inhalt bei Facebook.
Von der Staatsanwältin geteilter Inhalt bei Facebook.
© Tsp

Eine weit verbreitete Verschwörungstheorie im „Querdenken“-Milieu ist die angeblich absichtliche Herbeiführung der Pandemie durch Microsoft-Gründer Bill Gates, um auf diesem Weg an einem Impfstoff zu verdienen.

Die Mischung der Posts von H. ist ähnlich diffus wie bei anderen Unterstützern der Corona-Bewegung. Einige geteilte Einträge legen eine Nähe zur Reichsbürger-Ideologie nahe. Mehrfach teilt H. Posts, in denen von der schwarz-weiß-roten Reichsflagge als „Symbol für einen Friedensvertrag“ gesprochen wird.

Von der Staatsanwältin geteilter Inhalt bei Facebook,
Von der Staatsanwältin geteilter Inhalt bei Facebook,
© Tsp

In der Reichsbürger-Szene gilt die Bundesrepublik nicht als ein souveräner Staat, da angeblich noch die Grenzen des deutschen Kaiserreichs weiter bestehen. Vielmehr wird ein Friedensvertrag mit den „Alliierten“ gefordert, um Souveränität und Unabhängigkeit zu erlangen.

Gleichzeitig setzt die Staatsanwältin die aktuellen Corona-Maßnahmen in Bezug zum Nationalsozialismus. Ein Foto in ihrer Facebook-Chronik zeigt eine Karikatur mit einer Person, die an NS-Propagandachef Joseph Goebbels angelehnt ist. Die Person fragt: „Wollt ihr den totalen Lockdown?“

Von der Staatsanwältin bei Facebook geteilter Inhalt.
Von der Staatsanwältin bei Facebook geteilter Inhalt.
© Tsp

Im Juni verweist sie auf ein Video des ultrarechten AfD-Politikers Stefan Räpple, der mittlerweile von der baden-württembergischen Landtagsfraktion ausgeschlossen wurde. Zuvor hatte er bei einer Kundgebung gegen die Corona-Maßnahmen zum gewalttätigen Umsturz aufgerufen.

Radikale Corona-Proteste in Berlin und Deutschland

Der Tagesspiegel hat die Justiz mit den Recherchen konfrontiert. „Wir werden es immer verteidigen, dass sich die Mitarbeitenden der Justiz auch politisch engagieren“, sagte ein Sprecher von Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne).

„Gleichwohl sollte man sich gut überlegen, an derartigen Versammlungen mit Rechtsextremen, Reichsbürgern und Antisemiten teilzunehmen, weil so ein öffentlicher Eindruck entstehen kann, der dem Ansehen der Justiz schadet", erklärte der Sprecher der Justizverwaltung. Für Staatsdiener gelte ein Abstandsgebot gegenüber Rechtsextremisten, Antisemiten, Rassisten und Verfassungsfeinden.

Auch Martin Steltner, Sprecher der Staatsanwaltschaft Berlin, verwies darauf, das jeder Staatsbürger das Recht habe, „selbst bei abstrusen Veranstaltungen“ teilzunehmen. Die Staatsanwaltschaft prüfe jetzt aber „umfassend eine dienstrechtliche Komponente und ob Rechtsverstöße vorliegen“.

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