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Gedenken an die Opfer des Anschlags am Berliner Breitscheidplatz
© Reuters/Fabrizio Bensch

Opferbeauftragter für Breitscheidplatz-Anschlag: "Opfer sind nun keine Bittsteller mehr"

Der Rechtsanwalt Roland Weber über die Lehren aus dem Anschlag am Berliner Breitscheidplatz und mehr Möglichkeiten, den Opferschutz zu verbessern.

Roland Weber, 52, ist Rechtsanwalt und seit 2012 ehrenamtlicher Opferbeauftragter des Berliner Senats. Für sein Engagement erhielt er kürzlich den Verdienstorden des Landes Berlin.

Herr Weber, gehen Sie nach dem Anschlag in Straßburg noch auf einen Weihnachtsmarkt?

Aber ja.

Auch auf den Breitscheidplatz in Berlin?
Dorthin erst recht. Absolute Sicherheit gibt es ohnehin nicht. Und ganz bestimmt werden eventuelle Täter beim nächsten Mal nicht so dämlich sein und wieder mit einem Lkw auf den Breitscheidplatz fahren.

Sind die Absperrungen also überflüssig?
Natürlich nicht. Aber sie dienen in erster Linie dazu, uns in Sicherheit zu wiegen. Es gibt so viele sogenannte weiche Ziele. Auf den kleineren und weniger gesicherten Weihnachtsmärkten, aber auch an anderen Orten, drängen sich in der Vorweihnachtszeit tausende Menschen.

Wenn man einen Anschlag schon nicht verhindern kann – sind wir heute wenigstens in Sachen Opferschutz besser aufgestellt?
Die Frage kann ich mit einem klaren „Ja“ beantworten. Ich bin der Meinung, dass das Land Berlin viel dazugelernt und verbessert hat. Aber es war schmerzhaft, vor allem für die Betroffenen.

Sie haben als Opferbeauftragter des Senats – auch was den Senat selbst angeht – kein Blatt vor den Mund genommen, als es um kritikwürdiges Verhalten ging.
Warum sollte ich? Die meisten Versäumnisse oder auch Taktlosigkeiten geschahen ja nicht aus bösem Willen oder mangelnder Empathie, sondern durch Überlastung, dogmatisches Anwenden von im Normalfall durchaus berechtigten Vorschriften und durch Gedankenlosigkeit. Das musste ausgewertet werden, damit es sich nicht wiederholt.

Zum Beispiel?
Zum Beispiel die mangelnde, ja teilweise katastrophale Kommunikation zwischen den Behörden – auf Landes- wie auf Bundesebene – zu Lasten der Opfer, die chaotische Verwaltung der Opferdaten, die unüberlegte und überstürzte Reaktion der Politik mit einem Trauergottesdienst zu einem Zeitpunkt, wo viele Angehörige noch Hoffnung hatten. Und viele andere gar nicht eingeladen wurden.

Oder die Rechnungen für den Totenschein aus der Charité.
Genau. Die wurden den Angehörigen sofort, also noch im Dezember, zugeschickt. Während das Beileidsschreiben des Regierenden Bürgermeisters erst im Februar eintraf.

Wäre das heute anders?
Ja, und zwar aus zwei Hauptgründen: Als Konsequenz hat Berlin als erstes Bundesland überhaupt eine Zentrale Anlaufstelle für Terroropfer eingerichtet. Damit verbunden gibt es nun ein funktionierendes Netzwerk zwischen Behörden und Einrichtungen wie Opferhilfsorganisationen oder Kliniken. Weiterhin ist nun auch das Bewusstsein da, dass man sich schneller und anders um die Betroffenen kümmern muss.

Das größte Problem – und Sie haben das sehr früh angesprochen – war aber, dass das Opferentschädigungsgesetz für die Toten und Verletzten des Anschlags nicht angewendet werden konnte.
Genau. Weil die Tat mit einem Fahrzeug verübt wurde, musste die sogenannte Verkehrsopferhilfe eintreten. Dadurch standen nur maximal 7,5 Millionen Euro zur Verfügung – eine Summe, die hier nicht ausreicht. Bisher wurden nämlich bereits knapp 3,8 Millionen Euro an Entschädigungszahlungen geleistet und an einige Betroffene werden lebenslang Zahlungen zu erbringen sein. Aus dem Grund wurde das Gesetz durch ministeriellen Erlass hier für anwendbar erklärt.

Roland Weber, Opferbeauftragter des Berliner Senats
Roland Weber, Opferbeauftragter des Berliner Senats
© Doris Spiekermann-Klaas

Manche verweisen, dass es immer die Möglichkeit von Sonder- oder Härtefallfonds gibt. Wäre das eine Lösung?
Nein. Das kann zwar zur Einzelfallgerechtigkeit beitragen, aber die Betroffenen müssten immer darum bitten, etwas zu bekommen. Es ist etwas ganz anderes, wenn ein Rechtsanspruch auf eine Leistung besteht. Da muss man sich als Opfer oder Angehöriger nicht auf den guten Willen der Regierenden verlassen. Zumal ja niemand weiß, wie die politischen Verhältnisse sich entwickeln.

Und tut sich nun endlich etwas in Sachen Reform des Opferentschädigungsgesetzes?
Ja. Wie bei Ihnen berichtet, gibt es einen Gesetzesentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Dort steht in der Einleitung wörtlich: „Gewaltopfer müssen Leistungen schneller und zielgerichteter als bisher erhalten.“ Damit hat die Kritik der Betroffenen, die von den Medien aufgenommen wurde, schon Wirkung gezeigt. Ich freue mich jedenfalls sehr darüber.

Und was ist mit dem Problem „Fahrzeug als Waffe“?
Auch das wird berücksichtigt. So heißt es in dem Entwurf, dass Ansprüche bei tätlichen Angriffen mit Kraftfahrzeugen geltend gemacht werden können, soweit nicht Ansprüche gegen die Kraftfahrzeug-Unfallhilfe bestehen. Nun sind die Opfer keine Bittsteller mehr, sondern können an beiden Stellen ihre Ansprüche geltend machen.

Das Opferentschädigungsgesetz sollte auch einen anderen oft kritisierten Umstand beenden: dass Opfer von „normalen“ Straftaten viel weniger Entschädigung bekommen. Ist das auch Ihre Meinung?
Ja. Es gibt keine wirkliche Begründung für den derzeitigen Zustand. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich finde es absolut richtig, dass die Hilfe für die Opfer des Terroranschlags am Breitscheidplatz auf 30 000 Euro im Todesfall aufgestockt wurde. Dass aber andere mit weniger als 2000 Euro abgespeist werden, ist nicht in Ordnung. Schon eine Beerdigung kostet deutlich mehr.

Sie wissen das auch durch Ihre hauptamtliche Tätigkeit als Anwalt, wo Sie gerade die Mutter der von einem Mitschüler ermordeten 14-jährigen Keira G. vertreten haben?
Ja, ich habe schon oft die Angehörigen von schlimmen Straftaten vor Gericht begleitet und kann verstehen, dass sie sich manchmal als „Opfer zweiter Klasse“ fühlen. Es wird damit begründet, dass sich Terroranschläge nicht gegen das Individuum, sondern gegen den Staat richten. Aber ist es so viel anders, wenn jemand durch einen Mitschüler, eine verirrte Kugel bei einem Raubüberfall ums Leben kommt.

Engagieren Sie sich hauptsächlich wegen Ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit für den Schutz der Opfer?
Nein, ich betrachte das als meine Lebensaufgabe. Ich wollte schon in der Oberstufe Anwalt werden. Habe anfangs auch als Verteidiger gearbeitet, aber irgendwann gemerkt, dass mir die Opfer menschlich näher sind.

Weil man dann auf der Seite der Guten steht?
Ich finde, dass die Verteidigung selbst von noch so schlimmen Gewaltverbrechern ein ganz wichtiges Element eines Rechtsstaats und einer Zivilgesellschaft ist. Aber ich sehe auch, wie viel es noch beim Opferschutz zu verbessern gibt. Obwohl da in den vergangenen 20 Jahren schon einiges passiert ist.

Was genau?
Zum Beispiel, dass jetzt auch im Jugendrecht die Möglichkeit der Nebenklage besteht. Überhaupt gab es viele Gesetzesänderungen zu Gunsten der Opfer. Leider sind die in der Praxis vielfach noch nicht angekommen. Ich denke da an die Möglichkeit der Videovernehmung. Aber dann heißt es bei den Gerichten: „Wir haben keine Technik“ oder bei der Polizei: „Es fehlt an Schreibkräften“.

Man wundert sich auch immer wieder, wenn bei Strafprozessen Täter und Opfer oder ihre Angehörigen nebeneinander sitzen oder sich im gleichen (Vor-)Raum aufhalten müssen. Das ist doch eigentlich unzumutbar, oder?
Absolut. Deshalb sollte es ja Zeugenzimmer geben. Davon sind bundesweit betrachtet viele Gerichte noch weit entfernt.

Aber es gibt doch so viele Hilfsorganisationen für Opfer.
... die aber nur von wenigen Betroffenen in Anspruch genommen werden.

Warum?
Weil die Initiative in Deutschland von den Opfern oder ihren Angehörigen ausgehen muss. Die werden zwar von der Polizei oder Helfern unmittelbar nach der Tat über Hilfsmöglichkeiten informiert, oftmals befinden sie sich aber meist in einer solchen Ausnahmesituation, dass das bei ihnen gar nicht ankommt. Besser wäre ein proaktiver Ansatz.

Was ist das?
In den Niederlanden werden die Opfer von der Polizei gefragt, ob Hilfsorganisationen sie zeitnah anrufen dürfen. Damit sind fast alle einverstanden – mit der Folge, dass ein Großteil der Betroffenen die Rechte in Anspruch nimmt. In Deutschland sind es höchstens zehn Prozent.

Wie kann man das ändern?
Entweder eine klare Rechtslage schaffen, so dass wie etwa in den Niederlanden aktiv auf die Opfer zugegangen werden kann. Oder der Polizei die Aufgabe der Opferbetreuung für die erste Zeit nach der Tat übertragen, wie es in Großbritannien gemacht wird. Auch dieser Weg ist nämlich sehr viel erfolgreicher. Übrigens sind die meisten Beamten sehr aufgeschlossen für den Opferschutz und unterstützen das sehr.

Noch ein Wort zum Umgang der Medien mit dem Terroranschlag am Breitscheidplatz: Zunächst gab es Lob für die Zurückhaltung – später wurde beklagt, dass die Opfer kein Gesicht hätten und man deshalb gar nicht richtig trauern könne.
Ich glaube, dass die Medien das gar nicht allein entschieden haben. Weil die Zuständigkeit sehr schnell zum Bundeskriminalamt wechselte, sickerten kaum Personalien der Opfer durch. Der offizielle Weg führte über mich, und ich fragte zuerst die Betroffenen. Von denen wollte anfangs tatsächlich kaum einer mit Journalisten reden. Das änderte sich bei manchen später, aber das halte ich auch für normal. Andere wiederum wollen auch jetzt, am zweiten Jahrestag auf keinen Fall mit den Medien reden, weil für sie dann alles wieder aufgewühlt würde. Das sind alles menschliche Reaktionen.

Wenn Sie drei Wünsche frei hätten, wie würden sie lauten?
Erstens: Eine Welt ohne Straftaten, denn dann gäbe es keine Opfer mehr. Zweites: Bis es soweit ist, ein Zugehen auf die Opfer durch Polizei und Behörden, damit diese ihre Rechte endlich kennenlernen. Drittens: Ein enttabuisierender Umgang, ungeachtet des Delikts, des Geschlechts, der Herkunft oder der Religion, damit die Opfer ihre Rechte auch wahrnehmen.

Das Interview führte Sandra Dassler.

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