Anschlag in Straßburg: Ein Unberechenbarer wird zum Täter
Der Tatverdächtige von Straßburg: Ein 27 Mal verurteilter Gewohnheitskrimineller, "islamistisch radikalisiert", gewaltbereit - und schwer zu überwachen.
Es ist etwa 20 Uhr am Dienstagabend, als der CDU-Europaabgeordnete Sven Schulze erfährt, dass aus Sicherheitsgründen niemand das Gebäude verlassen darf. Rund 1000 Personen halten sich im Straßburger Europaparlament auf, das gerade zu seiner letzten Sitzungswoche in diesem Jahr zusammenkommt. Sven Schulze will aufbrechen zu einem Abendessen in Oberkirch im benachbarten Baden-Württemberg. Dort wartet eine Besuchergruppe aus seinem Wahlkreis in Sachsen-Anhalt. Am Vormittag hat er sie noch im Parlament empfangen. Doch er sitzt in Straßburg fest.
Draußen, in den verwinkelten Gassen der Stadt, auf dem Weihnachtsmarkt in der Stadtmitte, schießt ein Mann um sich, zückt ein Messer. Es ist Chérif Chekatt, der zwischen 20 und 21 Uhr drei Menschen tötet. Zeugen hören, wie er „Allahu akbar“ ruft – Gott ist groß. Obwohl Polizisten auf ihn schießen und ihn offenbar am Arm verletzen, gelingt Chekatt die Flucht. Angeblich entkommt er mit einem gestohlenen Taxi. Sofort machen sich 350 Polizeibeamte und mehrere Hubschrauber auf die Suche nach dem Attentäter – vergeblich.
Schulze bekommt zunächst eine E-Mail von der Parlamentsverwaltung mit der Bitte, das Gebäude nicht zu verlassen. Anschließend wird er per E-Mail „stündlich auf dem Stand gehalten“, erzählt er. Wer einen Parlamentsausweis vorweisen kann, wird reingelassen. Wieder raus darf niemand. Gegen 1.40 Uhr gibt Parlamentspräsident Antonio Tajani im Plenumssaal eine erste Entwarnung. Alle, die nicht in der Straßburger Innenstadt untergebracht sind, könnten den Heimweg auf eigene Gefahr antreten. Für die übrigen soll ein von der Polizei eskortierter Konvoi organisiert werden.
Für die deutschen Sicherheitsbehörden ist der Anschlag in Straßburg der Alptraum, den sie derzeit am meisten fürchten. Als habe der 29-jährige Täter auch in der Bundesrepublik einen wunden Punkt getroffen. „Schon wieder ein Angriff auf einen Weihnachtsmarkt“, sagt ein hochrangiger Experte.
Der Anschlag, den Anis Amri vor zwei Jahren auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin verübte, stecke noch allen in den Knochen. Jetzt in Straßburg hat offenbar wieder ein Typ Täter zugeschlagen, der als unberechenbar gilt und Polizei und Nachrichtendienste hilflos zurücklässt. Ein radikalisierter Profikrimineller, bislang 27 Mal verurteilt, allein in Frankreich 20 Mal, verroht, skrupellos, jederzeit zu einer Gewalttat bereit – und schwer zu überwachen.
Spontan aus Rache
Womöglich habe Chekatt, sagt der Sicherheitsexperte, „spontan aus Rache gehandelt“. Weil er nach dem Versuch der französischen Polizei, ihn Dienstagvormittag festzunehmen, in seiner Wut beschlossen habe, „es den Ungläubigen heimzuzahlen“. Da, wo es in der Weihnachtszeit einer Stadt am meisten weh tut. Erst recht in Straßburg. Hier ist nicht vergessen, dass die „Meliani-Gruppe“, eine Bande algerischer Islamisten, im Dezember 2000 einen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt plante. Die Terroristen bereiteten von Frankfurt am Main aus einen Angriff mit einer Bombe in einem Kochtopf vor, gefüllt mit Nägeln. Die Polizei konnte die Gruppe an den Weihnachtsfeiertagen hochnehmen.
Im März 2003 verurteilte das Oberlandesgericht Frankfurt vier Täter zu Haftstrafen zwischen zehn und zwölf Jahren.
Anders als bei der Meliani-Gruppe handelt es sich bei Chérif Chekatt vermutlich um einen Einzeltäter. Von Anhängern der Terrormiliz „Islamischer Staat“ wird er im Internet bereits gefeiert. Wie auch Anis Amri nach seinem Anschlag. Und das ist nicht die einzige Parallele.
Ähnlich wie bei Amri zeugt Chekatts Lebenslauf von großer krimineller Energie; er zeigt, dass Chekatt wie ein Vagabund in unterschiedlichen Ländern unterwegs ist und immer wieder als Straftäter auffällt. Amri reiste von Tunesien nach Italien, kam dort wegen Körperverletzung und Brandstiftung in Haft, schlich sich illegal in die Schweiz ein, gab sich dann in Deutschland als Flüchtling aus und handelte in Berlin mit Drogen. Chekatt pendelte zwischen Frankreich, der Schweiz und der Bundesrepublik und fiel mit Einbruchdiebstählen auf. Im Juni 2016 verurteilte ihn das Amtsgericht im südbadischen Singen zu zwei Jahren und drei Monaten Haft. Der Richterspruch beschreibt einen Intensivtäter, der für die Gesellschaft verloren zu sein scheint.
Chekatt wächst mit sechs Geschwistern bei seinen Eltern in Straßburg auf. Er ist französischer Staatsbürger, seine Familie kommt ursprünglich aus Algerien. Im Alter von 16 Jahren beendet er die Schule mit einem einfachen Abschluss. „Eine Ausbildung hat er nicht absolviert“, steht im Urteil. Seit 2011 sei der Angeklagte arbeitslos „und nach eigenen Angaben viel auf Reisen“. Vier Jahre seines Lebens habe er bereits im Gefängnis verbracht. In Deutschland legt es Chekatt auch darauf an.
Ende Februar 2012 dringt er nachts in Mainz in eine Zahnarztpraxis ein. Er bricht zwei Türen auf, dann schraubt er einen Tresor von der Wand. Chekatt demoliert auch zwei Geldkassetten, um an den Inhalt zu gelangen. Die Beute wird im Urteil akribisch aufgelistet: „1467,00 Euro Bargeld, Briefmarken im Wert von 192,00 Euro sowie Zahngold im Wert von 6572,00 Euro.“
Vier Jahre später schlägt Chekatt wieder in Deutschland zu. Im Januar 2016, auch diesmal in der Nacht, bricht er in der südbadischen Kleinstadt Engen in eine Apotheke ein und entwendet aus den drei Kassen 315 Euro. Da die Alarmanlage schrillt, verschwindet er schnell. Doch die Polizei kommt ihm auf die Spur und nimmt ihn noch am Tag der Tat fest. Im Prozess am Amtsgericht Singen gibt Chekatt fast alles zu.
Angst vor Nachahmern in Deutschland
Wegen mehrerer Einbruchdiebstähle wird er im Jahr 2008 in Frankreich zu zwei Jahren Haft verurteilt. 2013 steht er in Basel vor Gericht, wieder geht es um eine Serie von Einbrüchen. Diesmal soll er für eineinhalb Jahre ins Gefängnis. Er kommt allerdings schon zwei Monate früher frei. Was Chekatt dann in der Zeit treibt, bevor er in Deutschland den zweiten Einbruch begeht, ist unklar. Nach der Festnahme im Januar 2016 sitzt Chekatt zunächst in der JVA Konstanz, dann in der JVA Freiburg. Im Februar 2017 wird er nach Frankreich abgeschoben.
Den Sicherheitsbehörden dort fällt Chekatt nicht nur als Dieb auf. Er sei in Straßburg als „islamistisch radikalisierte Person“ eingestuft worden, heißt es aus Kreisen der deutschen Polizei. Zwei Brüder von Chekatt werden am Dienstag in Gewahrsam genommen. Die deutschen Behörden haben nun die Sorge, dass Chérif Chekatt, eventuell mit seinem Bruder Sami (34), nach Deutschland kommt, am Mittwochnachmittag finden Straßenkontrollen in Baden-Württemberg, im Saarland und in Rheinland-Pfalz statt.
Die Behörden fürchten zudem, dass der Angriff auf den Weihnachtsmarkt in Straßburg in einer deutschen Großstadt Salafisten animieren könnte, als „Nachahmertäter“ auch einen Weihnachtsmarkt zu attackieren. Ob mit einem Fahrzeug, wie Anis Amri, mit einer Pistole, wie Chérif Chekatt. Oder mit einem Messer, wie es schon bei vielen Attentaten geschah. Auch in Deutschland. Im Juli 2017 stach der Islamist Ahmad Alhaw in einem Hamburger Supermarkt zu. Ein Mensch starb, fünf weitere wurden verletzt.
Aber auch das Risiko eines Anschlags einer Bande ist den deutschen Behörden präsent. Am Dienstag ließ die Bundesanwaltschaft in Hamburg eine Frau festnehmen, die den IS bei der Planung eines Anschlags „mit zahlreichen Todesopfern auf eine nicht näher konkretisierbare Großveranstaltung“ unterstützt haben soll.
Am Donnerstag wird bekannt, dass die Bundesanwaltschaft sich in die Ermittlungen gegen Chérif Chekatt eingeschaltet hat, der möglicherweise nach Deutschland geflohen ist. Es sei am Mittwoch ein Verfahren gegen Chekatt wegen Mordes, versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung eingeleitet worden, sagte die Sprecherin der Behörde am Donnerstag dem Tagesspiegel.
Die Bundesanwaltschaft habe die Ermittlungen wegen der besonderen Bedeutung des Falles aufgenommen. Ein weiterer Grund sei, dass bei dem Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt sechs Deutsche betroffen waren, auch wenn sie nicht verletzt wurden. Die Personen aus Deutschland seien traumatisiert, sagte die Sprecherin der Bundesanwaltschaft. Sie betonte, die Federführung der Ermittlungen liege weiterhin bei den französischen Behörden.
Einen Tag zuvor, am Mittwoch liegen weiße Rosen auf dem Weg, den Chekatt am Abend zuvor durch die Innenstadt nahm. Vor dem Münster stehen schwerbewaffnete Soldaten. Absperrbänder liegen auf dem Boden, die Polizei lässt die Menschen wieder passieren.
In Frankreich zählt Straßburg zu den Städten, in denen islamistische Netzwerke besonders aktiv sind. Wie der Terrorismusexperte Sébastien Pietrasanta am Mittwoch im Fernsehsender BFM-TV erklärt, halten sich zehn Prozent der von den französischen Behörden in der Sicherheitsdatei „Fiche S“ registrierten Gefährder im Département Bas-Rhin rund um Straßburg auf.
Dies wird unter anderem durch die Geschichte von zehn jungen Männern aus dem Elsass belegt, die Ende 2013 nach Syrien reisten und sich dort am Dschihad beteiligten. Die meisten der Männer stammten aus dem Straßburger Viertel Meinau. Zwei von ihnen starben im Januar 2014 im Bürgerkrieg. Daraufhin beschlossen die Übrigen im Frühjahr 2014, wieder nach Frankreich zurückzukehren. In ihrer Heimat wurden die jungen Männer zu Gefängnisstrafen zwischen sieben und neun Jahren verurteilt.
Der „Erpressung der Terroristen“ nicht nachgeben
Auch der im elsässischen Wissembourg geborene Foued Mohamed-Aggad gehörte zu denen, die sich damals auf den Weg nach Syrien machten. Der Sohn eines Algeriers und einer Marokkanerin, seinerzeit 21 Jahre alt, trat anders als seine Freunde im Frühjahr 2014 nicht den Heimweg nach Frankreich an. Stattdessen heiratete er in Syrien eine Französin, die ebenfalls in den Dschihad gezogen war, die beiden bekamen ein Kind. In einer Nachricht, die von den Ermittlern aufgefangen wurde, verkündete Mohamed-Aggad: „Wenn ich nach Frankreich zurückkehre, dann werde ich nicht ins Gefängnis gehen, sondern alles in die Luft sprengen.“ Er setzte seinen Plan in die Tat um: Im November 2015 war er einer der Attentäter, die im Pariser Konzertsaal Bataclan 90 Menschen ermordeten.
Ein Jahr später, im November 2016, geriet die elsässische Hauptstadt erneut ins Visier der Terrorfahnder. Bei Hausdurchsuchungen in Straßburg und in Marseille wurden sieben Männer festgenommen. Sie hatten Anschläge auf mehrere Orte in Paris geplant, unter anderem auf den Weihnachtsmarkt auf den Champs-Elysées und auf das nahe Paris gelegene Disneyland. Nach den Erkenntnissen der Ermittler wurde ihre Operation vom IS, von Syrien und Irak aus, gesteuert. Unter den Festgenommenen befand sich auch ein 37-Jähriger, der als Betreuer in einer Grundschule im Straßburger Bezirk Meinau arbeitete. Er hatte weder Vorstrafen, noch wurde er als Gefährder eingestuft. Ein Jahr vor seiner Festnahme hatte er eine Reise nach Zypern unternommen. Die Ermittler gingen davon aus, dass er von dort nach Syrien weitergereist war. In seiner Wohnung wurden Schriftstücke gefunden, in denen der Dschihad verherrlicht wurde.
Der Sozialist Roland Ries, seit zehn Jahren Bürgermeister von Straßburg, versucht am Mittwoch den richtigen Ton zu finden: Die Straßburger sollten zusammenkommen, „um der Opfer zu gedenken und zu trauern“, sagte er. Und fügte in einem Interview mit dem Radiosender „France Inter“ gleich hinzu, dass man nicht der „Erpressung der Terroristen“ nachgeben dürfe.
Der Weihnachtsmarkt, der am Mittwoch den Betrieb eingestellt hatte, soll auch an diesem Donnerstag geschlossen bleiben. Der Weihnachtsmarkt, den auch die sachsen-anhaltinischen Gäste des Parlamentsabgeordneten Schulze am Dienstag besuchten. Sie blieben bis 17 Uhr.