Suizid als Tabuthema: Nicht totschweigen!
Jedes Jahr sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Unfälle, Gewalt und illegale Drogen. Trotzdem wird über das Thema kaum gesprochen. Experten und Betroffene fordern: Lasst uns das endlich ändern!
Morgens am S-Bahnhof, Warten auf die Ringbahn: Aktentaschen, müde Gesichter, hektische Blicke auf die Uhr. Doch der Zug, der laut Anzeige längst eingefahren sein sollte, kommt nicht, der Bahnsteig füllt sich immer weiter. Dann springt die Anzeigetafel um: „Wegen eines Notarzteinsatzes kommt es derzeit zu Verspätungen.“ Die Menschen stöhnen auf, laufen los, zur Bushaltestelle. Bloß nicht wieder zu spät im Büro sein! Diese verdammte S-Bahn!
Was in diesen Momenten vielleicht ein paar hundert Meter weiter auf den Gleisen passiert, spielt für die meisten Passagiere kaum eine Rolle. Was soll schon los sein? Vielleicht ist jemand in der S-Bahn umgekippt, vielleicht hat sich einer verletzt, der noch hineinspringen wollte, als sich die Türen schon schlossen. Es passiert ja so viel.
Eine logische Erklärung? Als ob es so etwas gäbe
Es wird gern verdrängt, ist manchen vielleicht auch unbekannt: Hinter dem Begriff „Notarzteinsatz“ verbergen sich oft dramatische Unglücke. Jugendliche, die beim S-Bahn-Surfen zu Tode kommen, Menschen, die einen nahenden Zug zu spät sehen. Besonders häufig sind jedoch sogenannte Schienensuizide. Menschen nehmen sich das Leben, ein Zug ist ihre Waffe. 630 Menschen haben sich laut aktuellster Todesursachenstatistik des Bundes im Jahr 2014 absichtlich „vor ein sich bewegendes Objekt“ geworfen oder gelegt. In der Regel sind das Züge und U-Bahnen. Diese Fälle sind aber nur Teil eines größeren Problems, das in unserer Gesellschaft wenig Aufmerksamkeit bekommt. Aus Unwissenheit, aus Verlegenheit, aus Angst, es könnte häufiger passieren, wenn man darüber redet.
Das Thema Suizid taucht meist nur dann in öffentlichen Diskussionen auf, wenn ein Prominenter sich das Leben genommen hat. Dann wird wild spekuliert und getratscht. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist der Tod des Profifußballers Robert Enke im November 2009. Wochenlang waren Zeitungen, Blogs und Fernsehsendungen voller Berichte über Enke, seine Frau, Brüche im Familienleben. Es wurde bekannt, wie lange der Sportler in Behandlung war und was er in seinen Abschiedsbrief geschrieben hat. Journalisten versuchten, die Hintergründe des Suizids zu analysieren, eine logische Erklärung für Enkes Handeln zu finden – als ob es so etwas gäbe.
Berichterstattung kann die Fallzahlen steigen lassen
Häufig taucht rund um die Berichterstattung über Suizide auch der Begriff „Werther-Effekt“ auf. Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ war 1774 ein Bestseller – und ein furchtbarer Skandal. Die Fälle junger Leser, die sich mit dem tragischen Helden so sehr identifizierten, dass sie seine Selbsttötung imitierten, sollen sich seinerzeit gehäuft haben. Seither gab es zahlreiche Studien zu Zusammenhängen zwischen der medialen Thematisierung realer Fälle und regionaler oder nationaler Suizidraten. Auch deutsche Bahngesellschaften registrieren bis heute einen „Enke-Effekt“: Junge, depressive Männer, für die Enke ein Idol ist, steigen mit Fan-Schal ausgestattet auf die Gleise.
Viele Wissenschaftler gehen davon aus, dass Artikel und Fernsehbeiträge die Fallzahlen tatsächlich steigen lassen, weisen aber auch darauf hin, dass die Art und Weise, wie über Suizid gesprochen oder geschrieben wird, bedeutsam ist. „Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung“, heißt es im Pressekodex des Deutschen Presserates. Dass man darauf verzichten sollte, Ort, Todesart und Motive zu nennen, kam auch bei einem Presseseminar der Deutsche Bahn Stiftung zur Sprache. Regelmäßig spricht der Presserat Missbilligungen und Rügen aus, weil Medien Details von Suizidfällen oder Einzelheiten aus dem Privatleben der Betroffenen schildern – nicht nur bei Prominenten.
Jeder zehnte Berliner Todesfall beruht auf Suizid
Auch wir haben uns gefragt, ob dieser Artikel falsche Signale aussenden könnte, ob sie gefährdete Menschen in ihren Suizidplänen bestärken könnte, ob wir als Journalistinnen verantwortungsvoll handeln. Was wir nicht wollten: Skandale, Gruselgeschichten, Porträts von Menschen, die sich das Leben genommen haben. Stattdessen haben wir mit acht Berlinerinnen und Berlinern gesprochen, die in unterschiedlichen Situationen mit Suiziden in Berührung kommen, aus beruflichen oder privaten Gründen. Manche von ihnen gehen das Thema kühl und analytisch an, andere emotional und leidenschaftlich. Sie alle sind Teil einer kaum sichtbaren, aber im Alltag dieser Stadt sehr präsenten Infrastruktur. Diese Menschen kümmern sich um Zeugen, sind Hinterbliebene, klären Versicherungsfragen oder betrachten Suizide aus wissenschaftlicher Perspektive. Auch sie haben Unsicherheiten und offene Fragen, aber eine gemeinsame Meinung: Über Suizid muss mehr gesprochen werden – aber richtig.
Mehr als 10.000 Menschen sterben in Deutschland jedes Jahr durch Suizid. In Berlin wurden zuletzt 341 Fälle für das Jahr 2013 registriert, jeder zehnte Todesfall war ein Suizid. Damit sterben mehr Menschen durch Selbsttötung als durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten und illegale Drogen zusammen, so die Bilanz der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.
Überlebende kämpfen oft lebenslang mit den Folgen
Dazu kommen die Suizidversuche. Deren Anzahl liegt Schätzungen zufolge um ein Zehn- bis Zwanzigfaches höher, also jährlich etwa 150.000 Selbsttötungsversuche bundesweit. Die Überlebenden sind häufig verstümmelt, leiden lebenslang Schmerzen, brauchen medizinische Hilfe. Dabei geht niemand wirklich freiwillig: Depression gilt als häufigste Ursache – nicht nur im Winter, wenn es dunkel, grau und kalt ist, sondern gerade auch in der Frühlingszeit.
Depression kann wortwörtlich lebensmüde machen, und es misslingt viel zu häufig, sie zu erkennen und rechtzeitig zu heilen. Darum erleben so viele Menschen Suizidfälle im Freundeskreis, in der Familie, unter den Kollegen oder an der Uni. Es macht sprachlos, traurig, verzweifelt, wütend auf sich selbst. Hätte man nicht etwas tun können, mehr tun können? Für die Hinterbliebenen bleibt die Welt stehen, vielleicht bricht sie auch zusammen – und irgendwo kommt wieder ein Zug nicht pünktlich.
Die Psychiater
Bei einer Patientin ist Stephanie Krüger zur Beerdigung gegangen. Die junge Frau hatte eine Depression und wenig Glück in ihrem Leben. Sie wollte Jura studieren, aber das ging wegen ihrer Krankheit nicht. Sie wollte Kinder bekommen. Es sollte nicht sein. Jeden Tag erzählte sie ihrer Ärztin, Stephanie Krüger, dass sie über Suizid nachdenke, verschiedene Methoden durchgespielt habe. Monatelang wurde sie stationär behandelt. Dann ging es ihr besser. Sie wurde entlassen. Als ihre Nichte einen Monat alt wurde, ertränkte sie sich. Die Psychiaterin kannte die Geschichte der Frau, ihre Probleme, aber war überzeugt, dass sie sich nichts antun werde. „Und dann hat sie es doch gemacht. Das hat mich zutiefst erschüttert.“
Stephanie Krüger sitzt mit ihrem Kollegen Peter Bräunig in einem Konferenzraum des Depressionszentrums Berlin, das seit 2006 am Vivantes Humboldt-Klinikum existiert und in seiner Form einmalig ist. Neun Ärzte und 13 Psychologen behandeln hier Patienten tagesklinisch und ambulant. Stationär kümmern sie sich um bis zu 1500 Frauen und Männer im Jahr. Für die beiden Chefärzte ist Suizid eine Begleiterscheinung der Krankheiten, die sie therapieren. Ein Risiko, das es bei Depressionen und bipolaren Störungen gibt.
„Ich kann Suizidalität nicht wie den Blutdruck messen“
20 Prozent ihrer Patienten denken darüber nach, sich umzubringen oder haben es versucht. Es sei nicht leicht zu bewerten, wie gefährdet ein Patient ist. Was die Ärzte haben, ist letztlich nur das Gespräch. „Ich kann Suizidalität nicht wie den Blutdruck messen“, sagt Peter Bräunig. Es gebe viele Ursachen und Risikofaktoren. Meist gehe Suizid mit einer psychischen Erkrankung, mindestens mit einer Krise einher. Frauen versuchen öfter, sich das Leben zu nehmen. Die Versuche von Männern sind aggressiver und gelingen häufiger.
Noch schwieriger sei die Frage zu beantworten, wann jemand nicht mehr gefährdet ist. Manche Patienten wüssten, was sie sagen müssten, um gehen zu können. Andere wirkten gerade dann, wenn sie den Entschluss zur Selbsttötung gefasst hätten, besonders gelassen. Patienten, die sie lange kannten und behandelten, haben ihren Partner bei einem Wochenendbesuch morgens geküsst, sind aus dem Haus gegangen und nicht wiedergekommen.
Der Lebenswille als Verbündeter
Die beiden Psychiater wissen: Sie können nicht alles erkennen. Ihr größter Verbündeter ist der Lebenswille des Menschen. Und auch die Heimkehr nach einem stationären Aufenthalt ist kritisch: Die Klinik ist ein geschützter Ort. Dann geht das Leben da draußen mit all seinen Schwierigkeiten und Konflikten weiter. „Das kann deine Arbeit von drei, vier Wochen in drei, vier Minuten sehr stark relativieren“, sagt Bräunig.
Hat sich ein Patient umgebracht, besprechen die Ärzte den Fall im Team. Sie evaluieren: Habe ich etwas übersehen? „Wir müssen sichergehen, dass wir keinen Fehler gemacht haben“, sagt Bräunig. „Und wir müssen die betroffenen Kollegen entlasten.“ Aus ihrem Team sei noch niemand an einem tragischen Fall zerbrochen. Aber jeder kenne die Unsicherheit, nicht genug getan zu haben.
Die Aktivistin
Keiner sprach sie darauf an, Bekannte wechselten die Straßenseite. Als Diana Dokos Bruder sich Ende der 1990er Jahre umbrachte, legte sich so etwas wie ein Fluch über die Berlinerin, niemand wollte ihr zu nahe kommen, schien es. Das Tabu des Suizids. „Ich war total erschrocken“, sagt die 43-Jährige heute. „Warum haben alle Angst, darüber zu reden? Warum wird das so unter den Teppich gekehrt?“
Ihr damaliger Kollege Gerald Schömbs machte 2001 nach dem Suizid seiner Lebensgefährtin die gleiche Erfahrung. Die beiden Kommunikationsberater wollten nicht stumm bleiben. Über Suizid, auch den junger Menschen, sollte endlich mehr gesprochen werden. „Präventionsangebote und Infos über Warnsignale und Hilfsangebote gab es für junge Leute in Berlin damals überhaupt nicht“, sagt Diana Doko.
"Suizid ist kein sexy Thema"
Zusammen mit Schömbs gründete sie den Verein „Freunde fürs Leben“. Seit 14 Jahren geben sie dem Thema eine Bühne, wollen Mythen aus der Welt schaffen, aufklären. Bei Jugendlichen ist Suizid die zweithäufigste Todesursache nach Unfällen. Und für Lesben oder Schwule zwischen 12 und 25 Jahren ist das Suizidrisiko laut einer Senatsstudie sogar bis zu sieben Mal höher als bei heterosexuellen Gleichaltrigen. Der Verein nutzt neben Plakaten, Broschüren und einer DVD vor allem Facebook und den Web-Kanal frnd.tv, um die Zielgruppe zu erreichen.
In den Onlinevideos spricht Poetry-Slammerin Julia Engelmann über Einsamkeit, der Moderator Markus Kavka unterhält sich an der Bartheke mit dem DJ Oliver Koletzki und dem Sänger Bosse über Erfolg und Suizid, Klaas Heufer-Umlauf erzählt von Depression im Freundeskreis. Der Tenor ist ernst, trotzdem wird auch rumgealbert. „Suizid ist kein sexy Thema, aber wir versuchen, jugendaffin damit umzugehen“, sagt Diana Doko.
"Wir müssen über Suizid sprechen wie über Krebs oder Aids"
Das passt nicht jedem. Kritik oder Skepsis gegenüber der Vereinsarbeit kommt vor. „Manche finden unsere Materialien und unseren Web-Auftritt zu hip und haben Angst, dass Jugendliche dadurch erst auf die Idee kommen, sich umzubringen.“ Ein großer Irrtum, glaubt die Kommunikationsberaterin. Nichts sei schlimmer als das Totschweigen. Die gefährdeten Jugendlichen wüssten sich oft nicht zu helfen, ihre Mitschüler, Freunde und Lehrer würden die Signale nicht erkennen. „In unserer Gesellschaft geht es nur ums Funktionieren, wir machen uns zu wenig Sorgen umeinander,“ sagt Doko. Grundsätzlich werde über Depression und Suizid längst nicht so offen gesprochen wie über Krebs oder Aids.
Immer wieder war der Verein in den vergangenen Jahren in Schulen, um über psychische Gesundheit aufzuklären. „Gerade in sozial schwächeren Kiezen greifen Schulen das Thema auf und laden uns ein. Suizide bei Jugendlichen passieren aber eher in wohlhabenderen Bezirken, Zehlendorf etwa.“ Dort gebe es öfter die Haltung, dass eine Depression Familienangelegenheit sei. Die Eltern hätten schnell das Gefühl, versagt zu haben, wenn der Nachwuchs ein Problem habe. Die Folge: Schweigen. Bei Familien mit migrantischen Wurzeln hat es Doko meist anders erlebt. Das Kind soll gesund werden, Hilfe von außen wird gern angenommen.
Eine Kampagne wie "Keine Macht den Drogen" fehlt noch
Im September veranstaltete der Verein mit anderen Organisationen die Aktion „600 Leben“. In Deutschland nehmen sich jährlich 600 Menschen unter 25 Jahren das Leben, Flashmobteilnehmer ließen sich deshalb am Brandenburger Tor zeitgleich zu Boden fallen. Auch Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) war da. Mehr als ein Symbol? „Ich hatte gehofft, dass die Aktion nachhaltige Auswirkungen auf die Politik hat, aber bisher ist noch nichts passiert und das frustriert mich manchmal“, sagt Diana Doko.
Regelmäßig bittet sie Politiker und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung um eine nationale Präventionskampagne. Für eine Reihe von Erkrankungen und Risiken gibt es das längst. Die Slogans „Gib Aids keine Chance“, „Mach’s mit“ oder „Keine Macht den Drogen“ sind regelrechte Klassiker. In jüngerer Zeit wurde mit „Kenn’ dein Limit“ für bewussten Alkoholkonsum geworben. Warum gibt es solche großen Kampagnen nicht für den Kampf gegen Suizid, fragt sich Doko. Gern würde sie auch ein umfangreiches Online-Verzeichnis für Hilfsangebote aufbauen. Doch das Geld fehlt. Die Arbeit des Vereins wird durch Spenden finanziert und das, was Doko und Schömbs hineinstecken. Immer wieder haben sie in den letzten Jahren überlegt, aufzugeben. Aber gegen Suizid hilft, da ist sich Diana Doko sicher, nun einmal nur eines: dranbleiben und reden.
Der Feuerwehrmann
Eine Person steht oben auf dem Balkon und droht zu springen. Unten ist ein Netz aufgespannt. Feuerwehrkollegen stehen auf der Straße, Psychologen, die Polizei. Sie alle schauen Manuel Mahnke an. Hoffen, dass er den Suizid verhindern wird. Der Feuerwehrmann versucht, etwas zu finden, das den Mann vom Springen abhält. Ihn zum Nachdenken anregt. Hat er Kinder? Ja. Wie alt sind sie? Wie traurig würden sie sein, wenn er nicht mehr da ist? Er muss nicht verstehen, warum der Mann da oben steht. Er versucht aber, sich in ihn hineinzuversetzen und ihm das Gefühl zu geben, dass er ihm zuhört, ihn wirklich ernst nimmt.
Manuel Mahnke, 34, ist bei der Freiwilligen Feuerwehr Wedding. Einmal in der Woche hat er Dienst. Deswegen hat er nicht so oft mit einem versuchten oder vollzogenen Suizid zu tun wie Kollegen, die jeden Tag rausfahren. In Berlin bringt sich laut offizieller Statistik jeden Tag ein Mensch um. Manuel Mahnke ist auch Soldat, arbeitet im Bundeswehrkrankenhaus als Psychiatriekrankenpfleger und gehört zum Nachsorge-Team der Feuerwehr. Springt ein Mensch tatsächlich, betreuen zunächst diese ausgebildeten „Ersthelfer“ jene Kollegen, die das miterlebt haben. Es sei bewiesen, dass traumatische Einsätze so besser verarbeitet werden. Leiden Feuerwehrleute noch nach einigen Wochen, hilft dann eine Psychologin.
Manche Bilder verschwinden nicht
In Berlin, wo die S- und U-Bahn fährt, sind Einsätze bei Suiziden auf Bahnschienen nicht selten. Manuel Mahnke spricht dann zuerst den Zugführer an. Manche reagieren kühl und professionell, andere sind wie gelähmt. Warum war der da? Ich hab doch gebremst! Danach geht es um technische Fragen: Ist der Strom abgestellt? Der Bahnverkehr gestoppt? Manuel Mahnke hilft, den Leichnam aus dem Gleisbett zu heben, ihn transportfähig zu machen. „Obwohl so viel passiert, wenn wir von dort aus arbeiten, ist ein Bahnhof nach so einem Fall ganz gespenstisch still“, erzählt er. Der Job, sagt Mahnke, sei belastend. Die Dienste lang und anstrengend, Beziehungen gingen zu Bruch. „Mit den Jahren sieht und erlebt man eine Menge“, sagt er. Er achtet darauf, nur die Bilder mitzunehmen, die er wirklich braucht. Die notwendig sind. Es werden mit den Jahren sonst zu viele. Und manche Bilder verschwinden nicht mehr. Wie bei ihm das Gesicht eines Toten.
„Erinnert ihr euch an eure erste Trennung? An dieses Gefühl, dass der Liebeskummer nie mehr weggehen wird? Jetzt versucht euch mal vorzustellen, ihr wart 30 Jahre lang verheiratet, habt Kinder, ein Haus gebaut, Schulden aufgenommen – und dann geht eure Frau. Könnt ihr euch jetzt vorstellen, was Verzweiflung ist?“ Neben seinem Dienst unterrichtet Manuel Mahnke an der Feuerwehrschule. Wenn ihm dort 18-Jährige gegenübersitzen, jung, lebenshungrig, versucht er, sie mit diesem Vergleich abzuholen. „Wer zur Feuerwehr geht, denkt daran, Brände zu löschen und Menschen zu helfen. Er denkt erst mal nicht über Suizid nach.“ Mahnke weiß noch, wie er damals, noch nicht lange bei der Feuerwehr, zum ersten Mal auf einer offenen Bahnstrecke stand. Jemand war vor einen Zug gesprungen. Es war Nacht, neblig, das Licht der Laternen schummrig. Eine düstere Stimmung.
Mehr Suizide als Brandopfer und Verkehrstote
Manuel Mahnke nennt seinen Schülern Fakten: In Berlin gibt es im Jahr knapp 40 Morde, 30 bis 40 Verkehrstote, ebenso viele Brandtote, und mehr als 300 Suizide. Die Versuche nicht mitgezählt. Er versucht, sie vorzubereiten. Auf Grenzmomente und Bilder. Was sie am ehesten erwarten wird, sei ein Sprung aus der Höhe, vor ein Fahrzeug oder ein Suizid durch Erhängen. „Das ist ein so unnatürlicher Anblick, dass man sich das nicht vorstellen kann“, sagt Mahnke. Für ihn ist ein Suizid vor allem die Entscheidung, das eigene Leben, so wie es war, hinter sich zu lassen. Aufhören zu atmen, wirklich sterben – das wolle der Mensch, der sich umbringen will, vielleicht gar nicht. Er wolle aber eine Situation beenden oder ein Gefühl, das für ihn zu schmerzvoll ist.
Der Arzt der Bahn
Uwe K. war mit einer Lok unterwegs, um einen Zug abzuholen. Die Schranke am Bahnübergang war zu, das rote Blinklicht leuchtete. „Plötzlich stand mitten im Gleis eine Person, die sich halb zur Lok umwandte.“ Uwe K. heißt eigentlich anders. Genau genommen hat er unzählige Namen, denn er ist nur ein Fallbeispiel aus einem Heft, das die Deutsche Bahn an ihre Mitarbeiter verteilt. „Psychisch belastende Situationen bewältigen“ steht darauf, auf 36 Seiten geht es um Unfälle, Angriffe auf Bahnpersonal und auch um sogenannte Schienensuizide. Rund 700 mal pro Jahr machen Lokführer in Deutschland die gleiche Erfahrung wie Uwe K., manchmal sind es Unfälle, oft sind es keine.
Christian Gravert leitet seit 2003 das Gesundheitsmanagement des Konzerns und kümmert sich auch um das Thema Suizid, das vom Fernverkehr bis zur Berliner S-Bahn eine Rolle spielt. Die Bahn bietet das Mitarbeiterheft, Notfallmanager, die sich vor Ort um alles kümmern, Vertrauenspersonen aus dem Kollegenkreis und Psychologen. Viele angehende Lokführer sind sich kaum bewusst, dass sie mal einen Zug fahren könnten, der über einen Menschen rollt. Statistisch gesehen passiert das in 40 Berufsjahren etwa zwei bis drei Mal, rechnet Christian Gravert vor. „Man kann nicht ständig darüber nachdenken, wenn man mit Tempo 200 unterwegs ist.“ Aber man sollte eine Vorstellung davon haben.
Kein Lokführer darf danach weiterfahren
Darum gibt es eine „Stressimpfung“: Während der Ausbildung schauen sich Lokführer Aufnahmen von Schienensuiziden aus Überwachungskameras an und reden darüber, was zu tun ist, wenn ein Fall eintritt. Klares Denken wird schwierig sein, alles muss automatisch ablaufen. Unfallstelle sichern, Hilfe rufen, mit dem Zugbegleiter sprechen. Dann warten, bis Rettungswagen und Polizei eintreffen. „Das ist besonders belastend für viele Lokführer: Blaulicht, Hektik, die Fragen der Polizisten“, sagt Gravert. Schließlich kommt die Ablösung. Kein Lokführer darf nach einem Schienensuizid weiterfahren.
Ein Schock ist nicht ungewöhnlich. „Man kann sich wirklich wie verrückt fühlen. Sie übergeben sich, bekommen Verdauungs- und Kreislaufprobleme, können nicht mehr schlafen.“ Normale Körperreaktionen, erklärt der Mediziner Gravert. Die Lokführer bleiben ein paar Tage zu Hause, kommen zur Ruhe. In der Regel geht es ihnen schnell besser. „Das Gehirn hat manchmal erstaunliche Heilungskräfte.“ Gravert kennt Lokführer, die schon mehrere Suizide miterlebt haben und damit zurechtkommen.
Nur in Einzelfällen wechseln die Lokführer ihren Job
Andere aber erleiden eine posttraumatische Belastungsstörung. „Wenn es nicht mehr aufhört, dass der Zugführer daran denkt, Herzklopfen und Angst kriegt, sind die Emotionen im Gehirn falsch verschaltet“, sagt Mediziner Gravert. Der Moment wird im Nachhinein als unendlich lang empfunden, manche fühlen sich als Täter, obwohl sie zum Instrument gemacht wurden. Bei jährlich etwa 30 von insgesamt 20 000 Lokführern der Deutschen Bahn reicht dann auch keine therapeutische Hilfe. Sie wechseln die Stelle, arbeiten etwa im Innendienst, sagt Christian Gravert. „In Einzelfällen gehen Mitarbeiter vorzeitig in Rente.“
Der Trauerredner
Jeden Tag setzt Frithjof Laaser, 52, aus Erzählungen ein Leben zusammen. Er fragt Trauernde, wer der Verstorbene war und was er gemocht hat. Ob er die Welt bereist hat oder lieber in seinem Garten saß. Er fragt sie, wie derjenige gestorben ist. Ob es ein Alterstod war, ein Unfall, ein Suizid. Und versucht dann die Worte zu finden, die den Hinterbliebenen fehlen.
Seit 20 Jahren ist Laaser Trauerredner in Berlin. So wie sein Vater. Eigentlich hat er Lehramt studiert. An diesem Dienstagmittag trägt er einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd. Nach dem Gespräch muss er direkt los, zu einer Beerdigung. Im ganzen Jahr werden es wieder mehrere Hunderte sein, und manchmal, nicht sehr oft, hat der Verstorbene seinen Tod selbst gewählt. So wie kürzlich. Ein 28-Jähriger war von einem Hochhaus gesprungen. Warum, weiß niemand. Nicht seine Eltern, nicht seine Freundin. Sie haben keine Antworten, nur Fragen.
"Jedes Leben ist reich gewesen"
Um sich ein Bild von dem Menschen zu machen, den er in seiner Rede nachzeichnet, trifft er sich mit den Angehörigen. Mal eine Stunde, mal zwei, mal mehr. Aus ihren Erzählungen setzt er ein Puzzle zusammen. Möglichst so, dass die Gäste der Trauerfeier den Verstorbenen darin wiedererkennen. „Bei einem Suizid frage ich die Angehörigen zuerst, wie ich damit umgehen soll, und ob ich das überhaupt thematisieren darf“, sagt er. Bei einem Familienvater sitzen Kinder im Raum, die davon vielleicht nichts wissen. Oder es sind Kollegen, Nachbarn, eingeladen, die nichts wissen sollen. Kann er darüber sprechen, sagt er vorsichtig: „Er hat eine Entscheidung getroffen, die man vielleicht nicht verstehen kann“. Oder: „Sie hat über ihr Leben verfügt.“
Seine Arbeit, sagt Frithjof Laaser, ist eine einzige Ausnahmesituation. Der Tod habe immer etwas Überforderndes. Vor allem, wenn er plötzlich kommt, und sich die, die zurückbleiben, nicht verabschieden konnten. Bei einem Suizid kämen oft noch Schuldgefühle hinzu: Hätte ich doch besser zugehört. Wäre ich öfter dagewesen. „Es ist einfacher, wenn jemand ein bestimmtes Alter erreicht hat“, sagt er. „Und wenn der Mensch glücklich war.“ Wenn es Verwerfungen gab, Brüche, ist es für ihn schwieriger, den richtigen Ton zu treffen. „Ich versuche aber auch dann, von Eigenschaften und Momenten zu erzählen, an die sich die Trauernden gerne erinnern“, sagt er. „Selbst wenn es Probleme gegeben hat, ist jedes Leben doch so reich gewesen.“
Der Versicherungsprüfer
Wie viel ist ein Leben wert? 100 000 Euro? Drei Millionen Euro? Bei Risikolebensversicherungen geht es eigentlich um die, die zurückbleiben. Mit der Trauer, dem Schmerz – und mit Geld, wenn der Versicherungsschutz greift. Kai Schreiber ist seit 1998 Abteilungsleiter bei der Deutschen Lebensversicherungs-AG, einer Tochtergesellschaft der Allianz. Rund zehn seiner 70 Mitarbeiter kümmern sich von den Treptowers am Spreeufer aus um die Bearbeitung von Todesfällen in ganz Deutschland. „Selbsttötungen machen bei uns nur einen kleinen Teil der Todesursachen aus“, sagt er. Es klingt sachlich, nüchtern. Das erfordert seine Arbeit.
Die Versicherungsmitarbeiter sprechen mit trauernden Hinterbliebenen, die vielleicht auch Angst um ihre Existenz haben, etwa wenn der Hauptverdiener einer Familie gestorben ist. Schulungen helfen Schreibers Mitarbeitern, ein Gefühl für den richtigen Umgang zu entwickeln. „Sie müssen Empathie und Verständnis zeigen, dürfen die Situation aber nicht zu nah an sich heranlassen.“ Wer keine Distanz wahren kann, etwa wegen ähnlicher eigener Erfahrungen, muss den Fall abgeben. Kein Kollege kümmert sich ausschließlich um Todesfälle. Es wäre zu belastend, sagt Schreiber.
Scham, Schuldgefühle, Misstrauen - Angehörige sind nicht immer kooperativ
Nur in den ersten drei Jahren nach Vertragsschluss überprüfen Anbieter von Risikolebensversicherungen die Todesursache eines Versicherungsnehmers. Das Gesetz sieht vor, dass Suizide in dieser Phase den Schutz aufheben – „Selbsttötungsklausel“ heißt das im Versicherungsdeutsch. „Das hat auch den Hintergrund, dass sich niemand umbringen soll, weil etwa seine Familie in finanziellen Schwierigkeiten steckt.“ Zwei Ausnahmen gibt es aber, dann zahlt die Versicherung: Wenn der Kunde wegen einer Geisteskrankheit, etwa Schizophrenie, nicht bei Sinnen war. Oder wenn er eine schwere Krankheit hatte, alle Hoffnungen auf Genesung vergebens waren. Gibt es Anzeichen dafür, dass manche Menschen mit ihrem Suizid warten, bis die drei Jahre vergangen sind? „Wir stellen keinen Anstieg von Suizidfällen nach Ablauf der Frist fest.“ Ereignet sich ein Tod innerhalb der ersten Jahre, lassen sich Schreibers Mitarbeiter den ärztlichen Bericht kommen, außerdem gegebenenfalls die polizeiliche Ermittlungsakte. Darin würde sich auch der Abschiedsbrief befinden, wenn es einen gibt. Damit wäre die Situation schon recht eindeutig. Wenn es nicht so leicht ist, fangen die Sachbearbeiter an zu ermitteln, sie sprechen mit Ärzten, Therapeuten, der Familie. Bei Suiziden, sagt Versicherungsmann Schreiber, sind die Angehörigen nicht immer kooperativ. „Das Thema ist noch immer mit viel Scham belastet, hinzu kommen oft Schuldgefühle – und, ja, auch ein gewisses Misstrauen gegenüber Versicherungen.“
War die hohe Dosis Absicht oder Versehen?
Sind sich Hinterbliebene und Versicherung nicht einig, kommt es zum Streit. Wer recht hat, ist manchmal schlicht nicht festzustellen. Schreiber erinnert sich an den Fall eines Kunden, der nach einer Überdosis Tabletten innerhalb der Dreijahresfrist gestorben war. „Es gab wirtschaftliche und familiäre Probleme, aber da war kein Abschiedsbrief.“ Die Tabletten waren dem Mann verschrieben worden, er hatte sie offenbar betrunken eingenommen. War die hohe Dosis Absicht oder Versehen? Schreiber glaubte nicht an einen Unfall, die Angehörigen beharrten darauf. Man einigte sich schließlich auf die Auszahlung der Hälfte der Versicherungssumme.
Wahrscheinlichkeiten, Geld, große Summen, Prozess- und Anwaltskosten – auch das kann zu einem Suizid gehören. „Wir sind Lebensversicherer. Wir kalkulieren eine Prämie, der eine gewisse Sterblichkeit zugrunde liegt“, sagt Schreiber. Heißt konkret: Die strenge Prüfung der Todesumstände ergibt manchmal eben auch, dass die Versicherung zahlen muss. Ein lohnendes Geschäft ist es trotzdem. Und ob die Unternehmen im Zweifelsfall nachgeben, ist oft einfach eine Frage der Wirtschaftlichkeit.
Die Zuhörerin
Als ihr Freund sich das Leben nahm, dachte sie, das tut zu weh. Darüber werde ich nie hinwegkommen. Deswegen weiß sie, wie die Teilnehmer ihrer Selbsthilfegruppe sich fühlen. Was es heißt, so sehr zu vermissen, dass man selbst kaum aufstehen kann.
Seit 2010 leitet Patricia Gerstendörfer, 43, einmal im Monat eine offene und eine angeleitete Gruppe für Hinterbliebene, wie sie der Verein AGUS bundesweit organisiert. Manche kommen regelmäßig, seit Jahren, andere nur ab und zu. Wer möchte, kann auch allein mit ihr sprechen. Hauptberuflich ist Gerstendörfer Sonderpädagogin. Nach ihrem Verlust machte sie dann Weiterbildungen zur Trauerbegleitung, in Traumapädagogik und Traumatherapie, und eine Ausbildung zur psychotherapeutischen Heilpraktikerin.
Sie kann den, der fehlt, nicht zurückbringen
Was Gerstendörfer wichtig ist: Die Trauernden müssen den Verstorbenen in ihren Gedanken nicht loslassen, sondern können eine Form innerer Beziehung zu ihm aufbauen. „Ich kann und will den Menschen doch nicht auch noch aus meinem Herzen und meinen Erinnerungen verbannen“, sagt sie. Was sie aber auch weiß: Ihre Hilfe ist nur die zweitbeste Lösung. Sie kann den Menschen nie das geben, was sie sich wünschen. Sie kann ihnen den, der fehlt, nicht zurückbringen.
Ihre Arbeit in den Gruppen braucht Zeit. Da seien so viele Schuldgefühle, da sei so viel Wut und Traurigkeit. Und so lange halte die Hoffnung, der oder die Verstorbene komme bald zur Tür wieder hinein. In der offenen Runde fragt Patricia Gerstendörfer nur, worüber die Teilnehmer an diesem Abend reden möchten. Mehr nicht. Bei den angeleiteten Treffen bringen die Teilnehmer Bilder derer mit, die gestorben sind. Sie erzählen, wie es ihnen geht, was für Träume sie hatten. Sie gehen die letzte Begegnung noch einmal durch, schreiben dem Toten einen Brief. Patricia Gerstendörfer erklärt ihnen die unterschiedlichen Trauerphasen, vom Nicht-Wahrhaben-Wollen bis zur Akzeptanz des Verlusts. Wenn ein Mann, der seine Frau verloren hat, sich irgendwann neu verliebt, freut sie sich.
"Nicht zu viel grübeln"
Nach dem Suizid ihres Freundes hat Patricia Gerstendörfer eine Therapie begonnen und eine Selbsthilfegruppe besucht. Sie hat Antworten gesucht, auf die Frage, was wohl nach dem Tod passiert. Sie macht ihre ehrenamtliche Arbeit, weil sie so etwas Gutes, etwas Sinnstiftendes tun kann. Es hilft aber auch, nicht zu viel zu grübeln. Die eigenen Tage voll zu bekommen. „Jeder sollte so über sein Leben bestimmen, wie er es möchte“, sagt sie. Es sei nur schlimm, wenn sich der Mensch für den Tod entscheide, den man so lieb gehabt hat.
Der Wissenschaftler
Zehn Jahre lang hat er über Suizid geforscht, hat Abschiedsbriefe gelesen und mit jenen gesprochen, die zurückgeblieben sind. Er hat das Buch „Über Suizid. Ein Berlin-Buch“ geschrieben und im vergangenen Jahr veröffentlicht (Panama Verlag, 19,90 €). 308 Seiten ist es dick. Die Frage, warum sich jemand umbringt, kann Falk Blask trotzdem nicht beantworten.
Wie er auf das Thema kam? Ein Freund hatte sich im Kinderzimmer erhängt. Ohne einen Brief zu hinterlassen. Die Frau des Toten wusste nicht, ob sie es den Kindern sagen sollte, und tat es nicht. Weil Falk Blask die Frage nicht losließ, ob die Entscheidung richtig war, begann er, sich mit dem Thema Suizid zu beschäftigen. Es gab wenig Literatur.
Die Studenten reizte das Thema - oder sie waren selbst betroffen
Deswegen entschied sich der Ethnologe, der an der Humboldt-Universität arbeitet, selbst ein Seminar zu geben. Es war angelegt für 15 Teilnehmer. Zur ersten Sitzung saßen hundert Studenten im Flur. Manche waren betroffen, andere reizte das Thema, weil es tabuisiert ist. „Es war das beste Seminar, das ich gegeben habe“, sagt er. „Eigentlich war um 18 Uhr Schluss. Wir hörten nie vor 20 Uhr auf.“
Wissenschaftliche Bücher analysieren Suizid aus historischer, soziologischer oder psychologischer Sicht. Dem Ethnologen Blask ging es um die Alltäglichkeit des Phänomens. Denn: „Suizid passiert zu jeder Zeit, an jedem Ort und in jedem Milieu einer Gesellschaft.“ Verortet in Berlin, finden sich in seinem Buch persönliche Geschichten, Abschiedsbriefe, Interviews mit Hinterbliebenen und Gespräche mit Menschen, die berufsbedingt mit dem Thema zu tun haben. Aus den Ergebnissen konzipierte er mit den Studierenden auch eine Ausstellung im Medizinhistorischen Museum der Charité. Im Garten der Psychiatrie, wo Depressive versuchen, die Sonne zu genießen. Die Seminarteilnehmer organisierten Vorträge und Diskussionsrunden.
"Ich habe nicht die Erwartung, es zu verstehen"
Bei einer der Veranstaltungen kam ein Mann in einem Rollstuhl auf die Bühne. Im Scheinwerferlicht sah man eine riesige Narbe an seinem Hals, und mit einer kräftigen, knarrenden Stimme begann er, ein Gedächtnisprotokoll vorzulesen, das in dem Buch von Falk Blask abgedruckt ist. Über seinen Versuch, sich zu töten und wie er ihn im letzten Moment abbrach. Ein Student protestierte. Das sei zu viel! Der Mann auf der Bühne sah ihn an: Darüber zu sprechen sei seine Strategie, den Abend und die Jahre davor zu verarbeiten. Als er zwölf war, erzählten ihm seine Eltern: Sie hatten vor seiner Geburt gewusst, dass er behindert auf die Welt kommen würde. Sie entschieden sich für ihn. Nicht aber aus Liebe. Sie wollten dafür das Sozialgeld bekommen. „Tiefer unter die Haut kann eine Situation nicht gehen“, sagt Falk Blask.
Während der Ethnologe sich durch Archive wühlte, stieß er auch auf den Brief eines Menschen, der sich selbst tötete, weil er so glücklich war. Er fuhr mit dem Auto eine Straße entlang, dachte sich, so perfekt wie jetzt wird es nie wieder sein – und beendete deswegen wenig später sein Leben. In einem anderen letzten Schreiben erklärte ein 20-Jähriger, er wolle sehen, wie es auf der anderen Seite aussieht. Das Leben langweile ihn. Diese beiden Geschichten schienen Falk Blask so irrational, dass sie ihn von der Erwartung befreiten, einen Suizid zu verstehen.
Wer hilft mir?
Egal, wie traurig und hoffnungslos man ist: Das eigene Leben zu beenden, ist nie die richtige Lösung. Besser, man spricht so schnell wie möglich über die Situation und holt sich Hilfe.
Die gibt es rund um die Uhr, auch anonym, bei der Berliner Telefonseelsorge (Tel. 0800 1110111). Der Berliner Krisendienst (Tel. 3906300) ist telefonisch ebenfalls immer erreichbar und mit neun persönlichen Anlaufstellen präsent.
Speziell an Jugendliche richtet sich das Beratungsangebot von Neuhland, von 9 bis 18 Uhr erreichbar unter Tel. 8730111. Der Verein hat drei Beratungsstellen und bietet Wohngruppen an. Der Verein Jungundjetzt ermöglicht eine anonyme und kostenlose Online-Beratung.