Wissen: Die Angst fährt immer mit…
Eine FU-Psychologin untersucht, wie Berliner U-Bahnfahrer Fahrgastunfälle bewältigen
Jeden Tag nehmen sich in Berlin im Schnitt ein bis zwei Menschen das Leben. Im Jahr 2002 waren es 466. Etwa sieben Prozent der Selbstmörder werfen sich vor U- oder S-Bahnen. Statistisch gesehen überfährt jeder Zugfahrer während seines Berufslebens mindestens ein Mal einen Menschen – mit zum Teil dramatischen Folgen für das Fahrpersonal. Viele Lokführer leiden anschließend unter posttraumatischen Belastungsstörungen und sind in ihrer Berufsausübung zeitweise eingeschränkt. Einige Betroffene benötigen Jahre, um den Selbstmord des Fahrgastes zu verarbeiten.
Die Psychologin Doris Denis von der Freien Universität hat in ihrer Dissertation erstmals untersucht, wie Berliner U-Bahnfahrer traumatisierende Schienenunfälle bewältigen. Für ihre Studie führte die Psychologin Interviews mit 54 Zugführern der Berliner Verkehrsbetriebe. Doris Denis untersuchte, wie die Fahrer die versuchten und vollendeten Selbstmorde von Fahrgästen erlebten und wie sie die oft traumatischen Erfahrungen verarbeiteten. Grundlage der Untersuchung waren die 104 Fahrgastunfälle, die sich in der Berliner U-Bahn zwischen 1994 und 1996 ereigneten.
Siebzig Prozent der Lokführer wurden durch das Schockerlebnis gesundheitlich so beeinträchtigt, dass sie entweder kurzzeitig berufsunfähig waren oder ihre Arbeit langfristig nicht mehr regelmäßig ausüben konnten. Fast ein Viertel erlitt länger anhaltende Beschwerden. Am belastendsten empfanden die Betroffenen den Moment kurz vor dem Aufprall. Vor allem die Tatsache, dass die Fahrer dem Unfall nicht ausweichen konnten, und der Blickkontakt mit dem Selbstmörder lösten Hilflosigkeit und Panik aus. „Und trotzdem schilderte über die Hälfte der Fahrer den Unfallhergang sachlich distanziert – ein möglicher Hinweis auf die traumatisierende Wirkung", sagt Denis. Doch nicht jeder Fahrer reagiert mit dieser Art psychischer Entfremdung vom Geschehen: „Fast ein Fünftel entwickelt Wut und Ärger gegenüber dem Selbstmörder und fühlt sich selbst als Unfallopfer.“
In den ersten vier Wochen nach dem Unfall litten über vierzig Prozent unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Bei jedem Zehnten wurden die Beschwerden chronisch. Trotzdem nimmt die Mehrzahl der Zugführer den Dienst bereits nach wenigen Tagen wieder auf. „Allerdings sind fast drei Viertel der Fahrer nach dem Unfall bei der Arbeit extrem angespannt“, weist die Wissenschaftlerin auf die Langzeitfolgen für das U-Bahn-Personal hin. Aus ihren schmerzhaften Erfahrungen ziehen die Betroffenen aber auch positive Schlüsse. Der Fahrgastunfall wird, so paradox das klingt, als wertvolle Lebenserfahrung wahrgenommen. Die Zugführer ändern danach zum Teil ihr Leben und gehen stärker auf Menschen zu.
Die Lokführer verarbeiten ihre Erlebnisse ganz unterschiedlich. „Zwar sprechen sie alle über den Unfall, aber nur die, die tatsächlich ein starkes Redebedürfnis haben, verarbeiten das Trauma vergleichsweise schnell. Sie nehmen den Fahrdienst früher wieder auf und bauen Ängste mit einer Art Konfrontationstaktik ab“, sagt die Psychologin. „Die von Beginn an stärker Traumatisierten ziehen sich zurück, meiden Verkehrsmittel und kehren erst später zum Dienst zurück.“ Die gegensätzlichen Bewältigungsstrategien zeigen sich auch im sozialen Leben. Während manche viel Zeit alleine verbrachten und sich mit Musik, Naturerlebnissen und Fernsehen ablenkten, vermieden andere unter allen Umständen Ruhephasen und suchten ständig Gesellschaft. Sie reisten zu Angehörigen und Freunden, nahmen Medikamente und beruhigten sich mit Alkohol. „Eine Gemeinsamkeit gibt es allerdings“, sagt Doris Denis. „Für die meisten sind Familie, Freunde und Kollegen die wichtigste emotionale Stütze.“
Enttäuscht waren die U-Bahnführer von der Soforthilfe direkt nach dem Fahrgastunfall. Zwar wurden über achtzig Prozent der Fahrer in Krankenhäusern ambulant behandelt, doch nur jeder Zehnte empfand die meist medikamentöse Behandlung als ausreichend hilfreich. „Ich finde es alarmierend, dass manche der Fahrer eine Versorgung im Krankenhaus nach einem erneuten Unfall ablehnen würden, weil die Ärzte der Erste-Hilfe-Stationen auf die Akutbehandlung von Traumapatienten nicht ausreichend vorbereitet waren“, sagt Denis. Die medizinische Nachsorge erfolgte in der Regel durch den Hausarzt, weil für viele Fahrer die Hemmschwelle, psychiatrische oder psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, zu hoch war. Von ihrem Arbeitgeber, der BVG, wünschten sich die Befragten nicht nur mehr Fürsorge nach einem Fahrgastunfall, sondern auch bessere Unterstützung bei der Suche nach Behandlungsmöglichkeiten. „Dass professionelle Hilfe nicht ausreichend erfolgt“, so Denis, „ist die traurige Erkenntnis der Untersuchung.“
Literatur: Doris Denis, Die Angst fährt immer mit. Wie Lokführer traumatisierende Schienenunfälle bewältigen, Heidelberg und Kröning: Asanger Verlag 2004, ISBN: 3-89334-423-3
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