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Umkehr möglich. Kontakt gibt es unter u25-berlin.de.
© IMAGO

Berliner Krisenberatung per Mail: Warum es hilft, über Selbstmord zu reden

Junge Freiwillige bieten sich in einem Projekt der Berliner Caritas gleichaltrigen Suizidgefährdeten als Gesprächspartner an – per Mail und mit erstaunlichem Erfolg.

Es ist knapp zehn Jahre her, dass der 16-jährige Schüler Malte Diester es nach langer Überlegung von allen Dingen, die einem Menschen zu Gebote stehen, für die beste Lösung hielt, sein Leben zu beenden. Er wählte Rasierklingen. Seine Schule im Norden Deutschlands, ein Ort, an dem er zuvor einige Demütigung hatte einstecken müssen, schien ihm für die Tat am besten geeignet.

Doch nun erscheint der inzwischen 25-jährige Student Malte Diester in einem Berliner Café mit dem unerwarteten Satz „Suizid ist gut verhinderbar“. Er weiß das, weil er es ständig tut. Zur Zeit betreut er vier junge Menschen in Krisen per Mail, „zwei von ihnen sind ziemlich suizidal“. Er hat zugesagt, auf jede Mail spätestens innerhalb von sieben Tagen zu antworten.

Diester arbeitet ehrenamtlich für U25, ein Angebot der Caritas. Das Ziel: möglichst viele Selbstmorde junger Menschen zu verhindern. Die Ehrenamtlichen nennen sich „Peer-Berater“, weil sie keine ausgebildeten Psychologen sind, sondern einfach genau so jung wie die Betroffenen. Sie helfen ausschließlich per Mail und anonym. Und deshalb spielt es keine Rolle, in welchem Berliner Café das Gespräch mit Malte Diester stattfindet, wie er aussieht oder dass er in Wirklichkeit anders heißt – hier geht es um nichts Äußeres, sondern um die Kartierung einer unbekannten, ziemlich vertrackten menschlichen Innenwelt, die mit ihrer eigenen Dynamik für ihren Besitzer lebensgefährlich werden kann.

Dunkle Innenwelt

Diese Innenwelt sei um einiges dunkler als das, was die meisten Menschen „Realität“ zu nennen sich angewöhnt hätten. Sie wirke, sagt Diester, trüber und bedrohlicher, enthalte mehr Anteile Scham und Schuld und vor allem so gut wie keine Hoffnung. Sie unterscheide sich sehr von der Wahrnehmung stabiler Menschen, die weder unter Depressionen leiden noch sich umbringen wollen. Einzig reden, sagt Diester, helle alles auf.

Aber weil das Reden über Selbstmordgedanken in Deutschland selbst als gefährlich gilt, geht es hier auch um ein großflächig zugeschnittenes Tabu. Denn wegen des befürchteten Nachahmereffekts ist es verschrien, über spezifische Selbstmordfälle zu schreiben. Dieses Tabu, das Selbstmorde verhindern soll, sei in Wahrheit der schwerwiegendste Grund dafür, dass Selbstmordabsichten unbemerkt bleiben, weil die Gefährdeten sich niemandem anvertrauen. Es treibe sie in die Isolation. Malte Diester hält das für lebensgefährlich. Was aber ist zu tun, wenn das vermeintlich präventive Beschweigen in Wahrheit einsame Entscheidungen fördert? Ist Totschweigen im Wortsinn möglich?

Bei Verdacht - direkt nachfragen

Schon die Dimension des Problems ist den meisten gar nicht bewusst: 10.000 Menschen nehmen sich durchschnittlich in Deutschland im Jahr das Leben, davon 600 junge Leute unter 25 Jahren. Das sind jeweils mehr, als durch Autounfälle und Drogen zusammen sterben. Haben wir die alle totgeschwiegen? Als Gesellschaft?

Diester ist oft der irrationalen Angst begegnet, dass, sobald das Wort Selbstmord fällt, die Leute in Hörweite reihenweise erst auf die Idee dazu kommen. „Das ist ein Vorurteil“, sagt Diester. Das Gegenteil sei wahr. Meist dächten junge Leute über einen Selbstmord lange im Stillen nach. Das ist die Zeit, in der ihnen noch geholfen werden kann. Er rät: Wenn man einen Verdacht hat, direkt nachfragen. „Isolierung ist ja eben ein Merkmal des Problems.“

Suizidgedanken haben Ursachen, und um die geht es häufig

Noch schlimmer als die Angst sei die Unterstellung: Wer darüber redet, meint es sowieso nicht ernst, weil Hunde, die bellen, nie beißen. Ganz falsch auch das. Es sei bei jungen Leuten ein großes Problem und in Wahrheit eine Ursache für Depression, wenn sie nicht ernst genommen würden.

Das Berliner Büro von U25 liegt in einem ruhigen Hinterhof in Mitte. Es wurde 2013 nach einem Vorläuferprojekt aus Freiburg aufgebaut. Dort war nämlich schon 2002 aufgefallen, dass es für alle Altersgruppen Hilfsprojekte für Lebenskrisen gab – mit Ausnahme für Menschen unter 25 Jahren. Dabei ist das die Gruppe mit der höchsten Versuchsrate bei Suiziden. Inzwischen helfen 125 Ehrenamtliche an acht Standorten in ganz Deutschland. Im vorigen Jahr wurden allein in Berlin 145 Jugendliche beraten. Seit Jahren übersteigen die Anfragen ihre Möglichkeiten. An allen Standorten gibt es Wartezeiten für einen Mail-Betreuer.

Damit Malte Diester von einem Betroffenen zum Helfer werden konnte, musste er die viermonatige Ausbildung für Ehrenamtliche durchlaufen: zehn Termine, 32 Stunden. Besprochen wurden die eigene Haltung zum Thema Suizid, die Erfahrung mit eigenen Krisen. Dann Verhaltenstipps für Essstörungen, bei Mobbing, und Kommunikationsstrategien. Als größte Hemmschwelle stellte sich jedes Mal heraus: Wie frage ich direkt nach Suizidabsichten? Das ist in den Schulungen der Knackpunkt. Doch wenn sie einmal merken, wie erleichternd es ihre Klienten finden, da offen drüber reden zu können, ist diese Scheu schnell verschwunden.

"Professionelle" Hilfe suchen sie nicht

Suizidgedanken haben Ursachen, und um die gehe es in den Mails häufiger als um die Sache selbst, sagt Diester. Und so lesen die Ehrenamtlichen von der verschatteten Innensicht einer Jugend in Deutschland: von Gewalt, von Mobbing, lädierten Familien und Essstörungen ist die Rede, von Borderlinern und Liebeskummer. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten des Menschseins, dass schlechte Noten ähnlich existenzielle Krisen auslösen können wie etwa familiäre Gewalt. Es sei nicht an ihm, ein Leid zu bewerten, sagt Diester. Er will helfen.

Die „Peers“ fragen dazu ab, was sie die „Ressourcen“ einer Person nennen: Gibt es etwas, das ihr gut tut? Vielleicht Serien gucken? Häufig lautet die Antwort: Haustiere. Aber genau so häufig tun ihnen auch destruktive Dinge gut: Betrinken, Selbstverletzungen. Viele täten das, um nichts Schlimmeres anzustellen, sich eben nicht umzubringen und einen kritischen Moment zu überstehen.

Diester gibt dann Tipps, um sich zum Beispiel nicht selbst zu verletzen: „Rausgehen. Musik hören. Eiswürfel auf die Hand legen. Laut schreien. Eine Chilischote essen.“

Es falle vielen leichter, Gleichaltrigen zu vertrauen als einer älteren Autorität, dann auch noch anonym im Netz. „Professionelle“ Hilfe würden sie gar nicht suchen, sagt Diester. Trotz aller Erfolge komme „harter Gegenwind von Professionellen“. Meist fürchteten Psychologen, dass ihnen jemand den Rang ablaufe. „Klar, wir sind nicht professionell.“ Aber darum geht es eben: Die Hemmschwelle zu senken, keine Autorität zu sein. Der Kontakt soll freundschaftlich sein.

Frauen versuchen häufiger, sich umzubringen

Auf diese Art ist Erstaunliches möglich: Wenn man einem Hilfesuchenden etwa sage, dass ein Berater erst in drei Wochen Zeit hat, dann schiebe einer seinen Selbstmord glatt für drei Wochen auf. Einigen reiche schon die Erlaubnis, die ganze Nacht Mails schreiben zu dürfen. Wie steht es mit Freunden? fragen die Ehrenamtlichen dann. Keine, heißt es oft zuerst. Irgendwann später sei im Nebensatz vom besten Freund die Rede. Geschulten Menschen wie Diester ist das schon Zeichen für eine verschobene Wahrnehmung. Depressive bemerken die Hilfsangebote aus ihrer Umwelt oft nicht mehr. Wenn einer, der vorher ausführlich schrieb, plötzlich immer weniger schreibe, bedeute das: Alarm! Da müssen sie nachhaken.

Paradoxerweise sei es oft ein Überlebensinstinkt, der die Jugendlichen zu extremen Versuchen treibt, sagt Anna Gleiniger, die das Projekt in Mitte leitet: „Die wollen aus der Situation raus, auch wenn das über ihren Tod geht.“ Oft wollten Jugendliche niemanden mit ihrer Krise belasten. Daraus entspringe ebenfalls paradoxes Handeln: „Ich bringe mich lieber um, bevor ich meinen Eltern erzähle, dass es mir schlecht geht.“

80 Prozent derer, die sich melden, sind Mädchen zwischen 14 und 16 Jahren. „Das entspricht eher den Suizidversuchszahlen als den Suiziden in diesem Alter.“ Insgesamt versuchen Frauen häufiger, sich umzubringen, aber die „Erfolgreichen“ sind auch auf diesem Gebiet mit über 80 Prozent Männer. Im fortschrittlichen Berlin allerdings bestehe Grund zur Hoffnung, sei der Prozentsatz der Männer, die sich Hilfe suchen, höher als anderswo.

Die Gesellschaft muss sich eingestehen, "dass man Suizid verhindern kann"

Alles, was normalerweise über Selbstmorde öffentlich werde, sei negativ, sagt Gleiniger: der bedrohliche Werther-Effekt. Der Zugausfall am Morgen. Das Sterben als Zumutung für andere. Und erst die trauernden Angehörigen! Wie könne einer das verantworten! Bei Waisenkindern und sogar Obdachlosen sehe jeder ein, dass jemand unverschuldet in eine Situation hineingeraten sei. Aber beim Suizid? Der war im christlichen Abendland über Jahrhunderte Todsünde. Die Schuld lag beim Unglücklichen selbst.

Statt sich an den Statistiken über Nachahmer festzuklammern und deshalb das Thema insgesamt zu meiden, müsse sich die Gesellschaft eingestehen, „dass man Suizid verhindern kann“, sagt Gleiniger. Schon Depressionen würden nur teilweise anerkannt. Das Problem beginne da, wo man auf ein „Wie geht es Dir“ eigentlich nur ein „Gut“ erwarte.

U25 ist auf Spenden angewiesen, und das Tabu bringe es leider mit sich, dass nicht viele Sponsoren glauben, die Unterstützung eines Suizid-Verhinderungs-Projekts sei Werbung für sie. „Wenige möchten mit dem Thema in Zusammenhang gebracht werden.“

Alle zwei Wochen zur Supervision

Malte Diesters Ausbildung beinhaltete auch eine Einheit mit dem Titel: Wie beende ich meine Kontakte? Wenn der Mailwechsel lange gut läuft, tippt er vielleicht eines Tages: Du schaffst das auch ohne mich. Oft begleiten sie einander jedoch jahrelang. So lange, bis beide Seiten auf natürliche Weise der Sache entwachsen sind: Die einen, weil ihnen geholfen wurde, die anderen, weil sie nun vielleicht einen Beruf haben, über 25 sind, eine Familien gründen wollen.

Und wenn es trotzdem passiert? Die Berater wissen ja nicht, warum sich jemand plötzlich nicht mehr meldet, sagt Diester. Zwar könne man helfen, Zustände zu verbessern. „Aber am Suizid selber ist kein anderer mehr schuld“, glaubt er. Die Verantwortung trägt die Person, die diese krasse Entscheidung trifft. Zu weit ab ist sie von allem anderen.

Anfangs fürchtete Diester, dass bei ihm selbst wieder etwas hochkäme, wenn er es mit den Todessehnsüchten anderer zu tun bekäme. Damit so etwas nicht geschieht, müssen die Ehrenamtlichen alle zwei Wochen zur Supervision. Das ist seelische Wartung. Sie müssen davor bewahrt werden, dass ihnen die Abgründe der anderen zu nahe gehen.

Der Abstand durch die Technik ist ja auch ein Sicherheitsabstand. Diester liest Mails erst, wenn er sofort Zeit für eine Antwort hat. Niemals trifft er einen Klienten persönlich. „Es fällt dann leichter, wenn die Person sich später vielleicht plötzlich nicht mehr meldet.“

Er weiß: Nur Reden hat ihm geholfen

Jenseits dieses Ehrenamtes arbeitet Diester gerade mit Flüchtlingen. Er wird nach seinem Studium einmal Menschen in Krisen helfen. Es sind jetzt die Krisen der anderen. Einzig in Form gleichmäßiger Schweißperlen auf seiner Stirn drückt sich noch zehn Jahre später seine Innenwelt nach außen, wenn er über seine eigene Krise von damals spricht.

Bestimmt habe bei ihm eine Rolle gespielt, dass er nach dem Umzug von einer norddeutschen Stadt in die andere in seiner Klasse nie richtig habe Fuß fassen können, sagt er. Dass er in der Schule von einer Mitschülerin als homosexuell geoutet und dann gemobbt wurde. Dass er, der mit der Mutter und zwei Brüdern etwas isoliert in einem Haus am Rande eines Waldes wohnte, sich in den Sohn des Nachbarn verliebte und der Nachbar spirituell angehaucht war. Irgendwann pendelte der ihn aus und stellte auch noch fest: Er, Malte Diester, sei böse.

Es hatte sich viel angesammelt, dem Diester irgendwann glaubte, ein Ende setzen zu müssen. Seine Krise zog sich hin, bei einem Versuch blieb es nicht. Bis er – Befreiung und Rettung – seinen ersten Freund kennenlernte. Bis ihm irgendwann egal war, was die Mitschüler sagten.

Malte Diester weiß heute nicht, ob er eine Mail an U25 geschrieben hätte, wenn er damals von deren Existenz gewusst hätte. Vielleicht. Aber er weiß: Nur das Reden darüber hat ihm geholfen. „Da war es weg.“

Dieser Text erschien zuerst auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegel.

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