Berlin-Wahl 1946 als Demokratietest: „Nachkriegsdemokratie wurde nicht in Bonn, sondern in Berlin geboren“
Die erste freien Berlin-Wahlen nach dem Krieg – und für lange Zeit die letzten für ganz Berlin - gab es im Oktober 1946. Erinnerungen mit Edzard Reuter und Erik Reger.
Wer bei heutigen Wahlen ein bisschen genervt ist von lieb gemeinten Aufrufen, bitte wählen zu gehen, sollte sich entspannen und den Tagesspiegel von 1946 lesen: „Jeder Wahlberechtigte geht in Berlin zur Urne – Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands“, hieß es im noch leicht schnarrenden Ton jener Zeit in der ein Jahr zuvor mit amerikanischer Lizenz gegründeten Zeitung.
„In Berlin entscheidet sich Deutschlands demokratische Zukunft. Berlin muss eine nie und nirgends noch erlebte Wahlbeteiligung melden können.“ Bis zum Wahltag am 20. Oktober veröffentlichte der Tagesspiegel täglich ähnliche Aufrufe, unterstützt durch Sinnsprüche von Pestalozzi oder Goethe.
Eine ziemliche Verantwortung lastete da auf den Berlinern. Es war ihre erste freie Wahl nach Krieg und Naziherrschaft. Die Welt schaute auf diese Stadt bei deren Demokratietest.
Würden die Berliner dem gewachsen sein? Viele von ihnen werden diese Verantwortung schon bald nicht mehr wahrnehmen können. Denn es war auch die letzte Gesamtberliner Wahl, bevor die Teilung der Hauptstadt begann.
Was noch niemand ahnte. Vielmehr plante man fröhlich neue Verkehrsverbindungen zwischen Ost und West, darunter eine „Autoschnellstraße“ mitten durch die Stadt, die über die Bismarckstraße in Charlottenburg und die Köpenicker Straße in Kreuzberg Richtung Frankfurt (Oder) führen sollte.
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Demokratie-Erziehung nach Ende der Nazi-Zeit
Nur fünf Jahre zuvor, fast auf den Tag genau, hatten am 18. Oktober 1941 die Deportationen aus Berlin begonnen, die Morde an den Berliner Juden. „Von den 186.000 Juden, die 1939 in Berlin ansässig waren, leben heute noch 7350“, schrieb der Tagesspiegel 1946. Nur zehn Jahre zuvor hatten die Nazis der Welt mit Olympia in Berlin ein freundliches Deutschland vorgespielt. Das Konzentrationslager Sachsenhausen war da schon im Bau, ein paar Kilometer nördlich der Hauptstadt.
Nun sollten also jene Menschen, von denen so viele Hitler und dessen Führerstaat unterstützt hatten, zu Demokraten erzogen werden. Der Tagesspiegel sah sich dabei als Avantgarde. Das Bemühen, Demokratie zu üben, spricht aus den Zeilen des inzwischen immerhin oft achtseitigen Blatts.
Zuweilen mit leicht resignativem Unterton: Zwei Tage vor der Wahl beschrieb die Glosse im Berlin-Teil, Vorläufer des heutigen „Von Tag zu Tag“, einen Berliner Typus jener Jahre, der sich so ziemlich mit allem auskennt von Literatur bis Meteorologie. „Nur wen er wählen soll, das weiß er nicht.“
Edzard Reuter: "Es war eine sehr aufregende Geschichte"
Einer musste zur Demokratie nicht erzogen werden, saß aber noch in der Türkei fest: Ernst Reuter, schon zu Weimarer Zeiten Verkehrsstadtrat in Berlin für die SPD. „Mein Vater wollte am liebsten schon am 8. Mai 1945 in Berlin sein“, erzählt Edzard Reuter, selbst Sozialdemokrat, der als Wirtschaftsmanager in der Bundesrepublik bis zum Vorstandschef bei Daimler-Benz aufstieg.
Ernst Reuter, seine Frau Hanna und Sohn Edzard lebten seit 1935 im türkischen Exil. Nun verzögerte sich die Rückkehr, zunächst aus bürokratischen Gründen. Selbst als alle Papiere der Alliierten da waren, gab es noch einmal einen ungewollten Aufschub, denn durch Währungsschwankungen wurde die Schiffsreise auf einmal zu teuer. Als Familie Reuter schließlich am 4. November die Reise nach Berlin antrat, war die Berlinwahl vorbei.
Ernst Reuter hatte mit Edzard, damals 18 Jahre alt, die Berliner Geschehnisse über Sender wie die BBC oder über international erhältliche Zeitungen wie die „Neue Zürcher“ verfolgt. „Es war eine sehr aufregende Geschichte“, sagt Edzard Reuter. Die Größe des Ereignisses war ihnen auch aus der Ferne bewusst.
Tagesspiegel-Gründer Erik Reger lobt die Sozialdemokraten
Für sein klares Eintreten für eine Westbindung Berlins hatte Reuter in Tagesspiegel-Gründer Erik Reger einen Unterstützer. Sein Vater habe sich oft mit Reger getroffen, erzählt Edzard Reuter. Was nicht heißt, dass sich der Tagesspiegel-Gründer vereinnahmen ließ. „Erik Reger war ein freier, unabhängiger Journalist“, sagt Edzard Reuter. Konrad Adenauer war ein weiterer geistesverwandter Gesprächspartner Regers. „Aber Adenauer spielte noch keine große Rolle.“
Erik Reger lobte die Berliner SPD für ihren Kampf gegen die Vereinigung mit der KPD, die im April 1946 für die sowjetische Besatzungszone vollzogen wurde. In einer nur in Berlins Westsektoren zugelassenen Urabstimmung hatten sich die teilnehmenden Sozialdemokraten mit 82 Prozent dagegen entschieden „Wenn der Zeitraum seitdem erst einmal offen überblickt werden kann, wird sich zeigen, wie sehr alle politischen Verhältnisse durch diesen Akt der Selbstbehauptung der Berliner Sozialdemokraten verändert worden sind, welcher Strom von Mut und Energie, von Freiheitsgeist und Fortschrittssinn davon auch in die bürgerlichen Parteien geflossen ist“, schrieb Reger.
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Im Rückblick imponiert Edzard Reuter „das Zusammenstehen der demokratischen Parteien“. Es habe damals bereits Angst vor einer Vereinnahmung durch die Sowjets gegeben, die durch die Berlin-Blockade bald bestätigt wurde.
Edzard Reuter: "Es war ein Votum für Freiheit und Demokratie"
Die SPD brachte es auf 48,7 Prozent und 63 von 130 Mandaten. Ihr Spitzenkandidat Otto Ostrowski wurde Oberbürgermeister, aber nach einem Misstrauensvotum im April 1947 von Ernst Reuter abgelöst. Ostrowski hatte an der Partei vorbei mit der SED kooperiert. Die SED wurde mit 19,8 Prozent nur drittstärkste Kraft. Die CDU kam auf 22,2, den Liberaldemokraten blieben 9,3 Prozent. „Gemeldet“ wurde eine Wahlbeteiligung von 92,3 Prozent.
„Es war ein Triumph der freiheitlichen Abstimmung in Deutschland, ein Votum für Freiheit und Demokratie“, sagt Edzard Reuter. „Die deutsche Nachkriegsdemokratie wurde nicht in Bonn, sondern in Berlin geboren.“
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