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Holocaust-Gedenktag: Nach Auschwitz kommt der Yolocaust

Fast alle Zeitzeugen sind tot, die letzten NS-Prozesse vorbei, aber "Mein Kampf" ist wieder Bestseller und das Holocaust-Mahnmal Kulisse für Tinder-Profilbilder. Was läuft da schief?

Manchmal fragt er sich, was wohl aus ihm hätte werden können, wäre er früher geboren. Sagen wir in den 30er Jahren. Ein Lampenschirm vielleicht. Oder ein Paar arische Turnschuhe?

Shahak Shapira ist Jude. Noch dazu einer, der von sich behauptet, der deutscheste der Welt zu sein. Er steht am Rande des Holocaust-Mahnmals in Berlin und sieht aus stahlblauen Augen über das Stelenfeld. Das heißt: Eigentlich steht er schon mittendrin. Einige der Stelen sind in den Gehweg eingelassen und kaum zu sehen. Es gehört zu den Tücken der Gedenkstätte, dass sich nicht recht sagen lässt, wo sie beginnt und wo sie endet. So wie eigentlich auch niemand weiß, was sich hier gehört und was nicht. 72 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz scheint in Deutschland ja nicht einmal Konsens darüber zu bestehen, wie mit dieser Schuld umzugehen ist. Wie gedenkt man des Mordes an sechs Millionen Menschen? Oder besser: Wie gedenkt man richtig?

Shahak Shapira, 28, ein Israeli, der seit sieben Jahren in Berlin lebt, Comedian und Buchautor, glaubt zumindest zu wissen, wie man es nicht macht. Den Schal tief ins Gesicht gezogen läuft er zwischen den schwarzen Stelen entlang, die weiß überpudert sind, jemand hat ein Herzchen in den Schnee gezeichnet. Die Gänge sind eng, beklemmend, aus der Ferne ist Kichern zu hören. Ein Mädchen in dicker roter Strumpfhose und dunklem Rock springt wie eine Ballerina von Betonklotz zu Betonklotz. Die Eltern laufen vorneweg. Der Vater hat sein Smartphone an einen Selfiestick geklemmt. Das gibt ein schönes Erinnerungsfoto mit der ganzen Familie vor dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas.

Yogaübungen im KZ

In letzter Zeit denkt Shahak Shapira häufiger darüber nach, was mit Juden wie ihm vor einigen Jahrzehnten in Berlin angestellt worden wäre, denn seine Mitmenschen tun das immer weniger. „Ich dachte, krass, das ist so dreist, was sich Leute da erlauben“, sagt. Shapira. Gut 1000 Szenen wie die der kleinen Ballerina und ihrer Familie hat Shapira auf seinem Rechner gesammelt. Tanzend, singend, lachend im Mahnmal. Gefunden auf öffentlich zugänglichen sozialen Netzwerken wie Facebook oder Instagram. Manche, erzählt er, nutzen Selfies mit den Stelen als Kulisse auch bei der Partnersuche auf Tinder. Ein Jahr lang überlegte er, was damit anzustellen sei. Nun, in der vergangenen Woche, veröffentlichte er auf der Website „yolocaust.de“ einige davon, montierte aber die Fotos der fröhlichen Mahnmalbesucher in historische Bilder aus Konzentrationslagern. So hüpfen nun junge Menschen durch Leichenberge, ein Mann jongliert im Massengrab und eine Frau macht Yogaübungen im KZ.

Yolocaust ist ein Begriff, der sich aus dem Jugendwort des Jahres 2012, Yolo – eine Abkürzung für „You only live once“–, und Holocaust zusammensetzt. Maximal unpassend, eine geplante Provokation kurz vor dem Tag des Gedenkens der Opfer des Nationalsozialismus an diesem Freitag. Mehr als zwei Millionen Menschen haben die Website bisher aufgerufen, sogar die „Washington Post“ interessiert sich für das Projekt, und ein Mitarbeiter der israelischen Schoah-Gedenkstätte Yad Vashem hat Shapira kontaktiert.

Galgenhumor. Ein Großvater war im Warschauer Ghetto, der andere starb beim Olympia-Attentat. Shahak Shapira ist Jude, Comedian und Erfinder des Yolocaust.
Galgenhumor. Ein Großvater war im Warschauer Ghetto, der andere starb beim Olympia-Attentat. Shahak Shapira ist Jude, Comedian und Erfinder des Yolocaust.
© Thilo Rückeis

Darf man das? Die NS-Opfer so instrumentalisieren, zur Schau stellen?

Ja, sagt Shapira, die Bilder seien drastisch. Aber: „Der Holocaust ist eine drastische Sache.“ Und den Opfern sei es egal. „Sie sind tot. Aber es wäre ihnen vielleicht nicht egal, wenn die Erinnerung an sie verloren ginge.“

Tatsächlich macht die Erinnerungskultur gerade einen Wandel durch. Im vergangenen Jahr endete der vermutlich letzte NS-Prozess. Die Verbliebenen, die den Holocaust miterlebt, überlebt haben, sterben. Hitlers „Mein Kampf“ ist in Deutschland wieder ein Bestseller und ein Verbotsverfahren gegen die antisemitische NPD ist im zweiten Versuch gescheitert.

81 Prozent wollen Geschichte der Judenverfolgung gern "hinter sich lassen"

Vor zwei Jahren hat zudem eine Studie der Bertelsmann-Stiftung herausgefunden, 81 Prozent der Deutschen würden die Geschichte der Judenverfolgung gern „hinter sich lassen“. Es ist eine Haltung, der nun ausgerechnet ein Geschichtslehrer wieder politischen Auftrieb gegeben hat. Björn Höcke, Landeschef der Thüringer AfD, forderte in einer Rede in Dresden eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“, sprach von einer „dämlichen Bewältigungspolitik“ und rief unter Applaus dem Publikum im Saal zu, die Deutschen seien „das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat“. Die AfD – das ist jene Partei, die laut Umfragen mit 15 Prozent in den Bundestag einziehen könnte.

Björn Höcke fordert eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad".
Björn Höcke fordert eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad".
© imago/Steve Bauerschmidt

Im Denkmal der Schande steht Shahak Shapira und hat diesen verkniffen angriffslustigen Gesichtsausdruck, den er immer hat, wenn er über Bernd Höcke – so nennt er Björn Höcke konsequent – spricht: „Natürlich mag Bernd Höcke das Mahnmal nicht. Es warnt genau vor Leuten wie ihm.“

Shahak Shapira hat mit dem Judentum als Religion nicht viel zu tun, nascht gerne Bacon und vergisst die meisten Feiertage. Seine Familiengeschichte hat ihn trotzdem zu so etwas wie einem Experten für Antisemitismus gemacht. Da ist zum einen sein Großvater mütterlicherseits, Josef Lev, der als Achtjähriger mit seiner Familie ins Warschauer Ghetto getrieben wurde. Weil er klein war für sein Alter, konnte er unter dem Zaun durchschlüpfen und Brot oder Essensreste ins Ghetto schmuggeln. Seine Mutter verhungerte trotzdem. Der kleine Josef schloss sich Kinderbanden an, stahl, um wenigstens seine Großmutter und die kleine Schwester durchzubringen, zu essen gab es oft nur verfaulte Rote Bete. Als er eines Abends zurückkam, waren sie verschwunden. Deportiert nach Treblinka.

Shapiras Großvater überlebte das Ghetto, kämpfte im israelischen Unabhängigkeitskrieg und starb vor Jahren an einem Herzinfarkt. Der Familie hat er nie von seinem Martyrium berichtet. Sie erfuhr zum ersten Mal davon, als Shapiras Mutter 2014 das Video-Testament ihres Vaters in Yad Vashem fand.

Der Großvater wurde von palästinensischen Terroristen ermordet

Da gibt es aber auch noch seinen Opa väterlicherseits, Amitzur Shapira, der einer der besten Kurzstreckenläufer Israels war. 1972 reiste er als Cheftrainer der nationalen Leichtathletikmannschaft zu den Olympischen Spielen nach München. Kurze Zeit später wurde er mit zehn weiteren israelischen Sportlern von palästinensischen Terroristen des „Schwarzen September“ als Geisel genommen. Sie forderten die Freilassung von 232 palästinensischen Gefangenen. Israel lehnte ab. Bis heute ist unklar, wie genau Amitzur Shapira gestorben ist, die Polizei kann aber nicht ausschließen, dass er bei der missglückten Befreiungsaktion unabsichtlich von deutschen Einsatzkräften erschossen wurde.

Und der Enkel, Shahak Shapira also, wurde in der letzten Nacht des Jahres 2014 von fünf Arabern am U-Bahnhof Friedrichstraße zusammengeschlagen und bespuckt. Zuvor hatten sie in der Bahn „Fuck Israel! Fuck Juden!“ gegrölt. Shapira hat ihnen zugerufen, dass er selbst Jude sei und ob sie ein Problem damit hätten, hielt alles mit seiner Handykamera fest. Als er das Video nicht löschen wollte, gingen sie auf ihn los. Die Nachricht vom Juden, der in der deutschen Hauptstadt angegriffen wurde, verbreitete sich schnell in Israel – und auch hier war Shapira eine Zeit lang fast jeden Tag im Fernsehen zu sehen.

Nun steht er also in diesem Mahnmal, das auf ihn wirkt wie ein Friedhof mit den Stelen als Grabsteinen, und sagt, er habe einen lockeren Umgang mit solchen Themen. „Galgenhumor. Ich mag dieses Wort“, sagt er. „Das ist das Ding mit uns Juden. Wir haben immer nur verloren. Du kannst nicht heulen, also lachst du.“

Vielleicht gehört zur Wahrheit, dass es diesen schwarzen Humor braucht, wenn man als Jude ausgerechnet in Laucha in Sachsen-Anhalt aufwächst.

Der Dorfnazi trainierte auch die Fußballmannschaft

2002 war er mit seiner Mutter und dem kleinen Bruder nach Deutschland gekommen, als bei Kämpfen und Anschlägen während der zweiten Intifada in Israel Tausende starben. Laucha, das sind knapp 3000 Einwohner, eine Kirche, eine Dönerbude und das Haus mit der Nummer 14 in der Oberen Hauptstraße, wo an Hitlers Geburtstag immer eine schwarz-weiß-rote Flagge aus dem Fenster hängt. So erinnert sich Shapira in seinem autobiografischen Buch „Das wird man ja wohl noch schreiben dürfen“. Die Wohnung und die Flagge gehören Lutz B., einem stadtbekannten Neonazi mit Vokuhila und Hitlerbärtchen. Der Mann ist damals gleichzeitig Jugendtrainer der örtlichen Fußballmannschaft, und das ist eigentlich auch schon alles, was man über Laucha wissen muss, um zu verstehen, das noch immer etwas falsch läuft in Deutschland.

Zwei S-Bahn-Stationen vom Mahnmal entfernt hat – geschützt von mehreren Polizisten und einer Sicherheitsschleuse mit schweren Riegeln – der Zentralrat der Juden seinen Sitz. Dessen Chef, Josef Schuster, ein Internist mit leicht fränkischem Akzent, ist qua Amt eine Art Seismograf für Antisemitismus – und er ist relativ entspannt. Aber dass einmal in Vergessenheit geraten könnte, was sich nie wiederholen darf, das fürchtet er schon auch.

Josef Schuster ist Präsident des Zentralrats der Juden
Josef Schuster ist Präsident des Zentralrats der Juden
© Doris Spiekermann-Klaas

Im Altbau nahe der Neuen Synagoge wählt er seine Worte sorgfältig. Manchmal, sagt er, frage er sich: „Was läuft in unserem Schulwesen schief?“ Wenn schon die Geschichtslehrer die Vergangenheit verklären, wie Björn Höcke, sei das einfach erschreckend. Und wie soll das dann erst bei den Schülern sein?

Zumal wenn es fast keine Augenzeugen mehr gibt. „Die Erinnerungskultur muss sich nicht radikal ändern“, sagt Schuster zwar, lobt aber Projekte wie jenes in Dachau, wo Aussagen von Überlebenden gefilmt werden. „Lebendige Bilder sind immer besser als alles, was gedruckt ist.“ Und es sei wichtig, dass die Schoah in den Schulen weiter bearbeitet werde, aber „insbesondere auch bei der Ausbildung von Lehrern, Polizisten und Juristen“.

Die Foto-Aktion von Shahak Shapira hat Schuster mitbekommen, begeistert ist er nicht gerade: „Eine Schulklasse, die hier in Berlin das Holocaust-Mahnmal besucht und dann auch Selfies macht, ist mir lieber, als wenn sie sich gar nicht damit auseinandersetzt.“ Yolo halt.

So kann man das sehen. Shahak Shapira sieht das anders. Viele andere Angehörige von Überlebenden übrigens auch, sagt er. Nach dem Rundgang durchs Mahnmal wärmt Shapira sich in einem Café gleich gegenüber auf, wo bis zum vergangenen Jahr noch Imbissbuden und Restaurants zum Besäufnis mit Tequila-Shots einluden und den Besuchern des Mahnmals ihre Schweineschnitzel anpriesen. Nun zwingt die Winterkälte dem Ort etwas Zurückhaltung auf. „Seit es das Mahnmal gibt, wird über das richtige Gedenken dort gestritten“, sagt Shapira. „Es spiegelt aber, wie junge Menschen heute mit dem Holocaust umgehen.“

Notfalls also zum Beispiel betrunken und mit Selfiestick in der Hand.

Peter Eisenman, Architekt des Denkmals, hatte sich größtmögliche Freiheit für sein Bauwerk gewünscht, dass dort Familien picknicken oder Action-Filme gedreht werden. Ein paar Regeln gibt es im Mahnmal jetzt trotzdem. Inlineskaten zum Beispiel ist verboten. Grillen auch.

Und sonst geht alles?

„Ich möchte das niemandem vorschreiben, aber ich finde es gut, sich das zuerst zu fragen“, sagt Shapira.

"Mir wird ganz schlecht, wenn ich nur hinsehe"

Bei einigen hat das Nachdenken über das Gedenken schon eingesetzt. Mittlerweile haben alle, die sich auf den Fotos der Yolocaust-Website wiedererkannten, Shapira gebeten, ihre Bilder aus dem Netz zu nehmen, was er umgehend tat. Seit Donnerstag sind auf der Website deshalb nur noch die Reaktionen auf das Projekt nachzulesen. Darunter ist auch die Mail des Mannes, der den Anstoß für die ganze Aktion gegeben hatte. Das Foto zeigte ihn zwischen den Stelen hin und her springend. Überschrift: „Wir hüpfen auf toten Juden rum.“ An Shapira schreibt er: „Nun sehe ich meine eigenen Worte in den Nachrichten.“ Da werde ihm ganz schlecht, das Bild sei nur ein Witz gewesen. „Es tut mir leid. Wirklich.“

Noch ein Foto geht Shapira aus einem anderen Grund nicht mehr aus dem Kopf. Es zeigt eine junge Frau im Mahnmal mit Schwimmflossen und Taucherbrille. Ein Mann, rosafarbenes Tutu, nackter Oberkörper, hält sie hoch. Überschrift diesmal: „Gerade an die dunkelsten Orte müssen wir ein Lachen bringen.“

Vielleicht ist das der Weg?

Etwas abseits vom Mahnmal, auf der anderen Seite der Hannah-Ahrendt-Straße, liegt unbeachtet von den Touristen ein kleiner Parkplatz. Die Anwohner führen da ihre Hunde spazieren. Ein brauner Haufen zeugt davon. Während am Mahnmal das Leben tobt, ist hier nichts als Tristesse. Und ein Schild, auf dem steht, dass dort einst der Führerbunker lag.

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