Die Station meines Lebens: Mit Kopernikus ins Berghain
In Corona-Berlin fühlen Samstage sich wie Dienstage an. Club-Bekanntschaften hat man seit Monaten nicht gesehen. Unser Autor hat Partyphantomschmerz!
Plötzlich musste ich auf dem Weg in den Club nicht mehr am S-Bahnhof Warschauer Straße vorbei. Hier konkurrieren vor allem an den Wochenenden Einheimische und Auswärtige um den Preis fürs schlechteste Benehmen. Unterschiedlichste Körperflüssigkeiten finden ihren Weg in den Rinnstein, Betrunkene pflügen durch Passantengruppen, alkoholisierte Brunftschreie hallen über die Brücke.
Dass ich das alles plötzlich vermeiden konnte, war für mich ein unerwartetes Upgrade an Lebensqualität. Der Grund dafür liegt zwischen Touri-Zentrum und dem Boxhagener Kiez: die Tramhaltestelle Kopernikusstraße/Warschauer Straße.
Ein Fließband voller nachtschwarz gekleideter Gestalten
Für Kids und Touristen beginnt die Clubnacht Samstagnachts, Profis starten am Morgen drauf. Eines Sonntagvormittags also, als ich von der Frankfurter Allee mit der M13 gen Berghain aufbrach, griffen in meinem Kopf ein paar für die örtliche Geografie zuständige Zahnrädchen ineinander. Spontan stieg ich eine Station vor dem S-Bahnhof aus. Von dort zog es die meisten Raver in Richtung Club, man kam sich immer vor wie auf einem Fließband voller nachtschwarz gekleideter Gestalten. Nach Underground fühlte sich das nicht an.
Die neue Route bedeutete eine immense Einsparung von Zeit und Nerven. Denn der Weg ist kürzer – und einsamer. So hatte ich ein paar Minuten, um mich mental auf den Ausnahmezustand vorzubereiten. Der Weg führt am stillen Comeniusplatz vorbei, dann an einer Feuerwache. Eine Dosis Dorf kurz vor der Eskalation.
Nostalgische Spaziergänge zur alten Wirkungsstätte
Im pandemischen Berlin ist von dieser Magie gerade nichts zu spüren. Die Straßen sind leer, Samstage fühlen sich wie Dienstage an. Nachts gibt es keinen Alkohol mehr zu kaufen und seine Club-Bekanntschaften hat man seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Auch die kleine Haltestelle ist nur noch eine Haltestelle. Nicht mehr das Portal in eine andere Realität.
Wie andere Techno-Fans lasse auch ich mich manchmal zu nostalgischen Spaziergängen zur alten Wirkungsstätte hinreißen. Dann erinnere ich mich an durchtanzte Nächte, intime Momente mit Menschen, deren Namen man nicht so ganz verstanden hat, aber auch nicht nachfragt. Lichter, Schatten, Kopfkarussell.
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Auf dem ehemaligen Brachland auf der Rückseite des Berghains wurde mittlerweile eine kleiner Park angelegt. Theoretisch würde der meinen idyllischen Weg perfekt abrunden. Allein, er ist zu perfekt. Zu künstlich. Zu sehr mit Lineal und Zirkel konzipiert. Zu sehr Dorf.
Wir sehen uns, kleine Haltestelle!
Manchmal, wenn der Partyphantomschmerz besonders drückt, sehne ich mich fast wieder nach dem Chaos an der Warschauer Straße. Kleine Großstadtfluchten sind wichtig, aber sowohl außerhalb als auch innerhalb des Berghains gilt: Vorsicht vor einer Überdosis!
Wenn ich heute an meiner Station vorbeifahre, lächeln wir uns kurz an. Wissend, schwelgend. Es ist eine Fernbeziehung, deren Distanz sich nicht auf Raum, sondern auf Zeit bezieht.
Der Sternenstürmer Nikolaus Kopernikus hatte die verrückte Idee, dass sich die Sonne nicht um die Erde, sondern die Erde sich um die Sonne dreht. Ich habe die verrückte Idee, bald wieder in üblicher Mission an der Kopernikusstraße aussteigen zu können. Wir sehen uns, kleine Haltestelle.