Am 26. Mai 1989: Mit dem Motordrachen über die Mauer
Vor 30 Jahren gelang drei Brüdern eine spektakuläre Flucht aus der DDR. Als sie in West-Berlin ankamen, gingen sie als erstes in eine Kneipe.
In den Morgenstunden des 14. Mai 1989 entdeckten Polizeibeamte in der Neuköllner Hasenheide etwas, das es hier seit Langem eigentlich nicht mehr geben durfte. Vier aus Köln stammende Männer waren angetroffen worden, als sie gerade zwei Motordrachen montierten. Leichtflugzeuge für die Sportfliegerei also, aber die war in West-Berlin unter alliierter Hoheit unzulässig.
Immerhin konnten die Männer eine alliierte Transportlizenz vorweisen, gaben an, die Fluggeräte im Lkw aus Köln geholt zu haben und sie nun auf Schäden kontrollieren zu wollen. Die Beamten gaben sich mit der Erklärung zufrieden, notierten aber für alle Fälle Motor- und Rahmennummern.
Knapp zwei Wochen später tauchten die mysteriösen Flugdrachen erneut auf, standen am Morgen des 26. Mai verlassen auf der Rasenfläche am Reichstag, von den Fliegern keine Spur – bis auf drei Helme, zwei mit integrierten Kopfhörern. Die Aufregung war groß in West-Berlin, „Rätselraten um mögliche Flucht“, titelte etwa der Tagesspiegel tags darauf. Erst wenige Monate zuvor war eine Flucht per Ballon dramatisch gescheitert, ein Mann, das letzte Maueropfer, über Zehlendorf in den Tod gestürzt.
Die Spekulationen hatten bald ein Ende. Am Tag nach der Flucht meldeten sich drei Brüder auf der Polizeiwache am Bahnhof Zoo und erzählten dort ihre Geschichte. Und auch die Zeitschrift „Quick“ meldete, dass die Flucht keineswegs erfunden sei, ihr vielmehr Filmdokumente vorlägen, die den Flug in die Freiheit zweifelsfrei belegten.
Man kann sich die alte Videoaufnahme im Mauermuseum am Checkpoint Charlie ansehen, als Dauerschleife auf einem Monitor. Und auch einer der beiden Motordrachen ist dort ausgestellt, das Exemplar, das in Ost-Berlin landete. Es ist nicht viel mehr als ein Rohrgestell mit Motor und Rädern, darüber hängt eine der Tragflächen, in Tarnfarben angemalt und mit rotem Sowjetstern – auf ein vermeintlich von Russen gesteuertes Fluggerät, so hatten die Brüder gehofft, würden die Grenzposten nicht zu schießen wagen. Aber dann hat man sie bei ihrer tollkühnen Aktion nicht mal entdeckt.
Ingo Bethke kannte als ehemaliger Grenzsoldat das Terrain gut
Die beiden Kölner Piloten waren selbst ehemalige Flüchtlinge. Ingo Bethke, damals 21, hatte sich 1975 in Mecklenburg den Weg durch den Grenzzaun gebahnt und war auf einer Luftmatratze über die Elbe gepaddelt. Als ehemaliger Grenzsoldat kannte er das Terrain gut. 1983 folgte mit seiner Hilfe Holger, der jüngste der drei Brüder.
Vom Dach eines Treptower Hauses hatte er mit einem Pfeil eine Angelschnur aufs Dach des gegenüberliegenden Gebäudes in Neukölln geschossen. Dort wartete sein Bruder, gemeinsam spannten sie ein Stahlseil, mit Rollen sausten Holger und ein Freund über den Grenzstreifen in die Freiheit.
Die Flucht vom 26. Mai 1989, also vor 30 Jahren, war monatelang vorbereitet worden, so schilderten es Ingo und der damals aus Ost-Berlin geholte Egbert zum 25. Jahrestag dem Magazin „Der Spiegel“. Als Fluchtgerät hatten sie zwei offene Zweisitzer vom Typ Fox C-22 des in Baden-Württemberg ansässigen Herstellers Comco Ikarus erworben, nur 150 Kilo schwer, 110 Stundenkilometer schnell. Finanziert wurde dies mit dem Verkauf ihrer Kölner Kneipe.
Der Flug dauerte nur wenige Minuten
Einer nahm Flugstunden, schulte dann den anderen. Zwei Maschinen schienen ihnen notwendig, damit einer die Rettungsaktion überwachen und im Fall der Fälle bei Problemen helfen konnte. Ihre erfolgreiche Geschichte hatten die Brüder zunächst vergeblich dem Mauermuseum angeboten, waren dann aber schnell mit der Zeitschrift „Quick“ handelseinig geworden, die die Story gegen ein angemessenes Honorar groß auf mehreren Seiten präsentierte – auch der alte Bericht ist im Mauermuseum ausgestellt. Gestartet waren die beiden Brüder kurz vor Sonnenaufgang von einem Sportplatz in Neukölln, als Aufnahmepunkt war der Treptower Park ausgemacht worden.
Der Flug dorthin dauerte nur wenige Minuten. Holger kreiste, Ingo landete, und Egbert, der sich in einem Gebüsch versteckt hatte, rannte zur Maschine, schwang sich in den zweiten Sitz und schon stieg der Drachen wieder in die Lüfte – eine Sache von kaum einer Minute. Niemand am Boden war aufmerksam geworden, kein Alarm, keine Schüsse – nur ein riesengroßer Sowjetsoldat versperrte plötzlich den Flugweg, die Figur des Sowjetischen Ehrenmals im Treptower Park.
„Da dachte ich: Jetzt ist es aus, denn Egbert hielt sich plötzlich am Steuerknüppel fest,“ erzählte Ingo Bethke der „Quick“. „Es ging gerade noch einmal gut, und ich hätte am liebsten über dem Klotz da unten eine Ehrenrunde gedreht – nur um die Russen zu ärgern.“ Aber er und sein Bruder sahen dann doch lieber zu, dass sie den Ost-Berliner Luftraum schnell verließen.
Die drei Brüder tranken Biere bei Aschinger am Bahnhof Zoo
„Wow, wow, wir sind alle im Westen“, jubelte Egbert, als sie den Grenzstreifen überflogen hatten. Dann fiel die Spannung von ihnen ab, und die weiteren Minuten – jedenfalls hat man beim Anschauen ihres Videos den Eindruck – glichen eher einem der Schaulust dienenden Rundflug als dem Abschluss einer spektakulären Flucht.
Nach der Landung machten sich die drei Brüder schnell davon, auf einige Biere zu Aschinger am Bahnhof Zoo. Schließlich wollten sie ihr Wiedersehen nicht auf einer Polizeiwache feiern. Ihre Motordrachen bekamen sie später zurück, auch eine Anklage – luftfahrtrechtlich war die Aktion nicht gerade in Ordnung – wurde nicht erhoben.
Und die DDR-Seite? Schimpfte durch die staatliche Nachrichtenagentur ADN über den „groben Unfug“ und kündigte, da ja hier auch ein „Missbrauch der Transitwege“ vorliege, verstärkte „Verdachtskontrollen“ an. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr.