Medien: Fliegen, fliehen, filmen
ZDF-Produktion stellt spektakuläre Fluchten und Fluchtversuche aus der DDR nach
Seltsam still ist es im ehemaligen Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen. Aus der Ecktür im Hof ein Spalt Licht. Der Gruß einer müde wirkenden Frau, kommen Sie rein, es ist kalt. Die Autorin Ulrike Grunewald dreht hier fürs ZDF eine Dokumentation über spektakuläre Fluchten und Fluchtversuche aus der DDR. Das Gefängnis hat viele Menschenschicksale gesehen. Auch das von Hartmut Richter, Fluchthelfer aus dem Westen. Fünf Jahre saß er hier hinter Gittern. „Ein Jahr Isolationshaft, nur Zuckerbrot und Peitsche, mit ständigen Verhören, als einzige Kontaktperson einen von der Stasi“, gibt die Filmemacherin Hartmut Richters Erzählungen wieder. „Sein Beispiel steht für die Flüchtlinge, die damals in Kofferräumen und umgebauten Autos über die Transitwege in den Westen flüchteten“, sagt sie.
Nachdem ihm die Flucht nach West-Berlin gelungen war, schleuste Richter 33 DDR-Bürger im Kofferraum seines Pkw über die Grenze. Doch bei dem Versuch, seine Schwester in den Westen zu holen, wurde er im März 1975 erwischt und nach Hohenschönhausen gebracht. Ein kleines Zimmer, ein Schreibtisch, alles glänzt wie unbenutzt. Im Raum nebenan laufen die Dreharbeiten zum Fall Richter. „Wir stellen Szenen seiner Verhaftung nach und legen sie unter die Aussagen des Zeitzeugen“, sagt die Autorin, „außerdem haben wir spannendes Archivmaterial.“
Zum Beispiel für die geglückten Fluchten der drei Bethke-Brüder Ingo, Holger und Egbert. Holger hat im Mai 1989 gefilmt, wie er mit seinem jüngeren Bruder in zwei Ultraleicht-Flugzeugen, angemalt wie russische Militärmaschinen, von West- nach Ost-Berlin geflogen ist. Zwei Jahre zuvor hatten sie von den Fliegern gelesen, sich Flugstunden organisiert und über ihre Großmutter in Ost- Berlin Kontakt aufgenommen. Über dem Treptower Park fragen sie in ihre Funkgeräte: „Ödeldödel, bist du da?“. Ihr Bruder Egbert, der unten im Gebüsch hockt, antwortet. Kurz landet Ingo und nimmt ihn auf, wenig später landen sie vor dem Reichstag im Westen. Über die Bethke-Brüder wurde damals viel berichtet, denn auch die anderen zwei hatten spannende Fluchtgeschichten hinter sich: Ingo war Grenzsoldat und verschwand 1975 mit einer Luftmatratze über die Elbe, 1984 schoss Holger mit Pfeil und Bogen von einem Hausdach aus auf die andere Seite der Mauer und hangelte sich rüber. „Hätten wir gewusst, dass die Mauer aufgeht, wir hätten es trotzdem gewagt“, sagt Egbert Bethke heute.
„Die meisten Fluchtwilligen waren junge Männer, alle um die zwanzig Jahre alt. Man nannte sie die Kinder der DDR. Die wollten einfach nur raus, raus aus dieser grauen Republik und rüber in den Westen. Die waren trotzig, wollten reisen, Abenteuer erleben“, sagt die Autorin. Auch Torsten S., Dirk G., Udo Bernhardt und Reiner Pasch wollten das. Ihre Flucht sollte über die Ostsee gelingen. Für die Nachstellung wandelt das ZDF-Team den Wannsee zur Ostsee um. Komparsen schleichen sich mit zwei Faltbooten ans Ufer. Sie paddeln los, da schlagen die Wellen hoch. Beinhardt und Pasch paddeln ans Ufer zurück. Dort laufen sie DDR-Kampfschwimmern in die Arme. Wenig später müssen sie eine Leiche identifizieren: Es ist ihr Freund Dirk. Udo Bernhardt und Reiner Pasch leben heute in Berlin. Sie sagen: „Wir waren damals viel zu naiv.“ Bis heute hoffen sie, das Schicksal des verlorenen Freundes zu klären. Die Leiche von Torsten S. wurde nie gefunden. Die Ost-Berliner Behörden waren sich sicher, dass er ertrunken war. Seine Leiche wurde wahrscheinlich wie die anderer DDR-Flüchtlinge an die dänische Küste geschwemmt, in Kopenhagen erkennungsdienstlich behandelt, fotografiert und anonym bestattet. Die deutschen Behörden jedoch verweigern einen Abgleich mit den dänischen Befunden. Gibt es etwas zu verheimlichen? Die Autorin will es recherchieren.
„Ich weiß nicht, welche Zuschauer wir am 17. Juni haben werden“, sagt Ulrike Grunewald. „Und auch, wenn das jetzt etwas pathetisch klingt, ich denke dabei an meinen Sohn. Der ist acht und ich hoffe, dass er sich irgendwann für die Vergangenheit dieses Landes interessieren wird.“ Ihr Film solle ein bisschen wie eine von Opas Geschichten sein. Wenn der Opa Geschichten erzählt, schließt man als Kind die Augen und stellt sich alles vor. Wenn das Fernsehen Geschichten erzählt, zeigt es dazu Bilder, dramatische Bilder. Ein 35-Millimeter-Objektiv sorgt dafür, dass die nachgestellten Szenen Tiefenschärfe bekommen. So authentisch wie möglich bedeutetet auch, dass die Komparsen nur im Anschnitt oder aus der Ferne zu sehen sind. Und dass auf kleine Details geachtet wird, so zum Beispiel, ob West-Berlin auf einem Ost-Berliner Formular zusammen oder getrennt geschrieben wurde.
Braucht der Zuschauer diese Details, das teure Objektiv, um zu verstehen, was damals passierte? Die Autorin sagt achselzuckend, die Zuschauer seien heute halt mehr als nur „talking heads“ gewöhnt.
Marisa Middleton
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