Der DDR entkommen: Flucht über den geteilten Himmel
Winfried Freudenberg wollte einer DDR entschweben, die ihm keine Luft zum Leben ließ. Doch er hatte nicht mit der Panik seiner Frau gerechnet. Sein Ballon stürzte vor 25 Jahren über Zehlendorf ab. Der 32-jährige war das letzte Opfer der Mauerstadt.
Beim Aufsteigen gibt es einen Lichtbogen und sprühende Funken. Die Volkspolizisten, die mit gezogener Waffe heranstürmen, trauen sich nicht, auf den schwebenden Ballon zu schießen. Es könnte ja alles explodieren. Eine Situation wie eingefroren, nichts ist mehr rückgängig zu machen: Hier die irritierten Polizisten, in ein paar Metern Höhe ein Mann mit Vollbart, und am Boden steht eine junge Frau. Das Paar kann sich in die Augen sehen, so nahe sind sie sich. „Er machte einen hilflosen Eindruck“, sagt Sabine Freudenberg später über diesen Moment, bevor wieder die Bewegung einsetzt und der Ballon in die Höhe schießt. Ein letzter Blick. Fünf Stunden später ist Winfried Freudenberg tot.
Erst ein halbes Jahr sind die beiden verheiratet, sie träumen von einem gemeinsamen Leben – aber einem, über das sie selbst bestimmen können. Einem Leben, in dem ihnen nicht „Reisen, Tagungen, Forschungsmöglichkeiten in westlichen Ländern verboten“ sind, wie die 23-jährige Chemikerin später aussagt. In der DDR sehen sie diese Chance nicht – und die Verzweiflung darüber hatte sie hierhergeführt, auf dieses verwilderte Gelände in Pankow, im Norden von Ost-Berlin. Hier wird am 8. März 1989 ihr gemeinsames Leben enden, ehe es richtig begonnen hat.
Kontakt mit einer Starkstromleitung
Auf der Landkarte, die sich bei der Staatssicherheit in Freudenbergs Akte findet und die die „mögliche Flugbewegung des Ballons am 8.3. 89“ markiert, ist die Grenze zwischen den beiden Stadthälften nur als feine Linie eingezeichnet. Auch in Freudenbergs Straßenkarte von „Berlin – Hauptstadt der DDR“ endete die Welt an dieser Markierung – „Berlin (West)“ war nur eine beigefarbene Fläche, eine Terra incognita. Es ist eine Welt, für die der 32-Jährige alles wagt und alles verliert, als er wie Ikarus aus dem geteilten Himmel über der Stadt stürzt und in einem Zehlendorfer Vorgarten zerschellt. Die Himmelsodyssee ist so spektakulär, dass der Untersuchungsbericht des „nach Versuch eines ungesetzlichen Grenzübertritts mittels eines Ballons tödlich verunglückten DDR-Bürgers“ dem SED-Generalsekretär Erich Honecker persönlich vorgelegt wird.
Die Flucht wäre beinahe schon beim überstürzten Start gescheitert. Eine Tasche, die unter dem Ballon hing, war an die Starkstromleitung gekommen, als die nur halb gefüllte Hülle sich wie ein unförmiger Schlauch aufbäumte, und hatte einen Kurzschluss ausgelöst. „Dabei berührte der Ballon eine 380-KV-Energiefreileitung, wodurch Freudenberg offenbar tödlich verletzt wurde“, schreiben die Vopos noch in der Nacht. Da aber lebte Freudenberg noch. Die Falschmeldung diktierte ihnen möglicherweise das schlechte Gewissen, den „Republikflüchtling“ nicht aufgehalten zu haben.
Ein Kellner kommt ihnen auf die Schliche
Es war aber auch eine Überraschung, die sich den Polizisten bot, als sie mitten in der Nacht nach Blankenburg gerufen wurden. Einen Fluchtversuch hatten sie hier nicht erwartet, mehr als zehn Kilometer von der „Staatsgrenze der DDR“ entfernt, jenem tödlichen Wall, der seit 28 Jahren die beiden Stadthälften zerschnitt. Ein Kellner, der von seiner Nachtschicht mit dem Bus nach Hause fuhr, hatte über den Hecken der Kleingartenkolonie die vom Wind bewegte Ballonhülle gesehen.
Unversehens erschien der Streifenwagen gegen zwei Uhr an der Gasregler-Station, wo Sabine und Winfried Freudenberg schon seit fast drei Stunden das Gas in den Ballon leiteten. Mit ihrem Trabant waren sie von zu Hause zweimal die neun Kilometer lange Strecke gefahren, hatten erst die Hülle transportiert, dann ihr Gepäck. Immer in Sorge, aufzufallen mit dem voll beladenen Auto. Aber dass es endlich losging, war „fast wie eine Befreiung nach all den Monaten der Angst davor, entdeckt zu werden“, sagte Sabine, die nach ihrer Verhaftung wochenlang verhört wird. Dass sie nun ausgerechnet an der Schäfersteege, wo auch heute noch ein sehr schadhafter und nur teilweise gepflasterter Weg hinführt, auffallen würden, durch diesen dummen Zufall in dunkler Nacht, damit hatten sie nicht gerechnet. Dazu schien der Plan doch dermaßen tollkühn, dass er schon wieder perfekt schien; dieser Gedanke, so einfach dem zu entschweben, was sie schon so lange nervte, den unerfüllbaren Träumen, der Gängelung, den Grenzen.
Über Monate bereitet das Ehepaar die Flucht vor
Das Paar wollte nicht mehr warten und hatte offenbar nicht gespürt, was vorging an anderer Stelle in der DDR. Die jungen Leute hatten keinen Zugang zu den Kirchen und den Umweltgruppen in ihrem eigenen Kiez in Prenzlauer Berg, wo sich schon längst etwas Neues anbahnte und immer mehr Menschen Mut fassten, ihre Opposition zu zeigen. In Potsdam hatte der junge Matthias Platzeck schon angefangen, ein landesweites Treffen der Umweltgruppen zu organisieren.
Die Freudenbergs hatten möglicherweise noch immer die Worte des DDR-Staatsratsvorsitzenden und SED-Chefs Erich Honecker in den Ohren, der im Januar 1989 davon sprach, dass die Mauer auch in hundert Jahren noch stehen werde. Auch das wird sie angestachelt haben, jetzt alles zu wagen. Damals konnte niemand ahnen, dass der sozialistische Bruderstaat Ungarn fünf Monate später die Grenze nach Österreich für DDR-Bürger öffnen würde. Und unvorstellbar schien Anfang 1989, dass das Volk in der DDR auf die Straße gehen würde.
Bis zu seiner Flucht war Freudenberg für die Staatssicherheit ein unbeschriebenes Blatt; auch einen Ausreiseantrag hatte das Paar nie gestellt. Aufgewachsen in Lüttgenrode im Harz, blieb der gelernte Elektroinstallateur und spätere Ingenieur immer unauffällig: 14 Jahre lang FDJ-Mitglied, im Gewerkschaftsbund, der Armeesportvereinigung (ASV) und der Gesellschaft für Sport und Technik (GST). Freudenberg war klein, schlank, aber er gab sich gerne schneidig. War es das, was der zurückhaltenden Chemiestudentin imponierte? Entschweben mit einem Ballon, diese Idee begeisterte Winfried. Die Heißluftballon-Flucht zweier Familien mit den Kindern im Jahre 1979 war sogar in Hollywood verfilmt worden.
Monatelang kleben sie die Ballon-Bahnen zusammen
Winfried war ein Planer, einer, der organisieren konnte – in der DDR, wo der Mangel allgegenwärtig war, ein unschätzbarer Vorteil. Er hatte besorgt, was sie für die Flucht benötigten. Die Plastikfolien, das Spezial-Klebeband, immer in kleinen Mengen gekauft oder getauscht. In ihrer Zwei-Raum-Wohnung in der Christburger Straße 41 in Prenzlauer Berg hatten sie über Monate die Bahnen zusammengeklebt – mehr als 13 Meter lang. Kaum vorstellbar, wie das Ehepaar um diese riesige Hülle herum ihr Leben organisierte – am Tage unauffällig im Betrieb, nachts unermüdlich arbeitend. Um die Hülle hatten sie ein Seilgeflecht geknüpft, um den fragilen Kunststoff zu stabilisieren.
Winfried war die treibende Kraft, und die Vorbereitungen hatten Sabines Zweifel vorübergehend betäubt. Als sie das erste Mal von Winfrieds Idee hörte, sei sie entsetzt gewesen. „Um Gottes willen, das mache ich nicht mit“, habe sie gesagt – und sich dann doch überreden lassen. „Mein Unterbewusstsein hat mir damals schon gesagt, ich würde niemals einsteigen“, gesteht sie später.
Heute ist das Haus von Winfried und Sabine ein modernisierter Altbau gegenüber einer Grundschule, wo im Hinterhof nur noch ein gelbes „Schwalbe“-Moped an die DDR erinnert. Offenbar ahnte niemand etwas von den Fluchtplänen. Winfrieds fünf Jahre älterer Bruder Reinhold erzählt am Telefon, dass er sich immer wieder gefragt habe: „Wie haben die das bloß gemacht?“ Zur Familie hatte das Paar jeden Kontakt abgebrochen, Besuch empfing es nicht mehr. „Klar war ich darüber verärgert“, sagt Bruder Reinhold. Erst später sei ihm bewusst geworden, dass dies aus Vorsicht geschah: Sie wollten die Familie nicht als Mitwisser gefährden, falls der Plan aufflog. Denn die Freudenbergs waren als Christen und zwangskollektivierte ehemalige Großbauern, die täglich am enteigneten Gutshaus vorbeigehen mussten, schon unter Verdacht. Reinhold war damals LPG-Vorsitzender in Lüttgenrode im Harz. Der Ort lag im scharf bewachten Grenzgebiet zur Bundesrepublik. „Mitwisser, das wäre damals fast tödlich für mich gewesen“, sagt der Bruder, der immer noch Bauer ist. Es hätte ihn vielleicht nicht sein Leben gekostet, aber doch Arbeitsplatzverlust bedeutet, Umsiedlung aus dem Grenzgebiet oder Haft.
Chancen, nicht Wohlstand, treiben Freudenberg an
„Wilfried hat das total ausgetüftelt und durchdacht“, sagt sein Bruder. Er sei ein geborener Wissenschaftler gewesen, habe schon als Kind Experimente gemacht. Dem Jüngeren sei es nie um Wohlstand gegangen, sondern darum, Chancen zu bekommen und sich beruflich zu verwirklichen. „Die Ballonflucht war eine Herausforderung“, ist der Bruder überzeugt. „Auch die Art und Weise war für ihn wichtig.“ Auf dem Friedhof von Lüttgenrode liegt das Grab des Bruders, dort sind auch Mutter und Vater beerdigt. Den 25. Todestag wird Reinhold mit seiner Frau im Urlaub verbringen. Mit Sabine haben sie keinen Kontakt mehr.
Um die Flucht zu verwirklichen, wechselte Winfried den Arbeitsplatz, bewarb sich beim VEB-Energiekombinat als Ingenieur für Systementwicklung. „Der F. ließ im Arbeitsbereich keinerlei vordergründig negative Einstellung zur Arbeit und der DDR erkennen“, werden die Staatssicherheits-Mitarbeiter nach seinem Tod zum Operativen Vorgang (OV) „Regler“ notieren. Regler – den Namen hatte sich die Stasi wegen der Gasentnahmestelle ausgedacht. In ihrem Bericht wird spürbar, dass es rumort in der DDR und die Unruhe auch Freudenbergs Kollegen im VEB Energiekombinat erfasst hat. „Vereinzelt wird die Meinung vertreten, dass es offiziellen Einschätzungen … an Realitätssinn mangelt“, notiert ein Spitzel. Im Betrieb gibt es demonstrative Austritte aus der SED und zum Tode Freudenberg heißt es: „Mitarbeiter erhoffen sich aus diesem erneuten Vorfall, dass sich Konsequenzen ergeben (Tendenz der Reiseerleichterung für jeden DDR-Bürger in Richtung BRD).“
Eisige Kälte, Angst – und am Horizont schon wieder DDR-Gebiet
Vermisst, so stellen die Staatssicherheits-Offiziere fest, wird an Freudenbergs Arbeitsplatz lediglich „ein detaillierter Plan über Gasreglerstationen“. Genau darum war es ihm beim Jobwechsel gegangen. Nun hatte er Zugang zu den Erdgaspumpstationen in Ost-Berlin, auch zu der besonders geeignet scheinenden Station in Blankenburg. Freudenberg wollte Erdgas als Auftriebsmedium nutzen. Denn ein Heißluftballon mit Brenner zum Erwärmen der Luft war viel schwieriger zu konstruieren und barg mehr Entdeckungsrisiko in der Luft.
Die Polizeisirene durchkreuzt den Plan, Panik ergreift das Paar. Winfried springt in das Tragegestell, doch seine Frau schreckt zurück. „Wir bleiben hier“, sagt sie: „Wir stehen das durch.“ Es bleibt keine Zeit für Diskussionen, Winfried kappt das Seil. Einen Korb gibt es nicht, als Sitzbank dient nur ein Besenstiel. Darunter hängen als Ballast mit Sand gefüllte Beutel und Taschen mit Unverzichtbarem: Beruhigungstabletten, sieben Physik- und Chemielehrbücher, zehn Musikkasetten, darunter Dire Straits und Pink Floyd.
Dem Sehnsuchtsort so nah
Am Boden weht ein moderater Wind aus östlicher Richtung; perfekt. Doch der Ballon schießt steil nach oben, viel höher als erwartet. Das Gas soll zwei Menschen in die Freiheit tragen, nun fehlt das Gewicht von Sabine. Freudenberg ist mit seiner Lederjacke nur unzureichend gekleidet für die eisige Temperatur dort oben. Der Wind trägt ihn erst nach Westen, als er dann auf über 3.000 Meter steigt, so rekonstruierten Meteorologen, treibt ihn der Wind nach Süden über West-Berliner Stadtgebiet. Wann geht ihm auf, dass er sich verrechnet hat?
Gegen sieben Uhr morgens schwebt Freudenberg über den Flughafen Tegel hinweg. Die primitive Konstruktion, mit der er Gas entweichen lassen will, funktioniert nicht. Über das ganze West-Berliner Stadtgebiet treibt er und kommt seinem Sehnsuchtsort doch nicht näher. In Reinickendorf wird später seine Geburtsurkunde und eine offenbar unbeabsichtigt herabgestürzte sandgefüllte Tasche gefunden. Ohne diesen Ballast hat er erst recht keine Chance zur Landung.
Durchgefroren, panisch – beim Flug über Charlottenburg und den Grunewald versucht Freudenberg vergeblich, seine Höhe zu verringern. Spaziergänger sehen den Ballon über dem Teufelsberg. In der Morgendämmerung kann Freudenberg hinterm Wannsee schon Potsdam erkennen. Unaufhaltsam, so wird ihm klar, treibt er wieder auf das Gebiet der DDR zu. „Was hat er leiden müssen“, sagt sein Bruder über die fünfstündige Qual in der eisigen Höhe.
Ein letzter Versuch, die Höhe des Ballons zu verringern
In seiner Verzweiflung kommt Winfried Freudenberg auf den Gedanken, an den Seilen zu dem über ihm hängenden Ballon zu klettern, um mit einem spitzen Gegenstand die Hülle aufzuschlitzen. Damit will er den Sinkflug erzwingen. Offenbar gelingt ihm das auch. Doch bei der Aktion, so glauben die Ermittler, rutscht der erschöpfte Freudenberg aus der provisorischen Halterung und stürzt über Zehlendorf in den Tod. Die schlaffe Hülle verfängt sich später in einem Baum an der Potsdamer Chaussee.
Der Operative Vorgang „Regler“ hat die Registrierungsnummer XX/605/89. Im perfekt organisierten Apparat der Staatssicherheit wird die penibel geführte Akte zum unfreiwilligen Dokument einer Institution, die die Zeichen der Auflösung des eigenen Staatsgebildes nicht mehr zu lesen versteht. Als sei die DDR-Welt noch in Ordnung, forscht die Stasi nach Mitwissern, wird die aus West-Berlin überstellte Leiche noch einmal obduziert und eine heimliche Beerdigung in Lüttgenrode organisiert, damit es nicht zu Protesten kommen kann. Sabine, die wegen versuchter Republikflucht in Haft sitzt, darf zur Beerdigung fahren. Selbst nach der Maueröffnung im November 1989 und Honeckers Abgang führen die Spitzel die Akte Freudenberg fort. Da hat die Staatssicherheit schon einen anderen Namen, heißt nun „Amt für Nationale Sicherheit“. Abgeschlossen wird der Vorgang erst am 20. November 1989. Die Mauer ist schon drei Wochen offen.