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Angst vor unerkannt infizierten Schülern treibt aktuell viele Lehrer um.
© Andreas Arnold/dpa

Sorge vor Schulschließungen: Lockdown könnte Kinder aus bildungsfernen Milieus noch weiter zurückwerfen

Bürgerliche Familien können eine Schulschließung verkraften. Doch für Kinder aus bildungsfernen Milieus ist sie bedrohlich.

Wie lange geht das noch gut?, lautet die zentrale Frage, wenn an diesem Montag die Schule wieder beginnt. Nachdem die Zahl der Neuinfektionen in den Vortagen durch die Decke gegangen war, rückte Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) am Wochenende Schulschließungen als Teil eines internen Stufenplans in den Bereich des Möglichen – während ihre Parteifreundin, Bildungssenatorin Sandra Scheeres, unter dem Eindruck der galoppierenden Pandemie lediglich bereit war, die Maskenpflicht innerhalb der Schulen etwas zu erweitern.

Wer wissen will, warum Scheeres neuerliche Kita- und Schulschließungen, möglichst vermeiden will, wird im Youtube-Kanal ihrer Verwaltung fündig: Da erklärt der Berliner Landesvorsitzende der Kinder- und Jugendärzte, Reinhard Bartezky, was der Lockdown mit seinen kleinen Patienten gemacht hat.

Bis zu zehn Kilo hätten sie zugenommen, „und Kinder, die vorher gut sprechen konnten, sprechen deutlich schlechter“, sagt der Arzt, der seine Praxis am Kottbusser Damm hat. Jeder Berliner Kinderarzt sehe „fast jeden Tag“ Kinder, die in dieser Zeit Schaden genommen hätten, berichtet Baretzky. Die Botschaft ist klar: Bloß keine nochmaligen Schließungen. Das ist die eine Seite.

Eltern und Lehrer fordern härtere Maßnahmen

Aber die andere Seite erhält zurzeit mehr Aufmerksamkeit. Während bei Youtube innerhalb eines Monats nur gut 400 Menschen das Kinderarzt-Video angeschaut haben, wurden bei Facebook oder Twitter in der gleichen Zeit mutmaßlich Tausende Botschaften von Erzieher- und Lehrkräften sowie einigen Eltern gesendet, die in die entgegengesetzte Richtung gehen.

Sie lauten: Sofortige Verkleinerung der Lerngruppen und eine Mischung aus Präsenzunterricht und angeleitetem Lernen zu Hause, um die Ansteckungsgefahr zu verringern. Diese weithin hör- und sichtbare Gruppe hat nicht nur die Gewerkschaften auf ihrer Seite, sondern auch das Robert Koch-Institut (RKI), das bereits ab 50 Fällen pro 100.000 Einwohnern dazu rät, Schulkassen aufzuteilen. Das aber würde für viele unweigerlich wieder mehr Zeit zu Hause bedeuten, ohne professionelle Förderung.

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Trotz der starken RKI-Stimme sind aber Scheeres und die Kinder- und Jugendärzte nicht isoliert: An ihrer Seite stehen viele Kultusminister, denen sich auch der Berliner Landeselternsprecher Norman Heise angeschlossen hat. Er nimmt in diesen Tagen immer wieder ausdrücklich Bezug auf das Kinderarzt-Video und die Auswirkungen der Schulschließungen, wobei Heise auch auf die Nachteile der geteilten Klassen verweist.

Weniger Unterricht bedeutet mehr außerschulische Betreuung

Wenn nur die Hälfte der Kinder gleichzeitig unterrichtet werde, hätten alle Kinder nicht nur weniger Unterricht, sondern müssten auch wieder durch die Eltern betreut werden. Zudem mangele es noch immer an der technischen Infrastruktur auf Seiten der Lehrkräfte und Schüler.

Zwar habe die Bildungsverwaltung 9500 Geräte für bedürftige Schüler beschaffen können. Der Bedarf sei aber „mindestens zehn Mal so hoch“. Im übrigen sei es „schwierig, zwischen den teilweise lauten Forderungen überwiegend aus dem Bereich des sogenannten Bildungsbürgertums und denen zu vermitteln, die sich fast gar nicht zu Wort melden, aber viel stärker von den Auswirkungen betroffen sind“.

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Zu denen, die „viel stärker von den Auswirkungen betroffen sind“, gehören in Berlin prozentual mehr Schüler als in anderen Bundesländern: Über ein Drittel der Familien leben von Transferleistungen, ein Großteil von ihnen gilt zusätzlich als bildungsfern.

Manche Kinder haben während des Lockdowns Deutsch verlernt

Schulleiter berichten – ähnlich wie Kinderarzt Bartezky – von Kindern, die während der Schließzeit die deutsche Sprache verlernt hätten, weil sie monatelang nur in ihren Communities gelebt hätten. Andere wiederum seien aggressiver geworden, seien womöglich Tag für Tag gewaltverherrlichenden Videos oder Computerspielen ausgesetzt gewesen. Die Bereitschaft, Regeln zu befolgen, sei vielfach verloren gegangen, ist zu hören.

Ganz anders die Lage in den bürgerlichen Milieus – und zwar erst recht dann, wenn es sich um gut ausgestattete Schulen handelt. So berichtet Landesschülersprecher Robert Gamp vom Tegeler Humboldt-Gymnasium, dass es dort dank der Kooperation mit einem Pharmabetrieb einmal wöchentlich das Angebot kostenloser Coronatests gebe.

Lockdown zur Probe - im Humboldt-Gymnasium

Zudem seien die technischen Voraussetzungen gut. So habe der Schulleiter zwei Wochen vor den Herbstferien für eine komplette Woche den Präsenzunterricht streichen und das Lernen nach Hause verlegen können, um das Equipment und die Fertigkeiten der Schüler und Lehrer auf die Probe zu stellen. Auf diese Weise seien Schwachstellen zum Vorschein gekommen, betont Gamp, so dass die Schule viel besser für einen eventuellen zweiten Lockdown gerüstet sei.

"Es sollte überlegt werden, schnellstmöglich die Schulen auf das Alternativszenario einzuschwören", fordert der Lichtenberger Lehrer Robert Rauh. Bevor ständig Lerngruppen in Quarantäne geschickt würden, wenn sich ein Schüler infiziert hat, sollten Klassen und Kurse unverzüglich wieder geteilt werden, lautet sein Appell. Allerdings sieht der Stufenplan der Bildungsverwaltung erst in der letzten von vier Stufen ("rot") geteilte Klassen vor - ist also noch zwei Stufen von "gelb" entfernt, das ab heute gilt.

"32 Zehntklässler im Raum ohne Maske und Abstand"

"Auf den ersten Blick ist diese Forderung nach einer roten Ampel paradox, aber sie ermöglicht uns einen längeren Präsenzbetrieb. Es ist schlichtweg nicht mehr zu vermitteln, warum wir im Alltag Abstand halten und Maske tragen sollen, im Klassenzimmer bis zur 10. Jahrgangsstufe entsprechend der Stufe 'gelb' jedoch 32 Schüler zum Teil dicht gedrängt ohne Maske und Abstand ausharren, bis nach 20 Minuten gelüftet wird", gibt der bekannte "Lehrer des Jahres" zu bedenken.

Außerdem solle darüber diskutiert werden, in diesem Schulhalbjahr bestimmte Leistungsformate wie Klausuren oder Klassenarbeiten zu ersetzen oder ganz auszusetzen, um den Druck herauszunehmen, unbedingt noch vor dem drohenden Lockdown Zensuren zu scheffeln: "Wichtig ist doch, dass wir die Zeit nutzen, Stoff zu vermitteln und unsere Schüler motivieren, sich von Corona nicht verunsichern zu lassen". lautet Rauhs Appell.

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