Wohnungsnot: Leerstand in Berlin? Alles Spekulation
Mit Besetzungen protestierten Aktivisten gegen Leerstand und fehlenden Wohnraum in Berlin. Wie viele Häuser tatsächlich unbewohnt sind, ist aber umstritten.
Die Zahl von 100.000 leerstehenden Wohnungen in Berlin geistert derzeit wieder durch die sozialen Netzwerke. Mit dieser Zahl wurde jahrelang vom Senat begründet, warum Neubau unnötig sei. Das war zu Zeiten der Bausenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD).
2011 kam dann die Wende: In einer Analyse der Investitionsbank Berlin (IBB) wurden sogar 130.000 leerstehende Wohnungen ermittelt, rund sieben Prozent des Bestandes, allerdings seien die meisten der betroffenen Häuser „in einem nicht vermietbaren Zustand“. Die „marktfähige“ Leerstand betrage nur 1,7 Prozent, erklärte damals der Berliner Mieterverein. Offenbar gab es noch eine Menge unsanierter Altbauten. Und heute?
Der Verband der Wohnungsunternehmen BBU, zu dem auch die städtischen Wohnungsbaugesellschaften gehören, beziffert den Leerstand seiner Mitgliedsunternehmen für das Jahr 2016 auf 1,6 Prozent. Das sei die „Fluktuationsreserve“, weniger sei kaum möglich, sagt BBU-Sprecher David Eberhart. Bei jedem Mieterwechsel brauche man etwas Zeit für die Sanierung.
Chef der städtischen Wohnungsgesellschaft stellt sich gegen Senatorin
Spekulativen Leerstand schließt auch Ingo Malter von der Wohnungsbaugesellschaft Stadt und Land aus, im Wohnungsbestand betrage der Leerstand 1,8 Prozent, das entspreche einem Monat Leerstand einer Wohnung zur Sanierung beim Mieterwechsel.
Das am Wochenende besetzte Stadt- und Land-Gebäude an der Bornsdorfer Straße in Neukölln ist nach Einschätzung von Malter ein Sonderfall. 2001 sei das ehemalige Wohnheim beim Absturz eines Sportflugzeugs beschädigt worden, möglicherweise rühren daher die Statikprobleme, die eine Sanierung verzögern. Das Gebäude soll seit fünf Jahren leerstehen. Übernommen hat Stadt und Land das Haus laut Malter vor drei Jahren.
Wegen der Besetzung wird nach Angaben der rbb-Abendschau gegen 56 Menschen ermittelt. Die städtische Wohnungsbaugesellschaft Stadt und Land hielt auch Dienstag an ihrer Strafanzeige fest – und stellt sich damit gegen Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (Linke), die das Unternehmen am Vortag darum gebeten hatte, „die Strafanzeige gegen diejenigen zurückzuziehen, die das Gebäude ohne Widerstand verlassen haben“, wie Lompscher auf Facebook schrieb.
Stadt-und-Land-Chef Ingo Malter sagte am Dienstag in der Abendschau, er habe einen Polizeieinsatz vermeiden wollen, dies sei aber nicht möglich gewesen. Mit dem Strafantrag sei er nur seiner rechtlichen Verpflichtung nachgekommen. Unterstützt wurde sein Vorgehen in der Abendschau vom SPD-Innenpolitiker Frank Zimmermann.
Leerstehende „Schrotthäuser“ sind nur Einzelfälle
Wegen umfangreicher Bauuntersuchungen habe sich die Sanierung verzögert, außerdem müsse für die geplante Kita ein Nachbargrundstück angekauft werden. Inzwischen habe man die nötigen Unterlagen für einen Bauantrag zusammen, die Ausschreibung der Bauleistungen könne vorbereitet werden.
Das nächste Verzögerungsrisiko sei die Lage im Bauhandwerk. Wegen des Baubooms seien viele Firmen ausgebucht und hätten kaum noch Interesse, sich an komplexen Ausschreibungen zu beteiligen.
Im Wohnmarktreport der Unternehmen CBRE und BerlinHyp wird die Leerstandsquote derzeit bei 1,1 Prozent bemessen, das wären 18 000 Wohnungen. Die Daten werden vom Unternehmen Empirica erhoben, als Hochrechnung einer Stichprobe. „Das ist der marktaktive Leerstand von Geschosswohnungen, also keine Bauruinen“, sagt Empirica-Experte Reiner Braun.
Er geht davon aus, dass es kaum noch Bauruinen in Berlin gibt. „Am spekulativen Leerstand liegt die aktuelle Wohnungsnot derzeit nicht“, sagt Braun. Mietervereins-Chef Reiner Wild sieht spekulativen Leerstand eher „im Luxusbereich“, also bei teuren Eigentumswohnungen, die jahrelang auf Käufer warten.
Leerstehende „Schrotthäuser“, deren Eigentümer sich nicht mehr um Sanierungen kümmern, sind demnach nur Einzelfälle. 2015 zählte der Senat 49 dieser Schrotthäuser. Im neuen Zweckentfremdungsverbotsgesetz gibt es einen Passus, der dem Senat ermöglicht, die Eigentümer solcher Häuser temporär zu enteignen, um über einen Treuhänder Sanierung und Vermietung voranzubringen.
„Passiert ist bis heute nichts“
Nach Angaben des CDU-Abgeordneten Tim-Christopher Zeelen stehen auch einige Häuser in Landesbesitz leer, etwa 19 Wohnungen in der Avenue Charles de Gaulle 15 in der Cité Foch in Reinickendorf. Berlin habe das Wohnhaus 2011 von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (Bima) erworben. „Damals wie heute steht das Haus leer. Laut Senat befinden sich die Wohnungen in einem nicht vermietbaren Zustand.“
Eine Prüfung zur Nutzung einer Flüchtlingsunterkunft im vergangenen Jahr habe ergeben, dass Kosten in Höhe von 1,8 Millionen Euro aufzuwenden wären, um das Wohnhaus bewohnbar zu machen. „Passiert ist bis heute nichts.“
Dass die Prozesse im Senat zur Nutzung von Grundstücken und Liegenschaften zu langsam und diffus verlaufen, hatte auch Bima-Chef Jürgen Gehb erklärt. Ähnlich äußerten sich die Chefs der städtischen Wohnungsbaugesellschaften in einem Brandbrief an die zuständige Senatorin Katrin Lompscher.
Die Übernahme des Statistik-Hauses am Alexanderplatz in Mitte kommt nur schleppend voran, große Wohnungsbau-Projekte wie das Dragonerareal und das Sport- und Erholungszentrum SEZ sind durch juristische Auseinandersetzungen blockiert.
Wie schwierig die Datenermittlung auf dem Wohnungsmarkt ist, zeigt der Mikrozensus 2014. Damals wurde auf Grundlage einer einprozentigen Stichprobe aller Haushalte eine Leerstandsquote von 6,7 Prozent ermittelt, nach Ansicht eines Insiders „völliger Humbug“. Wurde ein Wohnungsinhaber nicht angetroffen, sei die Wohnung als unbewohnt eingestuft worden. Belastbare Daten, etwa durch Stromzählerkündigungen, werden nach Angaben von Vattenfall nicht mehr berlinweit erhoben – also liegen diese auch dem Senat nicht mehr vor.
Einen Rückblick auf die Geschichte der Hausbesetzungen in Berlin finden Sie hier.